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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 15. Mai 2019; 23:58
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Gedenken/Geschichte/Gegenwart:

> Die unnennbaren Opfer

Der Schriftsteller *Ludwig Laher* hielt am 10.Mai bei der traditionellen
Gedenkveranstaltung am Mahnstein vor dem Hitler-Geburtshaus eine Rede. Sie
dürfte nicht allen dort Anwesenden gefallen haben. Vor allem nicht dem
ÖVP-Bürgermeister von Braunau.
*


Einen Teil meiner Reputation als Schriftsteller verdanke ich Büchern, die
sich mit der Zeit rund um die an sich kurze Periode des Nationalsozialismus
auseinandersetzen. Ich habe sie nicht in erster Linie aus historischem
Interesse geschrieben, sondern weil ich mich darin mit Grundsätzlichem
beschäftige, das auch für die Gegenwart und Zukunft bedeutsam ist: Wie der
Mensch mit dem Menschen umgeht, wie Gesellschaften merklich oder unmerklich
in die Barbarei abgleiten, woraus sich diese Barbarei speist, wie nach einem
solchen Tiefpunkt der Zivilisation nur sehr bedingt Konsequenzen gezogen
werden, viele Täter ungeschoren davonkommen, während die Opfer lange Zeit
verdrängt, geleugnet, geringgeschätzt werden.

Meine heutige Rede wird daher mindestens so viel von der Gegenwart und der
Zukunft handeln wie von der Vergangenheit. Gerade weil es, wie die Einladung
verkündet, um die Opfer von Krieg und Nationalsozialismus geht, versteht es
sich nachgerade von selbst, dass ich deutlich beim Namen nennen und
kommentieren werde, was sich in der letzten Zeit hier in Braunau an
Unsäglichem abgespielt hat.

Durch die Jahrtausende war der Begriff ,Opfer' dadurch gekennzeichnet, dass
der, die oder das Geopferte in die Zukunft wirken sollte. Man wollte damit
die jeweils imaginierten Götter besänftigen, günstig stimmen. Wer ein Opfer
bringt, gibt etwas her, das Bedeutung hat für ihn, wichtig ist. Gewürze,
Schmuck, Waffen, Schafe, Menschen. Wenn es um Menschenopfer ging, waren es
deshalb oft genug nicht die mehr oder weniger leicht entbehrlichen
gefangenen Feinde, die den Opfertod sterben mussten, sondern Angehörige des
eigenen Volkes, bis hin zu hochangesehenen Priestern und Priesterinnen eines
Kultes. Das tat allen weh, am meisten natürlich trotzdem den brutal
Geopferten. Wer kennt nicht die verstörende biblische Geschichte von Abraham
und Isaak? Um ein Haar hätte Abraham in blinder Verehrung seines Gottes den
geliebten eigenen Sohn geschlachtet. Erst in der letzten Sekunde blies Gott
selbst, heißt es, das blutige Ritual ab.

Wenn man von den Opfern des Nationalsozialismus spricht, schwingt dieser
alte Bedeutungshorizont des Wortes indirekt noch einigermaßen nach. Sie
sollen nicht umsonst gestorben sein, hört man oft bei Ansprachen, ihr Opfer
verpflichte uns. Wozu? frage ich Sie und mich.

Das Mauthausenkomitee Österreich, die Nachfolgeorganisation der
Lagergemeinschaft überlebender Opfer, deren Mitglieder aus demographischen
Gründen mittlerweile fast alle verstorben sind, das Mauthausenkomitee also
gibt jährlich eine Devise aus, unter der möglichst viele der erfreulich
zahlreichen Gedenkveranstaltungen in ganz Österreich stehen sollen. Heuer
heißt diese Parole ,Niemals Nummer. Immer Mensch'. Gemeint ist damit, dass
die Insassen der Lager ihrer Individualität beraubt wurden, indem sie nur
noch als Nummer existierten, ihre Namen nicht mehr verwendet werden durften.
Gemeint ist damit, dass Gedenkakte nach dem Krieg lange Jahre die abstrakten
Zahlen in den Mittelpunkt stellten, sechs Millionen ermordete Juden, eine
halbe Million ermordete Sinti und Roma, dreißigtausend Behinderte allein in
Hartheim.

