**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Montag, 24. Juni 2019; 18:20
**********************************************************

Religion:

> Wiederholte Angst vor dem Anpatzen

Von *Drehli Robnik* auf reflektive.at

Sebastian Kurz verbringt den Wahlkampfsommer fern den Einrichtungen
kritischer Öffentlichkeit. Das Hohe Haus gilt ihm als Hort des Hochverrats.
Er will formlos nah bei 'den Menschen' sein: ein Altkanzler zum Anfassen -
und zum ja nicht Anpatzen. Dieses Schlüsselkonzept seiner Machtdurchsetzung
in Verbindung mit Jubeltagen der Geschichte behandelt dieser
diskursanalytisch-polemische Essay.
*

Wiederholung ist, wenn etwas mehrmals passiert. Vielleicht wiederholt sich
demnächst die Regierungserklärung eines Bundeskanzlers Kurz - circa zum
zweiten Jahrestag des Amtsantritts des Kabinetts Kurz-Strache. Das war Ende
2017. Blicken wir also kurz auf bestimmte Formulierungen in der ersten und
der (vorerst) letzten Rede zurück, die Kurz als Regierungschef im
Nationalrat hielt. Zunächst die erste, in der er en passant eine Art
Komplementär-Konzept zum notorischen Anpatzen ins Spiel brachte, nämlich das
Universal-Jubiläum. Am 20. Dezember 2017 verkündete der Kanzler, was sein
wird. Er gab einen Ausblick aufs anstehende Gedenkjahr, indem er sagte,
"dass 2018 das bedeutsame Jahr sein wird, in dem wir viele Jubiläen
gemeinsam feiern werden und wo wir auf viele Jubiläen gemeinsam auch in
Trauer zurückblicken werden." Mit den zwei Arten von Jubiläen (zumal
"vielen") - denen zum Feiern, und denen zum in Trauer auf sie Zurückblicken
(etwas verwirrend formuliert) - meinte er, so sein nächster Satz, das
hundertjährige Bestehen der Republik und anderseits die "beschämenden und
traurigen Ereignisse rund um den März 1938".

Was, bitt´schön, macht den Rückblick auf Ereignisse vom März 1938 zu einem
"Jubiläum", also einem Jubel-Anlass, wie Kurz das nennt? Es gibt Leute, die
sprechen beim 12. März schlicht von einem Jahrestag. Es geht da aber nicht
um 'richtige' Wortwahl. Und schon gar nicht soll unterstellt sein, dass die
Tage, in denen Hitlers Kanzlerschaft sich unter allgemeinem Jubel erstmals
auf Österreich erstreckte, für Kurz der Gegenstand eines Jubiläums seien
(1). Vielmehr ist Kurzens Nomenklatur bezeichnend für sein Verständnis von
Geschichte im Allgemeinen: Er braucht und kennt sie schlicht nicht, es sei
denn als Jubel-Zeremoniell. Womit der ewigjunge Brachial-Erneuerer von
Partei, Staat und Hochleistungsgesellschaft nichts anfängt, ist Geschichte;
dies im Sinn nicht von Jahreszahlen-Wissen, sondern von: anerkennen, dass
Gesellschaften sich in der Zeit verändern, konflikthaft, oft gewalthaft, und
dass Gewalt-Erfahrungen wie die im Nationalsozialismus untrennbar sind von
ihrem politischen Nachlasten. Das aber entzieht sich der Message Control,
ist also zu neutralisieren.

Wer würde einen Gesalbten anpatzen?

Allerdings: Damit, dass er einen NS-bezogenen Jahrestag - einen achtzigsten
zumal - mit Jubel-Ereignissen überlagert, steht Kurz in der Volkspartei
nicht allein da. Auf dem Weg zur Kabinett-Kurz-Wiederholung liegt eine Wahl,
und die hätte die Volkspartei gern möglichst früh gehabt (solang Kurz noch
so jung ist.), vielleicht am liebsten am 1. September 2019. (2) Aber war da,
ist da nicht ein Jubiläum? Irgendwas mit achtzig? Dieser Tag, an dem die ÖVP
gern in aller Frühe zurückgewählt hätte, ist der achtzigste Jahrestag des
Beginns des nazideutschen Überfalls auf Polen. Der Tag, an dem der Rest des
Kontinents des Beginns des Zweiten Weltkriegs in Europa 1939 gedenkt, gilt
der Altkanzlerpartei als ein wünschenswerter Wahltermin. Denn der 8. oder
15. September gehen nicht - da geht der Bauernbund Niederösterreich auf
Mariazell-Wallfahrt, bzw. begeht die steirische ÖVP ein Trachtenfest. Jedem
Land und Bund sein Jubelgrund.

