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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 2. Mai 2019; 01:33
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International/Initiativen/Debatte:
> Nicaragua - eine Herausforderung für die Solidaritätsbewegung
Von *Roswitha Amann, Rosemarie Ertl, Renate Essl, Martina Kaufmann,
Ursula Licka, Ingrid Moritz und Kurt Winterstein*.
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Vier Wochen sind wir im Jänner/Februar 2019 durchs Land gefahren, teilweise
begleitet von lieben nicaraguanischen FreundInnen und auf der Suche nach
Antworten: was ist los in diesem Land? Was stimmt an den zum Teil sehr
kontroversen Berichten in den Medien zur Krise seit dem Frühjahr 2018 und
was stimmt nicht? Wie ist die aktuelle Situation wirklich?
Die meisten von uns waren vor über 30 Jahren auf Brigade in diesem
wunderbaren Land und einige von uns waren auch in den Jahren zwischen damals
und heute einige bis viele Male dort. Und wir wollten verstehen, was
passiert ist.
Wir sind von Managua in den Süden gereist bis El Castillo, haben
Dschungeltouren gemacht, das von der zweiten Brigade gebaute Haus in Palma
Africana gesucht (und nicht gefunden, da es inzwischen abgerissen wurde),
wir haben Solentiname besucht, Masaya, Granada und sind dann in den Norden
gefahren nach Condega, Estelí, San Jerónimo. Wir haben mit vielen
Menschen
geredet, bekannten wie unbekannten, Privatpersonen, VertreterInnen der
Gemeinde Condega sowie diversen Initiativen aus dem Sozial- und
Frauenbereich und versucht zu fragen, zuzuhören und auch zwischen den Zeilen
zu lesen.
Fast im ganzen Land waren wir die einzigen "TouristInnen" -- viele Hotels,
Pensionen sind geschlossen, die vielen Touristenführer ebenfalls arbeitslos,
denn seit dem April 2018 kommen kaum mehr TouristInnen. Auffällig war auch
die sichtbare Präsenz von Polizei v.a. in den größeren Städten und
regelmäßige Polizeikontrollen auf der Panamericana. Aber nirgends haben wir
Demonstrationen oder irgendwelche "Unruhen" wahrgenommen. Lag das etwa
daran, dass es nichts mehr zu demonstrieren gab?
In den vielen Gesprächen war v.a. eines auffällig -- es scheint fast nur
polarisierte Meinungen zu geben.
Auf der einen Seite sind die AnhängerInnen von Ortega und Murillo, die
praktisch keine Kritik an der bestehenden Regierung zulassen und die Schuld
an den Protesten ausschließlich den Destabilisierungsbemühungen seitens der
USA, der uneinheitlichen Opposition und gezielten fake news in den sozialen
Medien zuschreiben. Die Jugendlichen hätten sich manipulieren lassen, hätten
dem Gerede von Diktatur geglaubt und seien auf die Straße gegangen. In all
den Gesprächen haben wir nur wenig Selbstkritik in diesen Reihen
wahrgenommen. Es wurde z.B. die Entfremdung zwischen der Jugend und den
alten RevolutionärInnen angesprochen. Der Frente sei es in den vergangenen
Jahren nicht gelungen sei, die Jugend zu erreichen. Wiederholt haben wir
Ärger und Enttäuschung über die GründerInnen der MRS (1) gehört. Diese
hätten die FSLN zum Zeitpunkt verlassen, nachdem die FLSN die Wahlen
verloren hat (was definitiv nicht richtig ist). Außerdem gab es den Vorwurf,
sie hätten als Intellektuelle nicht die Anliegen der Bevölkerung vertreten.
Auf der anderen Seite findet man auch diejenigen, welche die seit Jahren
bestehende Korruption, fehlende Demokratie, fehlende Bereitschaft zu
innerparteilicher Kritik und Auseinandersetzung und viele Fehler von Ortega
und Co als die Hauptursachen für die Proteste sehen. Die Sozial- und
Pensionsreform - und vielleicht auch Demonstrationsverbote für die
GegnerInnen des immer noch geplanten Nicaraguakanals (2) - hätten aus dieser
Sicht nur die schon seit Jahren bestehende Unzufriedenheit zum Explodieren
gebracht.
