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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 5. Dezember 2019; 01:19
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Medien/Zeitgeschichte/EU/Glosse:

> Lernverweigerung

Nachbetrachtung zum dreißigjährigen Jubiläum des Falls der Berliner Mauer


Zum fünfundzwanzigjährigen Jubiläum des Mauerfalls im Jahr 2014 schrieb ich
einen Artikel, in dem ich auf eine Leerstelle praktisch aller damaligen
Kommentare und Reden des Gedenkens hinwies.* Die rückblickende Empörung der
Redenschreiber und Kommentatoren vergaß damals nämlich auf eine gebührende
Betonung der Tatsache, dass das an der DDR beklagte Unrecht in veränderter
Form weiterlebt. So kommen neuere Forschungen zum DDR-Grenzregime auf
Opferzahlen, die (je nach Art der Zählung) im Bereich von 1.500 bis 2.000
Toten liegen. An den Grenzen der Festung Europa starben demgegenüber allein
zwischen 1988 und 2014 schon mehr als 17.000 Menschen, davon rund 13.000 im
Mittelmeer oder im Atlantischen Ozean.

Auch beim heurigen Gedenken zum dreißigjährigen Jubiläum zog keiner der
Reden- und Kommentarschreiber einen diesbezüglichen Vergleich. Gewiss, es
gibt heute keinen Schießbefehl, weshalb niemand mehr an Stacheldrähten
verblutet. Wir lassen aber die Menschen ertrinken, sehen zu dabei und
waschen unsere Hände in Unschuld. Ist das moralisch höher stehend als das
damalige Verhalten des "Unrechtsstaats" DDR? Die Parallelen zwischen dessen
Grenzregime und jenem der EU werden noch deutlicher, wenn man sich vor Augen
führt, dass beide Male ein sehr ähnliches Motiv hinter der Unmenschlichkeit
steckt:

Zwischen der DDR und dem Westen bestand ein Wohlstandsgefälle. Dieses übte
eine Sogwirkung auf die im ökonomisch schwächeren Bereich lebenden Menschen
aus, welche eine Bedrohung für den sozialen Zusammenhalt und die ökonomische
Entwicklung der DDR darstellte.

Nun besteht das Wohlstandsgefälle zwischen der EU und ihrem südlichen
Umfeld. Und es übt wieder eine Sogwirkung auf die im ökonomisch schwächeren
Bereich lebenden Menschen aus, was in diesem Fall den sozialen Zusammenhalt
und die ökonomische Entwicklung der EU bedroht.

2014 fand ich daher, wir sollten unser Gefühl der moralischen Überlegenheit
zügeln, wenn wir auf die DDR zurückzublicken. Nun stelle ich fest, dass wir
diesbezüglich in den letzten fünf Jahren nichts dazugelernt haben.


Sehnsucht nach der Mauer

Inzwischen ist auch das Gefälle der Lebenschancen zwischen Westeuropa und
den Nachfolgestaaten des 'realen' Sozialismus so stark, dass letztere genau
das erleben, wovor sich die DDR mit ihrer unseligen Mauer schützen wollte:
Sie bluten ökonomisch aus durch massenweise Abwanderung ihrer jungen,
qualifizierten Arbeitskräfte.

Und was lesen wir dazu in der ZEIT vom 7.11.2019? Man reibt sich die Augen,
weil man nicht glauben kann, wie bösartig die Ironie der großen
Lehrmeisterin 'Geschichte' ist: "Nach Angaben des Thinktanks European
Council on Foreign Relations würden 50 Prozent der Polen und 49 Prozent der
Ungarn eine Gesetzgebung befürworten, die es 'für die eigenen Bürger illegal
macht, für längere Zeit ihr Land zu verlassen'. Ähnliche Einstellungen
finden sich in mehreren anderen Ländern Osteuropas."

Mit einem Wort: Die wünschen sich eine Art Mauer-light.
*Karl Czasny*



* Der Artikel mit dem Titel "Verlust der Utopie" erschien in der Nummer
12/2014 der sozialdemokratischen Zeitschrift "Die Zukunft" und kann auf
meiner Webseite nachgelesen werden. Hier der Link dazu:
http://www.erkenntnistheorie.at/wp-content/uploads/2015/07/verlust_der_utopie



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