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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 5. Dezember 2019; 00:44
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Chile:

> Ein zweites Trauma

Sergio Patricio ist Künstler, Student und Aktivist der Soli-Gruppe "Chile
desperto" in Wien. Im Interview mit *Alexander Stoff* berichtet er über
Hintergründe der aktuellen Protestbewegung in Chile.
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Die gegenwärtige Protestbewegung in Chile hat ihren Ausgang genommen, als
vor allem Schüler*innen gegen die Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen
Nahverkehr protestierten. Doch schnell hat die Bewegung auf den Rest der
Gesellschaft übergegriffen und die Forderungen haben sich dabei
vervielfältigt. Inzwischen richtet sich die Protestbewegung gegen das
neoliberal-kapitalistische Regime als Ganzes und eine zentrale Forderung ist
der Rücktritt der Regierung des rechtsextremen Präsidenten Sebastian Piñera.
Die Kritik wendet sich auch gegen die Vorgängerregierungen, die in den fast
30 Jahren seit dem Ende der Diktatur von Augusto Pinochet wenig unternommen
haben, um die sozioökonomischen und politischen Kontinuitäten der Diktatur
wie etwa die massive soziale Ungleichheit zu beenden, die auch in Zeiten der
bürgerlichen Demokratie fortwirkten. " Obwohl die Diktatur vor 30 Jahren
beendet wurde, stellen wir heute im wesentlichen noch die gleichen Fragen,"
sagt Sergio Patricio dazu. Bei Umfragen sind die Zustimmungswerte der
Regierung inzwischen auf weniger als 10% gesunken.

"Es demonstrieren noch immer viele Menschen. Die Leute sind wütend und es
hat sich über die vergangenen 30 Jahre eine Menge Wut und Frustration
angestaut. Deshalb haben sie viel Kraft, um die Demonstrationen
fortzusetzen", so Sergio Patricio.

Was als Protest gegen Fahrpreiserhöhungen begonnen hatte, entwickelte sich
bald zu einem Ausbruch, bei dem es auch zu Randale und Sachbeschädigung kam.
Doch die chilenische Regierung und Staatskräfte reagierten darauf mit
unverhältnismäßiger Gewalt und es kam zu unzähligen
Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei und während des vorübergehend
verhängten Ausnahmezustandes auch durch das Militär. Beinahe 30 Menschen
wurden durch Staatskräfte getötet, tausende eingesperrt und viele
misshandelt, darunter auch Kinder. Neben sexualisierter Gewalt gegen Frauen
und LGBTIQ-Personen durch Staatskräfte wurden auch Menschen wie in
Diktaturzeiten verschleppt ohne dass ihr Aufenthaltsort bekannt ist. Und um
die 200 Menschen haben ein oder beide Augen verloren, nachdem sie durch
Gummigeschoße der Polizei verletzt wurden.

Dass in Chile die Menschenrechte verletzt werden ist nichts Neues, so Sergio
Patricio. "Es ist so wie während der Diktatur. Es wiederholt sich, was schon
in der Vergangenheit geschehen ist. Nur während den Opfern früher ihre
Erfahrungen nicht geglaubt wurden, ist der Unterschied heute, dass die
Menschen die Gewalt mit Kameras dokumentieren können. So erfahren viele über
social media sofort, dass die chilenische Polizei und Armee die
Menschenrechte missachtet." Die Zahlen von Chile desperto beruhen auf den
Quellen von Amnesty International und der UN. Die offiziellen
Verlautbarungen der Regierung, dass alles korrekt abliefe, wurden also bald
durch die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen Lügen gestraft.