Aber die Ermordeten waren Menschen wie du und ich, mit Vor- und Zunamen,
einem Leben voller Freud und Leid, große Persönlichkeiten, einfache Leute,
Greise und Säuglinge, Widerstandskämpfer und unpolitische Privatpersonen,
die den Machthabern im Weg standen. Ihrer wird heuer überall bei den Mahn-
und Gedenkfeiern, auch bei jener für die beiden NS-Lager im Bezirk Braunau
in Weyer-St.Pantaleon, unter anderem mit dem Verlesen von Namen, mit der
Herausstellung einzelner Biographien besonders gedacht.

Der Bürgermeister von Braunau ließ dem Verein für Zeitgeschichte einen
kurzen Brief zukommen, der es verdient, hier vollständig zitiert zu werden:

Sehr geehrter Herr Obmann Magister Kotanko, lieber Florian,
in der Vorstandssitzung des Vereins für Zeitgeschichte am 28.01. wurde über
die Verlesung der Namen von NS-Opfern aus Braunau und Ranshofen als
zusätzliche Aktivität bei der Gedenkstunde am 10.05. gesprochen.
Der Kulturausschuss hat am 06.03. anhand der übermittelten Unterlagen
beraten und diese zusätzliche Aktivität bei der Gedenkstunde am 10.05.
abgelehnt.
Wir bitten dich um Kenntnisnahme.
Mit freundlichen Grüßen
Mag. Johannes Waidbacher
(Bürgermeister)

Der Herr Bürgermeister verzichtet darauf, diese schroffe Ablehnung des
Kulturausschusses schriftlich zu begründen. Er spricht einfach ein Verbot
aus. Nun stimmt es zwar, dass die mir zugegangene Einladung neben dem Verein
für Zeitgeschichte und dem Mauthausenkomitee auch die Stadtgemeinde Braunau
als Veranstalter ausweist, aber wer gibt den politisch Verantwortlichen von
Braunau, ausgerechnet von Braunau am Inn das Recht, eine Gepflogenheit zu
unterbinden, die in zahllosen Städten und Dörfern Österreichs eine
Selbstverständlichkeit darstellt?

Vornehme Zurückhaltung kann in Zeiten des sich täglich frecher
aufplusternden Rechtsextremismus nicht der Weisheit letzter Ratschluss sein.
Ross und Reiter dieser Untersagung müssen genannt werden, die Opfer haben es
verdient.

ÖVP und FPÖ wurden womöglich bei der Meinungsbildung im März noch von einem
inzwischen abhanden gekommenen Vizebürgermeister mit
Kanalisationshintergrund kräftig unterstützt, der sich als verseschmiedender
Fachmann für Gut und Böse, Ausgrenzung und Blutsverbundenheit,
Kulturreinheit und hinige Sprachvermischungen internationalen Ruhm von New
York bis Tokio erworben hat. ÖVP und FPÖ also verordnen ein Opfergedenken
ohne Opfernamen, ohne die ermordeten Individuen und stellen sich damit ohne
Wimpernzucken in eine üble Tradition.

Man kann zwar vielleicht dem Verein für Zeitgeschichte den Mund verbieten,
nicht aber dem eingeladenen Hauptredner dieser Veranstaltung. Natürlich
fühle ich mich unter diesen Umständen fast verpflichtet, jetzt erst recht
jene möglichst vollständige hohe dreistellige Anzahl der bekannten NS-Opfer
Braunaus Namen für Namen vorzutragen, sie persönlich zu würdigen. Aber daran
hindert mich nicht das lächerliche Verbot des Bürgermeisters, sondern die
bereits gestellte Frage nach einer anderen Verpflichtung: Ihr Opfertod,
übrigens auch jener der einfachen Kriegstoten, verpflichte uns Lebende. Wozu
also? frage ich nochmals.