Das so darzustellen, ist natürlich gehässig. Aber auch das - dass man der
ÖVP so kommen würde -, wusste der Kanzler, als er es noch kurz war. An jenem
Misstrauensmontag des 27. Mai verkündete er, was sein wird. In der
Wahlkampfauftaktrede vor seiner Parteiakademie, gleich nach dem Versagen
(dem des Vertrauens, durch den Nationalrat), prophezeihte er: "Sie werden
uns anpatzen!" Klang nach: Haltet die andere Backe hin. Der frischgebackene
Altkanzler wiederholte damit, was er Stunden zuvor eingangs seiner letzten
Kanzlerrede im Nationalrat - spiegelbildlich zur jubiläischen
Antrittserklärung - gesagt hatte: "Ich werd daher auch nicht auf alle
Unterstellungen und Anpatzversuche reagieren." Und mit dem Anpatzen
wiederholte er eine Zentralvokabel seiner Wahlkampf- und
Regierungspropaganda.

Anpatzen ist ein spezifisches Wort. Unösterreichische Ohren, egal wie ab-
oder anständig, hören da vermutlich 'Anpassen', denn das Wort ist nördlich
von Nürnberg im Deutschen ungebräuchlich (und in Bayern gilt Obatzter als
Käsespezialität). In der Bedeutung von 'verleumden' folgt das Anpatzen als
Schlüsselwort dem 'Vernadern' als Schüsselwort der Schulterschluss-Rhetorik
der Schwarz-Blau-Regierung anno 2000. Ist das Anpatzen ein Stück jener
politischen 'Kindersprache', mit der die ÖVP Agenden wiederholt einhämmert
(wie das "Damit der, der arbeitet, nicht der Dumme ist")? Das als
'Kindersprache' zu labeln, hieße Kinder beleidigen. Außerdem: Jene
paternalistische Anmutung von Machtträgern (Kreisky, Pröll etc.), die mit
der Infantilisierung ihrer Untertanen einhergeht, fällt bei Kurz weg, denn
er ist vieles, aber kein Patriarch. Sondern Kurz ist selbst 'Kind'. Die ihm
oft nachgesagte Messias-Pose hat mit dem politischen Messianismus das Pathos
des Zeitenbruchs gemeinsam (z.B. in der Leerform von "Es ist Zeit",
Wahlslogan 2017). Aber noch mehr bringt das Bild vom Messias Kurz die
Folklore-christliche Vorstellung vom 'Gesalbten' als Jesu-Kindlein ins
Spiel: frisch gesalbt und gegelt, mit zarter Babyhaut und quängelnder
Stimme. Ein solcher Körper, der als königlicher 'uns alle' mitverkörpert,
vielmehr: das mit verkörpert, was und wie die meisten gern sein möchten -
wer würde den anpatzen wollen oder dürfen?

Kritik ist verboten (außer sie ist Hetze, die Kritik heißt)

Kurzens Phobie gegen das Anpatzen - als politischer Diskurs, nicht als
Seelenzustand betrachtet - ist spezifisch in zweierlei Hinsicht. Erstens:
Sofern diese Phobie die Kehrseite einer Sauberkeits-Obsession ist (oder
wäre), ist sie das nicht im Rahmen von Kampagnen der
'Korruptionsbekämpfung',
wie sie die Neos oder die FÖP der 'Saubermänner' Steger und Haider
(Frühphase) kennzeichnen. Zweitens entspricht der Anpatz-Angst eine Art
Reinheitsgebot, allerdings nicht im Sinn von politischem Purismus, wie er
(links)radikale oder religiös inspirierte Politikformen charakterisiert:
Kurz ist ja angepasst, nicht angepatzt - also neoliberal flexibel,
anpassungsfähig, auch im Sinn des politischen Opportunismus; Teil seines
Erfolges ist ja, dass er fremden- und demokratiefeindliche Agenden, die die
Freiheitlichen auf eine Art propagieren, die für ein Spießbürgertum noch
kontroversiell ist, im Schnösel-Konsens-Ton artikuliert (3).