Und diejenigen, die die Entwicklung so sehen, wehren sich dagegen, von der
Regierungsseite als Rechte angeklagt und verfolgt zu werden. Sie sehen sich
als Linke, die sich eine demokratische Entwicklung wünschen. Sie prangern
verhängte Gefängnisstrafen von 30 Jahren an, nur dafür, an Demonstrationen
teilgenommen zu haben. Und sie haben Angst, Angst davor, ebenso verhaftet zu
werden, wenn sie Kritik äußern. Und sie kritisieren, dass sich die
europäische Solidaritätsbewegung völlig unkritisch an die Seite von Ortega
und Co stellt. Müssen wir uns da auch betroffen fühlen?
Und es gibt sie auch - die Menschen, die nicht ausschließlich die jeweils
Anderen verteufeln, sondern versuchen, die Entwicklung differenzierter zu
sehen. Die, die sich klar als SandinistInnenen deklarieren, aber zugleich
die Hauptverantwortung an der aktuellen Entwicklung in den Versäumnissen und
Fehlern der FSLN in den letzten Jahren sehen. Und die die Schwierigkeit,
Kritik innerhalb der Frente zu äußern, betonen. Wer kritisiert, werde als
FeindIn der FSLN angesehen. Das verunsichert, führt zu großem Misstrauen
untereinander, eine offene Gesprächskultur und Auseinandersetzung über
unterschiedliche Standpunkte ist so nicht möglich.
Eine Frau (3), die wir seit Jahren als konsequente mutige Sandinistin
kennen, antwortete auf die Frage, ob wirklich jemand Angst haben müsse,
Kritik an der Regierungspolitik zu äußern, lakonisch: "No se, con quien
estoy hablando" (Ich weiß nicht, mit wem ich spreche) und stellte überdies
bedauernd fest, dass viele ihrer sandinistischen NachbarInnen sang- und
klanglos auf einmal weggezogen waren.
Wir haben beim Stellen dieser Frage oft das Selbe gesehen, aber verschieden
interpretiert, zum Beispiel, dass sich unsere GesprächspartnerInnen ständig
umgedreht haben. Um festzustellen, ob da wer mithört?
Wir haben aber auch Stimmen aus NGO's gehört, die die Meinung vertraten, die
aktuellen Konflikte seien nicht ihre Konflikte. Vor allem am Land gäbe es
andere Probleme wie Klimawandel, Zugang zu granos basicos (Saatgut für
Grundnahrungsmittel) ohne Abhängigkeit von Monsanto, Gewalt gegen Frauen und
soziale Anliegen, die nicht genug Aufmerksamkeit finden würden. Für sie sei
die Frage der Demokratie (Recht auf freie Meinungsäußerung, Recht auf
Demonstrationen) nicht so im Vordergrund.
Aber es gibt sie auch, die Fortschritte, die das Land in den letzten
Jahrzehnten gemacht hat - ausgebaute Straßen, Stromversorgung im ganzen
Land, kostenloser Schulbesuch, kostenlose Gesundheitsversorgung für alle
zumindest was die Basisversorgung betrifft (aber auch dazu sind die Aussagen
nicht einheitlich) - und natürlich ist das primär das Verdienst der
sandinistischen Regierung. Und es gibt sie nach wie vor, die Projekte für
die Familien, gegen Gewalt an Frauen und für Werteerziehung von Männern und
Frauen, Ausbildungsmöglichkeiten für Erwachsene, und und und .. zum Teil
beeindruckend und berührend.
Und die RegierungsanhängerInnen, die genau diese Fortschritte immer wieder
betonen, versuchen damit, jede mögliche Kritik wegzuwischen, schönzureden.
So als dürfte es nichts Negatives geben, wenn doch so viel Positives
geschaffen wurde.
Aber trifft das nicht zumindest zum Teil auch auf die Solidaritätsbewegung
zu? Auf uns? Es ist einfach schwer zu verstehen und noch schwerer
auszuhalten, dass in diesem Land, das so viele Hoffnungen erfüllt -und noch
mehr geweckt - hat, so vieles schief gelaufen ist, wir andere Vorstellungen
einer demokratischen Entwicklung haben, dass Menschen eingesperrt werden,
weil sie demonstrieren oder einfach nur ihre Meinung offen sagen - und dass
so viele Angst haben.... ?
