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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 8. Januar 2020; 19:25
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Österreich neu regieren / Zeitgeschichte:

> Aus dem Archiv: "Wären die Grünen dann noch die Grünen?"

In der akin-Redaktion gibt es ein Dossier, also einen Packen mit
Zeitungsartikel, da pickt ein Zettel drauf: "Schwarz-Grün 2003". Es geht
dabei um die damaligen Regierungsverhandlungen. Alter und designierter neuer
Bundeskanzler war Wolfgang Schüssel, dessen Koalition mit der FPÖ gerade in
die Brüche gegangen war. Der grüne Parteichef war damals derjenige, der vor
ein paar Wochen als Bundespräsident gezwungenermaßen (wenn auch nicht gerade
widerwillig) den heutigen ÖVP-Chef mit der Regierungsbildung beauftragt hat.
Aber außer ein paar anderen Namen war vieles ähnlich der heutigen
Situation -- inclusive der Frage, was das Bundesheer an neuen Fliegern
beschaffen soll. Damals allerdings hat das Verhandlungsteam der Grünen
aufgegeben -- dafür gab es viele Gründe, nicht nur die Militärjets. Heute
hingegen ist der Pakt in trockenen Tüchern und die Regierung steht.

Das erwähnte Dossier von 2003 beinhaltet hauptsächlich Artikel aus dem
"Standard", der die Verhandlungen zwischen ÖVP und Grünen sehr genau (und
zumeist wohlwollend) beobachtete. Daß dann daraus nichts geworden ist,
thematisierte aber ein Text aus dem "planet", der mittlerweile eingestellten
Zeitschrift der Grünen Bildungswerkstatt. REINHARD PICKL-HERK kommentierte
damals sehr hellsichtig den Diskussionsprozeß und dessen Ergebnis.

Die Redaktion der akin möchte daher diesen Text aus dem Frühjahr 2003 hier
nochmals zur Verfügung stellen, denn die Parallelen zur heutigen Situation
sind wirklich frappierend:
*

> Den Verlockungen der Macht widerstanden oder Wegbereiter für Schwarz-Blau?

Eine Nachbetrachtung und Vorschau

Die Grünen haben den Verlockungen der Macht widerstanden und sind ihren
Grundsätzen treu geblieben. So könnte man das Ende der schwarz-grünen
Verhandlungen interpretieren. Das klingt nach moralischem Triumph. Doch
dieser Triumph schmeckt bitter. Dem Ende der schwarz-grünen Verhandlungen
ist die Wiederauflage von Schwarz-Blau gefolgt.

Weil die Grünen erstmals zusammen mit einer anderen Partei eine Mehrheit im
Parlament haben, hätten sie Schwarz-Blau verhindern können. Es hat den
Anschein, als hätte Schüssel Schwarz-Grün nie gewollt. Mag sein. Die Grünen
täten dennoch gut daran, darüber nachzudenken, welche Kompromisse sie bereit
sind, einzugehen, um der Politik eine Wende in ihre Richtung zu geben. Denn
wer weiß schon, ob diese Frage nicht eher früher als später wieder auf sie
zukommt.

Parteien, also auch die Grünen, werden von ihren WählerInnen dazu
ermächtigt, in ihrem Namen zu handeln. Ihr Ziel muss es sein, die
materiellen und immateriellen, weltanschaulichen Interessen ihrer
Wählerinnen bestmöglich zu vertreten. Kaum jemand zweifelt daran, dass diese
Interessen in der Regierung besser umgesetzt werden können als in der
Opposition.

Ist es daher legitim, um der eigenen Unschuld willen auf die Macht zu
verzichten und damit auf die Umsetzungsmöglichkeiten? Oder konkreter: Ist es
moralischer, auf die Macht zu verzichten, dafür aber weiterhin zerrissene
ausländische Familien in Kauf zu nehmen, weil nun die
Familienzusammenführung quotiert bleibt?