Zu Kurzens anschmiegsamer Artikulation gehört das Verbot, ihn anzupatzen.
Und das heißt, dass er jede Art von rationalem Diskurs in der Politik, der
ja als politischer Diskurs notwendig immer ein Moment von GegnerInnenschaft,
Konfliktaustragung und Polemik beinhaltet, a priori für illegitim erklärt.
Nämlich für unrein bzw. als einen obszönen Akt. Zur Illustration: Am Beginn
seiner bundespolitischen Laufbahn stand eine Kampagne als
Integrations-Staatssekretär 2011: Sein erklärtes Ziel war, die Art, wie über
MigrantInnen gesprochen wird, vom negativen Tonfall befreien, und Kurz tat
dies unter Einsatz migrantischer Promis als "Integrationsbotschafter"
(darunter auch Frauen), die Dankbarkeit bezeugen und Mehrheits-Österreichs
narzisstisches Selbstbild mit ausmalen sollten - und mit dem Verdikt, ab
jetzt müsse auch Schluss sein mit Beschwerden von wegen Rassismus. Geblieben
ist von dieser Kampagne die zunehmende Dethematisierung von Rassismus durch
Bundesregierungen, die immer rassistischer handelten, sowie die phobische
Reaktion auf jegliche Kritik. Und eine Ironie: Kritik gilt zunehmend als Akt
des Anpatzens - im selben Maß, wie der nach rechts weggebrochene Mainstream
Rülpser Richtung Brüssel oder xenophobe Hetze als "EU-skeptisch" oder
"migrationskritisch" nobilitiert.

Ziemlich fad. und irgendwie eklig

Was da als Kritik gilt - und als was da Kritik gilt: Immanuel Kant speibt
sich im Grab an, um in der "Patz"-Diktion zu bleiben. Allein, mit
etablierten Formen bürgerlicher Öffentlichkeit darf man einem Akteur nicht
kommen, dem Institutionen von Repräsentation samt ihrem unvezichtbaren
Quantum Präsenzmystik (das Hier und Jetzt der Parlamentsabstimmung) fremd
und fad sind. Als er sich noch zu Kurzaufenthalten im Parlament herabließ,
liebkoste er sein Handy, wenn die Opposition die Tribüne bestieg; und für
seine Vermutung, bei seiner 'Abwahl' durch das herätische Hohe Haus habe
sich ein SPÖ-FPÖ-Geheimbündnis manifestiert, man sehe also nun alles offen
zutage treten, verwendete er im Standard-Interview die Metapher "Jetzt ist
der Vorhang gefallen" - was genau das Gegenteil bedeutet, nämlich dass der
Vorhang zugezogen und das Bühnengeschehen verdeckt ist. File under: Deutsch
vor Vorhang-Zuzug, oder: Wozu brauch ich Basiskenntnisse von
Repräsentations-Konventionen bürgerlichen Theaters, wenn mich jenes
Sprechtheater, das ein Parlament immer auch ist, eh anödet und ich gerade
die Reste bürgerlicher Öffentlichkeit, besonders ihre Anteile von
Sittlichkeit, Regelpoetik und Kosmopolitik, erfolgreich beseitige?