Chilen*innen im Ausland, die sich über das Internet informierten und sich
wegen der Gewalteskalation Sorgen machten, haben sich in mittlerweile 30
Ländern zusammengefunden und begonnen, sich zu vernetzen, um auf die
Situation in Chile aufmerksam zu machen. Eine der Gruppen von Chile desperto
ist auch in Wien tätig. Im Vergleich zu anderen Städten wie Barcelona und
London ist die Gruppe in Wien allerdings von überschaubarer Größe. Dennoch
konnten auch hier Aktionen wie eine Demonstration und Trauerkundgebung
organisiert werden, an denen mehrere hundert Menschen teilgenommen haben.
Patricio sagt, dass die Menschen, die sich bei einer der lokalen Gruppen von
Chile desperto in Städten wie Barcelona, London, Sydney, Berlin und New York
zusammengefunden haben, über die Lage in Chile erschrocken sind: "Wie ist es
möglich, dass sich die Regierung nicht für die begangenen
Menschenrechtsverletzungen entschuldigt? Das ist keine Gerechtigkeit.
Menschen werden auf den Strassen getötet und eingesperrt. Auf einem Video
ist zu sehen, wie die chilenische Polizei in eine Schule eindringt und auf
Schülerinnen schießt."

In den "cabildos" genannten Versammlungen trifft sich die Bevölkerung und es
wird über verschiedene gesellschaftliche Themen wie soziale Sicherheit
debattiert. Schließlich werden Vorschläge zu Papier gebracht, von denen sich
die Menschen eine Lösung sozialer Probleme erwarten, und den
parlamentarischen Gremien wie dem Kongress vorgelegt.

Auch die während der Pinochet-Diktatur beschlossene und immer noch gültige
Verfassung ist Gegenstand von Diskussionen. Stimmen aus der Protestbewegung
rufen laut nach einer neuen Verfassung, die die geänderten Realitäten der
chilenischen Gesellschaft berücksichtigt. Patricio: "Ein anderes Thema, das
im Rahmen der cabildos aufgegriffen wird, sind die Rechte der indigenen
Mapuche und ihre Territorien. Dazu kommt der Umgang mit den natürlichen
Ressourcen, besonders Wasser. Die Wasserversorgung wurde privatisiert und
vor allem spanische Firmen und transnationale Konzerne haben darauf Zugriff.
Diese arbeiten rein profit-orientiert und bringen den Großteil des Wassers
außer Landes. Auch der Entwurf einer neuen Verfassung wird in den cabildos
thematisiert. Ein weiterer Punkt ist die soziale Sicherheit. Denn in Chile
sind die meisten Bereiche privatisiert, was auch als neoliberales Erbe auf
die Diktatur zurückgeht. Soziale Versorgung erhält nur, wer es sich leisten
kann und lebenswichtige Bereiche wie das Bildungs- und Gesundheitswesen sind
extrem teuer. So müssen Familien etwa für den Unterricht an einer der
privaten Schulen monatlich ca. 400 Dollar aufbringen. "

Chilen*innen innerhalb und außerhalb des Landes wissen Bescheid über die
Menschenrechtsverletzungen. Medien berichten darüber und internationale
Organisationen wie die UN und Amnesty International haben es dokumentiert.
Sie wissen, dass es passiert und wir warten auf Gerechtigkeit." Juristische
Ermittlungen gegen einzelne Polizisten und sogar gegen Präsident Piñera sind
im Laufen. Vertreter*innen von Chile desperto erwarten sich internationale
und europäische Unterstützung und hoffen darauf, dass politischer Druck auf
die chilenische Regierung ausgeübt wird, damit die Verantwortlichen für
Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen werden, so Patricio.
Aus diesem Grund versucht Chile desperto in mehr als 30 Ländern die
Öffentlichkeit für die Situation in Chile zu sensibilisieren. Chile ist
heute eine bürgerliche Demokratie, umso schwerwiegender die Tatsache, dass
systematisch Menschenrechte verletzt werden. Patricio stellt fest, dass die
gegenwärtigen Proteste undenkbar wären ohne die vorangegangenen Proteste der
Studierenden- und der feministischen Bewegung in Chile. Diese Bewegungen
haben soziale Ideen gestärkt und ein Bewusstsein geschaffen.