Denn auch wenn es uns in diesen 4 Wochen sicher nicht gelungen ist, ein
eindeutiges Bild zu bekommen, sicher zu wissen, was im Detail bei den
Protesten und den Straßensperren passiert ist, wer wen bezahlt hat, um
teilzunehmen, wer als erstes zur Gewalt gegriffen hat, usw. - eines ist
sicher: je nach persönlicher Erfahrung gibt es unterschiedliche
Einschätzungen.
Es herrscht große Verunsicherung bei den Menschen im Land, ein großes
Misstrauen anderen gegenüber, Angst und Sorge vor der Zukunft und der
weiteren Entwicklung und zum Teil auch eine spürbare Hoffnungslosigkeit
angesichts der teilweise erlebten Ausweglosigkeit und scheinbar fehlender
Alternativen. Bis hin zur Sorge, dass es zu einem Bürgerkrieg kommen könnte,
gehen hier die Befürchtungen.
"No se, con quien estoy hablando" hat die Sandinistin gesagt, aber auch: "La
Esperanza no llena pero mantiene." (Hoffnung macht nicht satt, aber sie
erhält (eine/n) am Leben)
Es scheint sie also doch noch zu geben - die Hoffnung in dieser verfahrenen
und traurigen Situation....
Die Hoffnung, die diese Frau und viele andere SandinistInnen zum Ausdruck
gebracht haben, ist, dass es die FSLN schafft, Ortega zu überzeugen, für die
nächsten Wahlen nicht anzutreten. Sie meinen auch, es gäbe in der Partei
einige Menschen, die geeignet wären, zu kandidieren, die in der Lage wären,
einen Dialog mit ihren Mitgliedern zu führen und Strukturen zu erneuern.
Bei uns haben die Erfahrungen in dieser Reise viele Diskussionen mit zum
Teil unterschiedlichen und zum Teil auch konträren Sichtweisen bewirkt,
obwohl wir doch gemeinsam seit über 30 Jahren für und mit NicaraguanerInnen
arbeiten.
Sind wir in unserer Sichtweise zu streng? Vielleicht weil die Nicas etwas
geschafft haben, das wir hier in Österreich/Europa nicht geschafft haben -
Revolution, Veränderung des gesellschaftlichen Systems?
Dürfen wir den gleichen Maßstab für demokratische Grundrechte in Nicaragua
anlegen, wie wir es auch in Europa tun? Oder sind die internationalen
Rahmenbedingungen für eine andere Beurteilung von demokratischen
Entwicklungen und deren Möglichkeiten und Spielräumen entscheidend? Wie
insbesondere:
- die Auflagen vom IWF, die Sozialausgaben zu kürzen
- der von der US-Regierung beschlossene NICA-Act, der die Vergabe von
Krediten durch multinationale Finanzorganisationen verhindert, und zwar
unter dem Vorwand, Nicaragua zur Einhaltung der Demokratie und
Menschenrechte zu zwingen
- die deutlich gestiegene Anzahl von süd- und mittelamerikanischen Ländern
mit US-Militärbasen
- die Androhung Nicaragua zu einem zweiten Venezuela zu machen
- die finanzielle Unterstützung bestimmter Oppositionsteile mit 4,1
Millionen Dollar in der Zeit von 2014 bis 2017 durch die USA die wohl auf
die Destabilisierung des sandinistischen Projektes abzielt.
- Im Rahmen der 40. Sitzungsperiode des UN-Menschenrechtsbeirates verwies
Michelle Bachelet (UN-Menschenrechtskommissärin) darauf, dass die Sanktionen
der USA und europäischer Staaten "die sozialen und wirtschaftlichen
Bedingungen verschlimmern". Sie sprach von einer Spirale, in der die
wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten Proteste hervorrufen, welche
wiederum zu repressiven Handlungen und größeren Verletzungen von zivilen und
politischen Rechten führen.
Zugleich fragen wir uns:
- Dürfen wir kritisieren, dass eine Partei, die es bei einer Wahl nicht
schafft, in die Asamblea (4) gewählt zu werden, per Gesetz der Parteistatus
entzogen wird?
- Dürfen wir das rigide Abtreibungsgesetz kritisieren? (5)
- Dürfen wir die Piñata (6) und den berüchtigten Pacto (7) zwischen Alemán
und Ortega kritisieren?
- Dürfen wir kritisieren, dass Ortega die Verfassung so hinbiegen lässt,
dass er gegen die Erfahrungen, vor allem auch in lateinamerikanischen
Ländern, sich immer wieder wählen lassen kann?
