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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 15. Mai 2019; 23:57
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Glosse:

> Bevölkerungsaustausch: Eine verlogene Wahrheit

*Karl Czasny* über die Hintergünde der freiheitlichen Umwolkung

Strache musste zuletzt einige Mal notgedrungen zur Mitte hin blinken, weil
Parteifreunde rote Linien überschritten hatten. Zum Ausgleich setzt er nun
mit seinem Beharren auf dem von den Identitären ins Spiel gebrachten
"Bevölkerungsaustausch" einen sehr geschickten Rechtsblink. Denn mit ihm
befriedet er einerseits den Rechtsrand seiner Partei, der jetzt nicht nur
die Identitären gerechtfertigt sieht, sondern auch in seligen Erinnerungen
an jene Zeiten schwelgen darf, in denen man von einer "Umvolkung" sprach.
Andererseits lockt Strache damit die bürgerlichen Medien in eine der
klassischen rhetorischen Fallen des Rechtspopulismus. Besagter Begriff ist
nämlich Wahrheit und Lüge zugleich. Wenn dann die Medien nur die in ihm
steckende Lüge kritisieren, kann Strache bei seinen Anhängern und
Sympathisanten mit der von ihnen allen dunkel gefühlten Wahrheit punkten.
Dieses mit vielen Begriffen spielbare Spiel gehört zu den Lieblingstricks
sämtlicher Rechtspopulisten. Und die einzige Möglichkeit, es zu stören,
besteht in einer sauberen Scheidung der in allen einschlägigen
Wortschöpfungen mehr oder weniger kunstvoll vermischten Anteile von Wahrheit
und Lüge. Überlegen wir also, was von beidem sich in der Rede vom
"Bevölkerungsaustausch" verbirgt.

Wichtigstes Element der Lüge ist die Unterstellung einer gezielten und
umfassenden demographischen Strategie, hinter der bestimmte
Interessengruppen oder gar einzelne Drahtzieher stehen sollen. Bekannte
Beispiele dafür sind die Vorwürfe von Ungarns Premier Viktor Orban an den
Investor George Soros und die Hasskampagne von Pegida und AfD gegen Merkel.
Eine weitere, zwar nicht ausgesprochene, aber unterschwellig umso mehr
irrationale Ängste schürende Lüge beinhaltet die dem Wort "Austausch"
anhängende Assoziationsbrücke zur Vorstellung von wechselseitigen
Deportationen: Als ob man neue, besser brauchbare Menschen ins Land holte,
um dann irgendwann im Gegenzug andere, nicht mehr so gut brauchbare Menschen
abzutransportieren.

Verzerrungen

In jeder dieser beiden Lügen steckt ein Körnchen Wahrheit. Dieses ist jedoch
nicht so einfach zu benennen, denn Wahrheit ist immer eine recht komplexe
Angelegenheit, die von den Rechtspopulisten stets nur bruchstückhaft und
verzerrt angesprochen wird. Beginnen wir mit der Feststellung, dass es
tatsächlich starke weltweite Migrationsbewegungen gibt, die vor allem in den
heimischen Großstädten zu einem ziemlich dramatischen demographischen Wandel
führen. Eine verzerrte Wahrheit verbirgt sich auch in der zuvor erwähnten
Assoziation mit Deportationen. Denn es findet zwar nirgendwo ein Abtransport
der alteingesessenen Bevölkerung statt. Sehr wohl kommt es jedoch im Gefolge
der Migration zu realen Verdrängungsprozessen auf den Arbeits- und
Wohnungsmärkten, in deren Verlauf die Zuwanderer als Konkurrenten um
leistbaren Wohnraum und Arbeitsplätze erlebt werden. Selbst der Verdacht,
die Migrationsbewegung sei Ergebnis einer bewusst verfolgten Strategie,
transportiert eine grob entstellte Wahrheit. Denn die vom
"Bevölkerungsaustausch" angesprochenen Migrations- und Verdrängungsprozesse
resultieren zwar nicht aus einem von einzelnen Gruppen oder Individuen
bewusst verfolgten Plan, sind aber zwangsläufige Folge der jüngeren
Entwicklung des kapitalistischen Wirtschaftssystems -- eines Systems, das
wir gemeinsam täglich reproduzieren und damit letztlich in all seinen
Konsequenzen zu verantworten haben.