Die Antwort ist erstaunlich einfach. Zu einem lauten: Niemals wieder!, und
das natürlich jenseits der unverbindlichen Sonntagsreden von Politikern
jedweden Geschlechtes, die sich danach gleich wieder mit jenen ins Bett
legen, die ständig Zwietracht säen, an der Untergrabung der Demokratie
arbeiten und sich in Teilen zumindest einen kleinen Hitler zurückwünschen.
Wiederholungen des Schrecklichen lassen sich aber nur vermeiden, wenn man
die Umstände des Gewesenen ausreichend analysiert und Konsequenzen daraus
zieht. Dazu habe ich etliches zu sagen, weswegen ich die Opfer um
Verständnis bitte, meine beschränkte Zeit nicht mit dem Verlesen ihrer aller
Namen zu verbringen. Stattdessen greife ich mir einige wenige heraus,
erzähle ihr Schicksal und ziehe daraus meine Schlüsse.

Ich habe gesagt, dass ich die Opfer um Verständnis bitte, und das ist
tatsächlich so gemeint. Für mich sind diese Menschen zwar gestorben, aber
nicht vergangen, nicht weg. Sie sind unter uns, man kann mit ihnen
kommunizieren, sie sind lebendig wie Franz Schubert, wenn ich mich auf sein
Streichquintett in C-Dur einlasse, wie Ferdinand Sauter, der große,
hochaktuelle österreichische Vormärzdichter, wenn ich mich 2017 mit seinen
Handschriften auseinandersetze und sein Werk in Buchform neu ediere.

Menschen von einst sind unter uns, wenn wir uns auf sie einlassen. Von Zeit
zu Zeit schaue ich den beiden Mädchen aus Hochburg-Ach auf dem Foto in der
Broschüre über die beiden Lager St. Pantaleon-Weyer in die Augen, deren
junges Leben von den Nazi-Mördern aus Rassenwahn ausgelöscht wurde, und ich
verspreche Anna und Hildegard Kerndlbacher stets aufs neue, mein
bescheidenes öffentliches Gewicht in die Waagschale zu werfen, dass nie
wieder die das unumschränkte Sagen haben, die jetzt schon nichts dabei
finden, ganze Menschengruppen a priori auszugrenzen.

Wenn ein Innenminister ungestraft, ohne individuelle Gründe für eine
Fluchtbewegung nach Österreich überhaupt geprüft zu haben, Asylsuchende
statt in ein Erstaufnahmezentrum von vornherein in ein von ihm so benanntes
Ausreisezentrum verfrachten lässt, hat der menschenverachtende Zynismus
einen weiteren Etappensieg davongetragen, die Verrohung wird täglich
salonfähiger. Der Aufschrei dagegen hielt sich leider in engen Grenzen.

Nicht verlesen werden darf hier und heute nach dem Mehrheitswillen des
Kulturausschusses der Stadtgemeinde Braunau am Inn der Name von Anna Sax,
einer Braunauer Zeugin Jehovas, die dafür ins KZ Ravensbrück eingeliefert
wurde. Als sogenannte Ballastexistenz - auch ein unüberbietbar zynischer
Begriff - als Ballastexistenz wurde sie schließlich, weil nicht mehr
arbeitsfähig, in der Gaskammer der Tötungsanstalt Bernburg an der Saale
ermordet.

Nicht verlesen werden darf hier und heute nach dem Mehrheitswillen des
Kulturausschusses der Stadtgemeinde Braunau am Inn der Name von Franz
Amberger, eines linken Braunauer Widerstandskämpfers gegen die braune Pest,
der enttarnt, vom Volksgerichtshof verurteilt und in München-Stadelheim mit
dem Fallbeil hingerichtet wurde.