Um diese Fragen sinnvoll beantworten zu können, sei kurz an die
Grundprinzipien der Demokratie erinnert. Hinter der Idee der Demokratie
steht der Gedanke, dass keine Partei im Besitz der absoluten Wahrheit ist
und keine Partei alle divergierenden gesellschaftlichen Interessen gleich
gut vertreten kann. Wenn eine einzige Partei ständig ihre Interessen
durchsetzt, spricht man meist von einer Diktatur.

Jede Partei muss für die Interessen ihrer Wählerinnen kämpfen, muss aber
zugleich ein Interesse daran haben, dass auch die anderen Parteien ihre
Interessen durchsetzen können. Das ist die Aporie der Demokratie.

Die Grünen haben zuletzt 9,5 Prozent der Stimmen bekommen. Daher mag es zwar
ihr Wunschtraum sein, dass ihr Programm auf Punkt und Beistrich umgesetzt
werde. Das entspräche aber weder dem durch Wahlen ermittelten
gesamtgesellschaftlichen Wollen noch dem Wesen der Demokratie.

Der Bundessprecher der Grünen hat vor diesem Hintergrund gesagt, es wäre ihm
lieber, 30 Prozent Grüner Vorstellungen in der Regierung umsetzen zu können
als 5 Prozent in der Opposition. In der Nacht vom 15. auf den 16. Februar
2003 entschied sich das Verhandlungsteam angesichts "nicht überbrückbarer
Differenzen" (Van der Bellen) mit der ÖVP für die Opposition. Also für 5
Prozent?

Diese Entscheidung beraubt die Grünen um Gestaltungsmöglichkeiten und führt
zur Fortsetzung einer Politik, die sie ablehnen. Hätte nicht jeder
Prozentpunkt mehr, den sie in der Regierung hätten umsetzen können, dem
Auftrag ihrer Wählerinnen eher entsprochen? Oder noch härter gefragt: Haben
die Grünen durch ihren Ausstieg den Weg (zumindest mit-) bereitet für
Schwarz-Blau?

Die Grünen haben nach den Verhandlungen auch von Erfolgen berichtet, etwa in
der Umwelt, Integrations- und Medienpolitik. In anderen Bereichen hätte es
keine Annäherung gegeben. Hätten diese Erfolge nicht genügt, wenn in den
anderen Bereichen wenigstens der Trend Richtung Blau gestoppt worden wäre?

Spielen wir die möglichen Folgen an einem Beispiel durch: Die Grünen hätten,
um ein Regierungsabkommen erzielen zu können, Pensionskürzungen auch bei
sozial Schwachen zustimmen müssen, was ihren Vorstellungen widerspricht.
Doch Schwarz-Blau kürzt sie ohnehin, vermutlich sogar in einer etwas
schlimmeren Variante als dies bei Schwarz-Grün der Fall gewesen wäre. Dafür
hätten die Grünen erreicht, dass die Quote bei der Familienzusammenführung
abgeschafft wird und viele AusländerInnen endlich mit ihrer Familie
zusammenleben können.

Was hätte in den nächsten vier Jahren passieren können? Innerhalb der ÖVP
wären die an Liberalität, Solidarität und der ökosozialen Marktwirtschaft
interessierten Kräfte gestärkt worden. Die ÖVP hätte ihren Kurs in Richtung
Grüne korrigiert, statt weiter ins blaue Lager zu steuern. Die Grünen wären
im Gegenzug zumindest in ihrer Realpolitik notwendigerweise (?)
konservativer geworden. Insgesamt aber hätte es eine Richtungsänderung der
Regierungspolitik in Richtung der Grünen gegeben. Zweifellos keine sofortige
180-Grad-Wende. Aber Richtungsänderungen in einer Demokratie erfolgen nicht
so rasch wie bei einem Schnellboot, sondern eher wie bei einem großen
Ozeantanker.