Globalisierung

Die diesbezüglichen Entwicklungen wurden schon oft beschrieben, weshalb ich
sie hier nur in aller Kürze stichwortartig in Erinnerung rufe. Ihr
Ausgangspunkt war ein in der Mitte der Neunzehnsiebzigerjahre einsetzender
Rückgang der durchschnittlichen Profitrate, auf den das Kapital mit
forcierter Globalisierung aller Produktions- und Vermarktungsprozesse
reagierte. Wo neue Produkte, Produktionsweisen und Lebensstile in zuvor vom
internationalen Kapital kaum berührte Regionen vordrangen, zerstörten sie
die dort etablierten ökonomischen Kreisläufe und Lebensgrundlagen, weckten
Bedürfnisse bzw. Unzufriedenheiten und setzten dadurch den zweistufigen
Prozess einer neuen, erstmals weltumspannenden Völkerwanderung in Gang. Der
erste Schritt dieser globalen Migrationsbewegung führte die aus den
traditionellen landwirtschaftlichen Produktionszusammenhängen
herausgerissenen Opfer des Weltmarktes in die in den Großstädten der
peripheren Staaten gelegenen neuen Zentren der Kapitalverwertung. Der zweite
Schritt trieb viele der dort überzähligen Arbeitskräfte weiter in die alten
westlichen Metropolen des Kapitalismus. Ergänzende Impulse erhielt der so in
Gang gesetzte weltweite Migrationsstrom ab den neunziger Jahren durch den
vom Wachstumszwang der kapitalistischen Ökonomie heraufbeschworenen
Klimawandel und den Zusammenbruch des Kommunismus, sowie durch die sich in
seinem Gefolge verschärfenden kriegerischen Konflikte an den Grenzen der
Einflusszonen alter und neuer Groß- und Mittelmächte.

Die im Zuge der Globalisierung stattfindende Integration einer riesigen Zahl
neuer Billigstarbeitskräfte in den Kapitalverwertungsprozess steigerte zwar
die mittlere Mehrwertrate, was den weltweiten Durchschnittsprofit und damit
das kapitalistische Weltwirtschaftssystem als solches stabilisierte. In den
alten westlichen Metropolen jedoch geriet die Rendite durch die neue
Konkurrenz aufstrebender peripherer Staaten stark unter Druck. Und vor
diesem Hintergrund verknüpfte sich nun die von den Zwängen der
Kapitalverwertung ausgelöste weltweite Migrationsbewegung ein weiteres Mal
aufs Engste mit den ökonomischen Erfordernissen möglichst ungestörter
Kapitalakkumulation. Denn das vom Weltmarkt in die alten Metropolen des
Kapitalismus gespülte Menschenmaterial wurde aufgrund geringerer Ansprüche,
ungesicherter Aufenthaltstitel und anderer struktureller Handicaps zu einem
willkommenen Hebel bei den Bemühungen des Kapitals, die Mehrwertrate auch
hier wieder zu erhöhen.

Unbequeme Wahrheit

Dass ein von uns allen zu verantwortendes Wirtschaftssystem nicht nur
chaotische Bevölkerungsströme verursacht, sondern diese dann auch noch für
die Verschärfung der Ausbeutung unserer Arbeitskraft und die Beschleunigung
ökonomischer Verdrängungsprozesse instrumentalisiert, ist keine sehr
angenehme, gern gehörte Wahrheit. Ihr in die Augen zu sehen, ist offenbar
viel unbequemer als die Kultivierung eines Zorns auf dunkle Drahtzieher von
gesteuertem "Bevölkerungsaustausch". Und von der Bequemlichkeit dieser
verlogenen Wahrheit lebt der Rechtspopulismus. ###


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