Es konnte alle treffen, dich und mich. Josef Mayr aus Neukirchen an der
Enknach zum Beispiel erwischte seine eigene Frau in seinem eigenen Bett mit
dem dortigen NS-Bürgermeister und wurde dafür im Lager Weyer im Kreis
Braunau binnen fünf Tagen über Weihnachten 1940 totgefoltert. Ein Foto in
einer großartigen Publikation der Gemeinde Neukirchen über die NS-Zeit zeigt
den Schuster und Hausbesitzer Josef Mayr etliche Jahre vorher im Kreis der
Mitglieder des örtlichen Rauchklubs, alle im korrekten dunklen Anzug, der
Kellner tischt gerade schön verzierte Maßkrüge auf. Dieser offenbar gut
integrierte Mitbürger wurde in einem Lager für Asoziale und Arbeitsscheue
beseitigt, das vor allem dazu diente, aus privaten Gründen unliebsame
Mitmenschen beugen, gar vernichten zu können. Sie alle haben Namen, sie alle
haben Schicksale. Niemals Nummer, immer Mensch.

Dieser Tage erst haben KZ-Überlebende einen dringenden Appell an den
oberösterreichischen Landeshauptmann gerichtet, das Arbeitsübereinkommen der
ÖVP mit den Freiheitlichen aufzukündigen. Sie führen unter anderem den
Einzelfall eines FPÖ-Stadtrates in Leonding an, der als Mitglied der
schlagenden Burschenschaft ,Donauhort zu Aschach' dem Vereinsmotto: ,Was
gibt es hier? Deutsche Hiebe!' huldigt und am 26. Mai zum Bürgermeister
gewählt werden will. Deutsche Hiebe hätten sie genug empfangen, meinen die
uralten Herrschaften.

Ja, jeder rechtsextreme Einzelfall, viele davon in einer österreichischen
Regierungspartei, ist solch ein neuerlicher Hieb. Ebenfalls jüngsten Datums
ist jene Studie, die nachweist, dass 42 Prozent der Bewohner dieses Landes
Mauthausen als Standort eines riesigen KZ nicht nennen können und 38 Prozent
glauben, der Nationalsozialismus könne wieder an die Macht kommen. Das
unsägliche Leid der NS-Opfer soll nicht umsonst gewesen sein, es verpflichte
uns, heißt es gebetsmühlenartig in den Sonntagsreden. Und dann solche
Zahlen.

Der Ort, an dem ich diese Rede halte, ist kein gewöhnlicher. Hier in der
schönen, sympathischen und keineswegs besonders rechten Stadt Braunau ist
dereinst durch Zufall ein Säugling auf die Welt gekommen, der ihr seinen
Stempel aufdrücken sollte. Was hat das unschuldige Baby Adolf, frage ich
mich wieder und wieder, das mit drei Jahren weg war von hier, zur Bestie
gemacht, zu einem gewissenlosen Massenmörder, dem nur wenige andere wie
Stalin, Idi Amin oder Pol Pot an die Seite gestellt werden können?

Der Umgang des offiziellen Braunau mit dieser Gestalt ist trotz aller
Initiativen wie dem Friedensbezirk und der verdienstvollen Tätigkeit des
Vereins für Zeitgeschichte durch viele Jahrzehnte ähnlich wenig souverän wie
jener der Republik Österreich als ganzes. Wenn ein Innenminister, diesfalls
der vorletzte, blauäugig meint, man müsse Hitlers Geburtshaus bloß dem
Erdboden gleich machen, und damit würde es sich haben, wenn eine sogenannte
Expertenkommission zwar den Abriss beeinsprucht, aber eine tiefgreifende
Fassadenumgestaltung empfiehlt, um dem Gebäude seine Symbolkraft zu nehmen,
handelt es sich dabei um unverständlich naive Wünsche ans Christkind.

Die Symbolkraft haftet nämlich nicht an den Mauern dieses Hauses, sie haftet
am Taufschein Hitlers und an seiner Überhöhung Braunaus gleich zu Beginn von
,Mein Kampf'. Da schreibt er: Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute,
daß das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies. Liegt
doch dieses Städtchen an der Grenze jener zwei deutschen Staaten, deren
Wiedervereinigung mindestens uns Jüngeren als eine mit allen Mitteln
durchzuführende Lebensaufgabe erscheint.