Sergio Patricio ist selbst noch während der Diktatur aufgewachsen und hat
den politischen Übergang zur bürgerlichen Demokratie miterlebt. Er erinnert
sich an ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit in seiner Generation. Die jüngeren
Bewegungen haben nun das Selbstbewusstsein der Menschen gestärkt und für
Themen wie soziale Gleichheit und Korruption sensibilisiert. Im Moment hat
Patricio Hoffnung, dass die sozialen Bewegungen in Chile Veränderungen
erreichen können. Dennoch ist die Situation schwierig, da Nachbarländer in
der Krise sind. So gab es in Bolivien einen Putsch gegen Evo Morales. "Wir
wünschen uns, dass sich alles in die richtige Richtung entwickelt. Aber wir
haben auch Angst, dass es sich verschärfen kann. Ich hoffe, wir enden nicht
als Geflüchtete," sagt Patricio. Für ihn ist es eine erschreckende
Erfahrung, nach der Diktatur ein zweites Mal in seinem Leben schwere
Menschenrechtsverletzungen mitansehen zu müssen: "Für uns ist es wirklich
wie ein zweites Trauma." Von der österreichischen Zivilgesellschaft erhofft
sich Sergio Patricio Unterstützung und eine Positionierung für die
Verteidigung von Menschenrechten in Chile.
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Kontakt: "Chile desperto" ("Chile ist aufgewacht"), Soligruppe in Wien,
https://www.facebook.com/chiledespertoviena

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> Anmerkungen und Hinweise

Eine deutschsprachige Videodokumentation über die Proteste, die Repression
und die Hintergründe (Stand Anfang November), produziert von ChilenInnen in
Leipzig, findet sich unter https://youtu.be/5im92x9yK3w

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Letzten Berichten zu Folge habe sich die Situation in Chile mittlerweile
zwar beruhigt, doch Proteste gibt es immer noch. Letzte Woche soll mehr als
eine Million Menschen bei einer Demonstration in Santiago gewesen sein. Die
Regierung verspricht nach neuesten Meldungen ihren rigiden Sparkurs zu
beenden und Geld für massive Infrastrukturmaßnahmen und Jobförderungen
bereitzustellen.

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Eine spezielle Ursache für die Repressionseskalation in Chile bleibt in den
Massenmedien aber unerwähnt. Es handelt sich dabei um eine Institution aus
lang vergangenen Zeiten, nämlich den Zeiten der ersten Diktatur des
20.Jahrhunderts in Chile. Präsident Carlos Ibáñez del Campo fusionierte
nämlich 1927 die bestehende berittene Miliz mit den zivilen Polizeien der
Gemeinden und Provinzen zu den Carabineros de Chile, der kasernierten
Gendarmerie Chiles, die seitdem die chilenische "Schutzpolizei" bildet und
bis 2011 der Armee unterstellt war. Wie viele militärisch organisierte
Polizeien (man denke an die Guardia Civil in Spanien oder die Jandarma in
der Türkei) sind auch die chilenische Carabineros nicht zu demokratisieren
und kaum an die Prinzipien von Menschenrechten zu gewöhnen. Einen
ausführlichen Artikel dazu gibt es unter:
https://www.npla.de/thema/repression-widerstand/warum-die-carabineros-de-chile-aufgeloest-werden-muessen/

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Ein Vergewaltiger auf deinem Weg
Aktion, als Zeichen gegen die sexuelle Gewalt von Seiten der chilenischen
Polizei gegen Frauen und LGBTIQ+
Als Teil der Aktionen um die systematische Gewalt von Seiten des
chilenischen Staates zu visualisieren und im Rahmen der Kampagne "16 Tage
gegen Gewalt an Frauen und Mädchen", wollen wir von Wien aus Zeugnis ablegen
von der Gewalt die die chilenische Polizei an Frauen und LGBTIQ ausgeübt hat
und weiterhin ausübt
Das Kollektiv "Las Tesis" haben international dazu aufgerufen ihre
Intervention "UN VIOLADOR EN TU CAMINO" zu performen.
PERFORMANCE: Sonntag, 8. Dezember am Platz der Menschenrechte
(Mariahilferstraße 1, 1070) Wien) 15:00
(Aussendungstext Chile despertó Viena und Ni Una Menos Austria / gek.)
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