Einige Träume und Ziele könnten an der (Regierungs-)Realität scheitern. Wenn
etwa Konsens darüber bestünde, dass kein Weg an der Notwendigkeit einer
Budgetkonsolidierung vorbeiführt, und wenn weiters Konsens wäre, dass eine
Konsolidierung nur dadurch möglich ist, indem auch sozial Schwache einen
Beitrag leisten, weil sonst langfristig noch unsozialere Einschnitte zu
befürchten wären - wäre dann eine Nicht-Zustimmung der Grünen nicht schlicht
Realitätsverweigerung?

"Niemand reagiert mit Wut auf eine Krankheit, der die Medizin machtlos
gegenübersteht, oder auf ein Erdbeben oder auf an sich unerträgliche
gesellschaftliche Zustände, solange sie unabänderlich scheinen", schreibt
dazu Hannah Arendt in ihrer Studie "Macht und Gewalt". Auch die Wählerinnen
der Grünen würden das Unabänderliche zur Kenntnis nehmen, kann die
Philosophin interpretiert werden. (1)

Hannah Arendts nächster Satz aber lautet; "Nur wo der begründete Verdacht
besteht, dass Bedingungen geändert werden können und dennoch nichts
geschieht, stellt Wut sich ein. Erst wenn unser Gerechtigkeitssinn verletzt
wird, reagieren wir mit Empörung". (2)

Genau hier haken die Grünen ein. Sie hätten eine Losung vorgeschlagen, die
sozial Schwache nicht getroffen hätte. Die ÖVP sei aber von ihrem Vorschlag
nicht abgewichen, sondern habe ihre Ansichten absolut gesetzt. Deshalb sei
es unzumutbar gewesen, eine Einigung für eine Koalition herzustellen.

Für die Grünen bestand, um Hannah Arendts Kriterium anzuwenden, der
"begründete Verdacht, dass Bedingungen geändert werden können und dennoch
nichts geschieht". Sie hätten daher mit einer Zustimmung nicht nur ihre
Grundsätze verraten, sondern auch ihre Wählerinnen. Sie hätten eine Stimme
zum Verstummen gebracht, deren "Gerechtigkeitssinn verletzt wird". In der
Opposition dagegen könnten sie durch ihr Stimmverhalten aufzeigen, dass sie
an eine andere Lösung glauben.

Es habe zudem nicht nur dieser eine Dissens bestanden. Es habe etwa neben
der Uneinigkeit in der Sozialpolitik Dissens auch in der Budget- und
Bildungspolitik gegeben, und die ÖVP wäre weiters nicht bereit gewesen, auf
den Ankauf von Abfangjägern zu verzichten. In all diesen Punkten bestand
also für die Grünen der "begründete Verdacht", dass es auch anders ginge.

Ist jeder "begründete Verdacht" Grund genug, um eine
Regierungs-Partnerschaft nicht einzugehen oder eine schon bestehende platzen
zu lassen? Schließlich gibt es in jeder Koalition Fälle, wo der mächtigere
Partner seine Vorstellungen durchsetzt. Die Grünen argumentieren, es habe
sich um wichtige, um zentrale Fragen gehandelt, wo sie bessere Lösungen
gehabt hätten. Daher sei ihr Ausstieg aus den Verhandlungen gerechtfertigt.

Die Grünen haben also deutlich gemacht, wo ihre Schmerzgrenze ist.

Und es ist eine legitime Grenzziehung. Legitim auch deshalb, weil es einen
Unterschied macht, ob eine Partei eine Sache, etwa Sozialabbau, nicht
verhindern kann, weil ihr die Macht dazu fehlt, oder ob sie dieser zustimmt.

Es bleibt dennoch eine Frage offen, eine unangenehme: Hätten die Grünen die
ÖVP-Forderungen akzeptiert und wären sie trotz Ankaufs von Abfangjägern,
unsozialen Schnitten bei Frühpensionen etc. in die Regierung gegangen --
wäre insgesamt das Ergebnis nicht dennoch aus Sicht der Grünen besser
gewesen als Schwarz-Blau?

Mag sein. Aber wären die Grünen dann noch die Grünen?


1) Hannah Arendt: Macht und Gewalt. Piper Verlag (Serie Piper). 1970, S 64
2) Ebd. S.64



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