Nur auf den ersten Blick verwunderlich scheint es, dass Hitler das
vergleichsweise winzige Nest Braunau in Randlage der oberösterreichischen
Provinz gleich im nächsten Absatz, und damit quasi in einem Atemzug, auch
noch zum Symbol jener weiteren großen Aufgabe erklärt, die, bald nach der
Eingemeindung noch des letzten Deutschen ins künftige Großreich, mangels
gesicherter Ernährung des Herrenvolkes das moralische Recht zur Erwerbung
fremden Grund und Bodens beinhalte.

Doch entspricht es dem kruden Denken des mord- und brandlüsternen
Unruhestifters völlig, die so kurz nach der demoralisierenden Niederlage von
1918 und dem alliierten Friedensdiktat scheinbar absurden, später freilich
eins zu eins eingelösten Phantasien von einem Großdeutschen Reich und den
zur Schaffung neuen Lebensraumes unausweichlichen Eroberungsfeldzügen weit
darüber hinaus als ein selbstverständliches Ganzes anzusehen.

Die ihm von einem gütigen Schicksal direkt vor das Säuglingsnäschen gesetzte
ärgerliche Grenze mitten auf der Brücke über den breiten Strom, ungefähr
hundert Meter vom Braunauer Stadtplatz entfernt, steht in seiner
utilitaristischen Logik symbolisch für die anstehende Missachtung aller
Grenzen Europas. In diesem von den Strahlen deutschen Märtyrertums
vergoldeten Innstädtchen, bayerisch dem Blute, österreichisch dem Staate
nach, wohnten am Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts meine
Eltern.

Das sind, um in der sprachlichen Welt des künftigen Kriegsherren zu bleiben,
ganz schön schwere Geschütze, Markierungen, die Braunau, ob es will oder
nicht, bleibend anhaften. Hätte es der Vizebürgermeister von Hohenems oder
Gramatneusiedl weltweit in die Schlagzeilen gebracht, wenn er dummdreiste
Rattenverse gereimt hätte? Eben. Braunau hat er jedenfalls in der
internationalen Wahrnehmung um Jahre zurückgeworfen.

Es hilft nichts, wenn der Bezirkshauptmann klagt, Hitler hätte hier doch nur
die Windeln gefüllt, warum bringe man Braunau dauernd mit ihm in Verbindung,
schon gar nicht, wenn fünfzehn Kilometer weiter in Marktl der bayerische
Papst, für ganze zwei Jahre nach seiner Geburt dort beheimatet, durch Ankauf
seines Geburtshauses, dessen Umgestaltung zu einem Museum, durch Papstbier,
Benediktschnitten und Benediktpilgerweg, jüngst gar durch eine riesige,
merkwürdig phallisch anmutende Bronzesäule am zum Benedikt-Platz umbenannten
Marktplatz rauf und runter gefeiert wird.

Ob man will oder nicht, mit Geburtsorten wird eine Aura verbunden, die im
Fall Hitlers von ihm selbst kräftig mitgebastelt wurde. Damit muss man
umgehen lernen. Kindesweglegung ist jedenfalls kein probates Mittel. Wir
stehen hier direkt am Mahnstein mit seiner untadeligen Inschrift, die mehr
Engagement für die Sache der Demokratie einfordert als ich allenthalben
wahrnehme: Für Frieden, Freiheit und Demokratie. Nie wieder Faschismus.
Millionen Tote mahnen.

Vor wenigen Wochen habe ich ein neues Buch ,Wo nur die Wiege stand'
veröffentlicht, das sich - womöglich ein Mitgrund für die Einladung an mich,
hier eine Rede zu halten - mit früh verlassenen Geburtsorten berühmter
Persönlichkeiten beschäftigt. Marktl und Braunau spielen dabei natürlich
eine wichtige Rolle. Das Nachrichtenmagazin ,Profil' widmete dem Buch gleich
fünf ganze Seiten, und als ich hier untätig stand, während der Redakteur
eine Fotoserie des Hitlerhauses anfertigte, kamen ungefragt Menschen auf
mich zu und redeten mich an. Wolfgang Paterno lieh diesen Wortmeldungen
nebenbei ein Ohr und gibt sie in seinem Artikel in Ausschnitten wieder. Ein
echter Österreicher, wie er bekundete, hielt sein Rad neben mir an und
meinte ungefragt, er habe damit nichts zu tun. Aber wenn Obama den
Friedensnobelkreis kriegen kann, dann müsste ihn Hitler erst recht kriegen.
Ein Ehepaar aus dem Norden Deutschlands näherte sich, er zackig: Ist das das
Haus? Ich nickte nur.