Die Kurz-Attacken aufs Anpatzen entspringen mit einer Phobie gegens
Parlament ("Selbstausschaltung", anyone?), generell gegen geregelte Formen
öffentlicher Debatte und Streitkultur. Das ist zum Teil die Wiederholung des
konsensdogmatischen Mottos "Genug gestritten!", mit dem Kanzler Faymann in
die vorgezogene Nationalratswahl 2008 ging: Dasselbe in Türkis, ja, aber als
ein once more with feeling. Denn dass politischer Streit mit einem Bannfluch
belegt wurde (und Kurz & Strache schon ob ihres bloßen Einander-Angrinsens
als Genies des good government galten), ist eine Sache. Eine andere ist die
Dauerpanik des gesalbten Kindes, das wir alle sein wollen sollen, vor dem
Anpatzen: Das ist eine Gefühlspolitik der Abjektion, des Ausstoßens von als
eklig stigmatisierten Anderen. Dieser Abjekt-Affekt ist Kurzens Kehrseite
der freiheitlichen Manie, jeweilige Konkurrenz und Hassobjekte (die 'grüne
Kröte', den feisten Roten, den hakennasigen Orientalen, der früher 'Ostjude'
war) als physisch widerlich jenseits aller austragbaren GegnerInnenschaft
hinzustellen. Ob FPÖ-Cartoon oder Anpatz-Panik - beide beschwören etwas, das
einem jubelseligen völkischen Wellness-Körper gefühlssubstanziell
unerträglich ist. Fremde und Infragestellerinnen - beide sind dem
Frontex-gesalbten Wohlstands-Wir als Volksfeinde zuwider.


Anmerkungen
(1) Leute, die das so sehen, heißen allgemein Nazis.
(2) Walter Müller: "Kurz' Wunschtermin wackelt wegen Wallfahrt und Fest",
Der Standard 4.6.2019, S. 3.
(3) FPÖ-Politik hingegen zehrt seit Haider auch davon, dass sie als
transgressiv gegenüber dem bürgerlichen Anstand, oft als dirty, auftritt:
Rebellionspathos in Form 'gewagter' Anspielungen; kaum verhohlener
Fremdenhass in Form 'anzüglicher' Witze. Fragt sich: Kann diese dirtiness
jemand anderer als Strache authentisch performen? Oder jetzt erst recht nur
Strache, weil nun ultimativ dirty? - Als Zielgruppen-Flankenschutz für Kurz
in der ÖVP könnte sich Gernot Blümel als dirty companion zum unangepatzten
Kanzler profilieren, mit sexy verkniffenem Blick, Parlamentsreden in Socken
haltend wie ein Pornodarsteller.

Quelle:
https://www.reflektive.at/wiederholte-angst-vor-dem-anpatzen

*

> Posting der Woche

"20.06.2019 18:53 - Egal wieviel die Linken noch ausgraben (natürlich genau
vor kommenden Wahlen) es hilft Ihnen nichts. Ich und viele werden trotzdem
Kurz und die Türkisen wählen schon aus Mangel an Alternativen."

Warum es sinnlos ist, mit Kurzgläubigen zu diskutieren, verrät uns dieses
Posting auf der Kurier-Homepage. Es ist vollkommen egal, ob Kurz und Blümel
vorher vom Ibiza-Video wußten. Es ist auch egal, ob sie schon früher den
Wahlkampf geplant hatten. Ganz wurscht ist, ob Kurz sich völlig lächerlich
macht, wenn er sich segnen läßt. Und es ist scheißegal, wie sich der Messias
finanziert -- er sät nicht, er erntet nicht und das Großkapital ernährt ihn
doch. Dabei bleibt er jedoch trotzdem keusch und rein. Ein Wunder! Kurz hat
keine Wähler, er hat Apostel.
-br-


***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der nichtkommerziellen
Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd muessen aber nicht
wortidentisch mit den in der Papierausgabe veroeffentlichten sein. Nachdruck
von Eigenbeitraegen mit Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete
Beitraege stehen in der Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von
Texten mit anderem Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine
anderweitige Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als
Abonnement verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann
den akin-pd per formlosen Mail an akin.redaktion@gmx.at abbestellen.



*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
postadresse a-1170 wien, lobenhauerngasse 35/2
redaktionsadresse: dreyhausenstraße 3, kellerlokal, 1140
vox: 0665 65 20 70 92
http://akin.mediaweb.at
blog: https://akinmagazin.wordpress.com/
facebook: https://www.facebook.com/akin.magazin
mail: akin.redaktion@gmx.at
bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
bank austria, zweck: akin
IBAN AT041200022310297600
BIC: BKAUATWW