- Dürfen wir kritisieren, dass zwar Gesetze zum Schutz der Frauen vor Gewalt
beschlossen werden, aber Frauenkommissariate gleichzeitig geschlossen
werden, da keine Mittel dafür bereitgestellt werden?
- Oder ist es nicht sogar unsere solidarische Pflicht, das zu tun?
An diesen Fragestellungen gehen auch unsere Meinungen auseinander. Während
die einen meinen, dass die Rahmenbedingungen keine Entschuldigung sind für
die seit Jahren zu beobachtende Missachtung demokratischer Grundsätze,
meinen andere, dass unsere laute Kritik dazu führen könnte, jene Kräfte zu
stärken, die das Rad zurückdrehen und Nicaragua jede Souveränität absprechen
wollen. Einig sind wir uns aber, dass wir uns ausführlicher und kritischer
mit den Entwicklungen in Nicaragua auseinandersetzen müssen, als wir es
bisher gemacht haben.
Trotz allem und gerade deswegen: fahrt nach Nicaragua, redet mit den Leuten,
macht euch euer eigenes Bild und bleibt in Kontakt mit dem Land und seinen
Menschen! Auch wenn unsere Wunschvorstellungen und Visionen in Nicaragua
nicht erfüllt wurden und werden, gibt es nach wie vor - und trotz der
Konflikte - enormes Engagement und viele innovative Projekte. Durch die
langjährigen Beziehungen mit der Solidaritätsbewegung besteht eine große
Offenheit, dieser lebendige Austausch ist für beide Seiten eine große
Bereicherung.
P.S. Wir sind am 8. Februar aus Nicaragua zurückgekehrt und haben lange
gebraucht, bis wir uns auf diesen Artikel geeinigt haben. Und jetzt gibt es
sie wieder die Demonstrationen (wie uns gesagt wird friedliche) und es gibt
sie wieder, die Verhaftungen von DemonstrantInnen. ###
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(1) MRS, Movimiento de Renovación Sandinista (deutsch: Bewegung der
sandinistischen Erneuerung) ist eine linksgerichtete Partei in Nicaragua.
Sie wurde 1995 von ehemaligen Mitgliedern der traditionellen
Sandinistenpartei FSLN gegründet, da sie die Politik der FSLN, der sie einen
Verrat der sandinistischen Ideen vorwarfen, nicht mehr mittragen wollten. Zu
den Unterstützern des MRS gehören oder gehörten zentrale Figuren der
sandinistischen Bewegung, wie Sergio Ramírez, dem ehemaligen Vizepräsidenten
und Kulturminister, Ernesto Cardenal, der durch sein Projekt auf Solentiname
weltweit bekannt geworden ist und auch die Schriftstellerin Gioconda Belli.
(2) Dass der Waldbrand in Indio de Mais, das auf einer der geplanten Routen
des Nicaraguakanals liegt, trotz angebotener Hilfeleistung von Costa Rica
und Mexiko erst nach einer Woche bekämpft worden ist, war natürlich auch
Anlass für diverse Spekulationen.
(3) So unterschiedlich auch unsere Einschätzungen ausgefallen sind: In einem
Punkt sind wir uns einig: Wir werden in diesem Artikel keine Namen von
Menschen nennen, die eine kritische Haltung zur Politik der Regierung
geäußert haben.
(4) Das nicaraguanische Parlament
(5) In Nicaragua ist die Abtreibung ausnahmslos verboten
(6) Unter Piñata, eigentlich ein beliebter Brauch, bei dem auf ein mit
Zuckerln gefüllter geschmückter Tonbehälter so lange eingedroschen wird, bis
er zerbricht, worauf sich die Kinder auf die herausfallenden Zuckerln
stürzen, wird im politischen Zusammenhang, die Aneignung von beschlagnahmter
Besitztümer nach der Revolution 1979 durch hohe FSLN-Funktionäre verstanden.
(7) Unter dem Pacto wird ein Abkommen zwischen Ortega, dem Chef der FSLN und
aktuellem Präsidenten und Aleman, ehemaliger Präsident von Nicaragua
verstanden, bei dem sich die beiden politischen Gegner unter anderem darauf
geeinigt haben, von strafrechtlichen Verfolgungen (bei Aleman war es
Korruption, bei Ortega der Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs) abzusehen.
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