Ist Ihnen eigentlich bewusst, dass um diesen Hitler selbst vor seinem
eigenen Geburtshaus ein großer Bogen gemacht wird? Wieder einmal gibt es
anscheinend eine Braunauer Übereinkunft, auf den Namen zu verzichten. Der
Mahnstein kommt ohne ihn aus, eine andere Kennzeichnung gibt es nicht,
Interessenten müssen sich anderweitig informieren. Will man so Hitlers
ungebrochen vorhandene Anhängerschaft im Zaum halten, die letzten November
mit Bezug auf das Geburtshaus in Gestalt der Vikings Security Austria
Division Braunau öffentlich feixte: Wenn alles gut geht haben wir bald ein
Vereinslokal!

Nichts lässt sich bannen, wenn man Hitlers Namen ausblendet, wenn man sich
allzu defensiv verhält, absolut nichts. Ich habe weder ausreichend Zeit noch
ist hier der rechte Ort, Vorschläge zu referieren, wie sich besser,
adäquater, souveräner, professioneller mit dieser Bürde umgehen ließe. Aber
ich wüsste einiges zu raten. Meine Adresse ist bekannt.

In den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts waren es nicht zuletzt
Schriftstellerkolleginnen und -kollegen, die intensiv gewarnt haben vor dem,
was sich da am Horizont abzeichnete. Es ist ihnen zumeist nicht gut
bekommen, sie wurden im KZ ermordet wie Jura Soyfer, Gertrud Kolmar oder
Erich Mühsam, endeten durch Selbstmord wie Egon Friedell, Kurt Tucholsky
oder Walter Benjamin, viele entkamen gerade noch rechtzeitig ins Exil wie
Ödön von Horvath, Stefan Zweig oder Bertolt Brecht.

Schriftstellerinnen und Schriftsteller stehen auch heute an vorderster Front
jener, die sich intensiv mit der Sprache der Hetzer beschäftigen und vor
fatalen Weichenstellungen warnen. Erst neulich wurde ich von Renate Welsh,
der 80jährigen Präsidentin unseres Berufsverbandes, gebeten, mich aktiv an
der Redaktion einer öffentlichen Stellungnahme zu beteiligen, die
folgendermaßen lautet und mit einem Satz des Innenministers beginnt:

"Ich glaube immer noch, dass der Grundsatz gilt, dass das Recht der Politik
zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht", dozierte Innenminister
Herbert Kickl im ORF-Report vom 22.1.2019. Dieser Grundsatz galt tatsächlich
in unseligen Zeiten, als etwa die NSDAP Rechtsorgane schriftlich
anherrschte, es sei "völlig abwegig und ausgeschlossen, dass die
Staatsanwaltschaft die Gesetzmäßigkeit von Maßnahmen der Verwaltungsbehörde
oder einer Parteidienststelle überprüft", die Mord und Totschlag zur Folge
hatten.

Die Politik hat in der Demokratie das Recht ohne Wenn und Aber zu
respektieren, die in der Verfassung festgelegten Prinzipien der
Gewaltentrennung und Rechtsstaatlichkeit sind zu garantieren.

Österreichischen Parteien steht es frei, national und auf EU-Ebene für die
Veränderung bestehender Gesetze um je nötige Mehrheiten zu werben. Wer
allerdings das Völkerrecht aushebeln will, die Menschenrechtskonvention in
Frage stellt und die Gewaltentrennung und Gleichheit vor dem Gesetz als
Hindernis für seine Vorhaben begreift, ist als Innenminister untragbar.
Herbert Kickl muss gehen, und zwar sofort. Soweit unsere Erklärung.

Über dreihundert Schriftstellerinnen und Schriftsteller, praktisch alles,
was Rang und Namen hat in Österreichs Literatur, stellten sich hinter diesen
Text, der ein in meinem dokumentarischen Roman ,Herzfleischentartung'
vorkommendes Originalzitat enthält, mit dem die NSDAP jenen mutigen
Oberstaatsanwalt bedrohte, der 1941 Licht in die Tötungsverbrechen der SA im
NS-Arbeitserziehungslager Weyer-St. Pantaleon an der Grenze
Salzburg-Oberösterreich bringen wollte. Mord und Totschlag werden darin
verharmlosend als Maßnahmen einer Parteidienststelle bezeichnet, die
sakrosankt bleiben müssen.

Dass man für jedwede auch noch so begründete Äußerung, die nicht den
Geschmack rechter Recken abbildet, von deren Seite Hass erntet, ist
heutzutage längst ein Gemeinplatz. Auf der FPÖ-Fanseite war zu unserer
Erklärung mit den Namen von 308 Autorinnen und Autoren längere Zeit der
ebenfalls mit vollem Namen gezeichnete Eintrag eines sich im Netz
einschlägig präsentierenden Mannes zu lesen, der jubelte: Super, jetzt haben
wir eine Liste und wenn es dann soweit ist, wissen wir, wer abgeholt werden
muss.

Was aus der Sachverhaltsdarstellung meines Berufsstandes an die
Staatsanwaltschaft Innsbruck werden wird, wird sich weisen. Festzuhalten
bleibt, dass es immer so anfängt: Zuerst kommen die Provokationen, dann das
Dummstellen, das gezielte Verschieben der Grenzen des Sagbaren, die Kumpanei
mit etwas weniger rechtsgerichteten Parteien, die um der Macht willen solche
Grenzüberschreitungen, solches Hetzen tolerieren, dann folgen Drohungen,
Einschüchterungen derer, die sich noch trauen, ein offenes Wort zu finden.
An diesem Punkt sind wir wieder einmal angelangt. Was die Zukunft bringen
wird, liegt an uns allen.

Gegen Ende meiner Rede möchte ich eines der Opfer selbst zu Wort kommen
lassen, denen ich in ,Herzfleischentartung' ein Denkmal gesetzt habe: Alwine
Rosenfels, eine sogenannte einfache Frau, eine Sintiza, schrieb aus dem
Zigeuneranhaltelager Weyer im Kreis Braunau einen letzten Brief. Darin heißt
es u.a.: Du kannst es dir nicht denken, wie es in mir ausschaut, da ich
unter diesen Menschen sein muß (.), die an meinem Schicksal schuld sind. Ich
meine oft, es drückt mir das Herz ab, liebe Mitzi. Teile dir auch mit, daß
mein zukünftiger Mann in Wildshut in Arbeit steht und wegen unserer Trauung
müssen wir noch warten. (.) Teile dir auch mit, daß Klein-Gitti krank ist,
und es ist kein Wunder. Die Männer mussten von früh bis spät als
Zwangsarbeiter an der Regulierung der Moosach schuften, um das Ibmer Moor
trockenzulegen. Frauen und Kinder saßen untätig im Lager, Medikamente gab es
keine, auch wenn, wie zur Zeit dieses Briefes, gefährliche Krankheiten wie
die kruppöse Lungenentzündung dort grassierten und ihren Tribut forderten.

Wovon träumte Alwine Rosenfels? Ihre Wünsche, ihre Hoffnungen waren sehr
bescheiden. Sie träumte von einer Trauung mit ihrem zukünftigen Mann, von
einer Genesung des kleinen Kindes, davon, den NS-Aufsehern nicht mehr
ausgeliefert zu sein, die solches Unglück über sie gebracht, die ihr das
Herz abgedrückt haben. Dabei war das erst der Anfang, keine Hochzeit, keine
Freilassung. Mit 300 anderen bis dahin Überlebenden wurde Frau Rosenfels im
November 1941 aus dem Kreis Braunau ins besetzte Polen in ein Zigeunerghetto
deportiert und am 6. Jänner 1942 vergast. Offizielle, selbstverständlich
erlogene Todesursache: Fleckfieber.
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