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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Donnerstag, 18. April 2019; 03:59
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Initiativen/International:

> Durch die Wüste

Die Initiative Alarmphone Sahara

Afrika ist immer noch der "dunkle Kontinent" -- zumindest, wenn man sich die
Berichterstattung hierzulande ansieht. Nachrichten aus Afrika beschränken
sich meist auf Nordafrika, also den großteils arabisch-islamischen Raum. Da
geht es dann meistens darum, daß man sich um die Stabilität von autoritären
Regierungen sorgt, damit diese in der Lage sind, Flüchtlinge aus dem Süden
davon abzuhalten nach Europa zu kommen. Daneben sind dann noch islamische
Fundamentalisten in der Region ein Thema. Oder wie es österreichischen
Soldaten in Mali geht -- warum die dort sind und was die dort so treiben,
ist schon wieder weniger wichtig.

Der "Rest", also das subsaharische Afrika, wird generell als eine Einheit
verstanden, das ist die Gegend, wo die afrikanischen Flüchtlinge und
Migranten ursprünglich herkommen. Für den durchschnittlichen Mitteleuropäer
schaut die Landkarte Afrikas immer noch so aus, wie man sie vom Spiel
"Risiko" kennt.

Daher verwundert es auch nicht, daß sich in Mitteleuropa kaum jemand dafür
interessiert, wie es Menschen geht, die sich aus beispielsweise Nigeria,
Südsudan oder Somalia Richtung Norden aufmachen. Außer vielleicht ein paar
NGOs. Eine davon ist "Alarmphone Sahara" (ASP), ein Projekt von
Afrique-Europe-Interact, die wir hier mit einem Zusammenschnitt einiger
ihrer Berichte zu ihrer Arbeit und der Transmigrationssituation in der Wüste
vorstellen möchten.

*

Unser letztes Koordinationstreffen fand im Februar in Agadez statt -- in
jener zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörenden Handelsstadt am Südrand der
Sahara, die sich in den letzten Jahren zu einem der Hotspots des
europäischen Migrationsregimes entwickelt hat. Das Alarmphone Sahara ist in
vielerlei Hinsicht Neuland, ablesbar daran, dass es kaum politische
Strukturen gibt, auf die sich das Projekt ernsthaft stützen könnte.
Beteiligt sind bislang rund 40 AktivistInnen in Niger, Mali, Burkina Faso,
Togo, Marokko, Deutschland und Österreich. Es geht vor allem um drei
Zielsetzungen: erstens die Situation auf den Wüstenrouten
öffentlichkeitswirksam zu dokumentieren, zweitens den MigrantInnen und
Geflüchteten nützliche Informationen für die Wüstendurchquerung zur
Verfügung zu stellen, und drittens Rettungseinsätze zu initiieren bzw.
selber durchzuführen. Zur Planung und Koordination treffen sich Delegierte
des Alarmphone Sahara regelmässig an unterschiedlichen Orten - im Februar
2019 bereits zum dritten Mal in Agadez.


Agadez - ein Migrationshotspot

Durch die seit knapp zwei Jahren massenharten Rückschiebungen von
Migrant-inn-en aus Algerien und Libyen ist Agadez derzeit von Menschen
überlaufen, die vor der Wahl stehen, sich von der International Organisation
of Migration (IOM) nach Hause bringen zu lassen oder in Agadez zu warten,
bevor sie einen weiteren Migrationsversuch Richtung Norden unternehmen. Die
rückgeschobenen Migrant-inn-en werden vor allem von Algerien am =ABPoint Zero=BB
abgesetzt, einem sogenannten Punkt Null an der algerisch-nigrischen Grenze
nördlich von Arlit (bei dieser Gruppe handelt es sich vor allem um
Migrant-inn-en, die bei Razzien in Algerien oder Libyen festgenommen
wurden). Von dort müssen sie 15 Kilometer zu Fuss nach Assamaka gehen (die
erste Stadt auf nigrischer Seite), was in der Wüste eine gewaltige und somit
hochgradig gefährliche Distanz ist, wobei hinzugefügt sei, dass inzwischen
auch die IOM und Medecins sans Frontieres (Ärzte ohne Grenzen) die zu
Hunderten am Point Zero ausgesetzten Menschen mit Bussen abholen und nach
Agadez bringen -- allerdings nicht alle (zu denjenigen, die nicht abgeholt
werden, gehören z.B. Personen, die psychisch erkrankt sind und sich
auffällig verhalten). Interessant ist nun zweierlei: Viele der
rückgeschobenen Migrant-inn-en betrachten das lOM-Center in Agadez als eine
Möglichkeit, sich auszuruhen, medizinisch versorgen zu lassen und wieder zu
Kräften zu kommen, um sodann einen abermaligen Migrationsversuch zu
unternehmen. Hierzu gehört auch, dass nicht wenige von ihnen als
Billigarbeitskräfte angestellt werden und somit für die ebenfalls extrem
armen Bewohnerinnen von Agadez zur Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt geworden
sind, was wiederum Proteste der lokalen Bevölkerung ausgelöst hat.

Diese zurückgeschobenen Migrant-inn-en sind von einer weiteren Gruppe zu
unterscheiden: AsylbewerberInnen (vor allem aus dem Sudan, Eritrea und
Somalia), die in Niger einen Asylantrag beim UN-Flüchtlingskommissar
stellen, in der Hoffnung, von einem der reichen Industrieländer im Rahmen
des sogenannten UN-Resettlement-Verfahrens direkt aufgenommen zu werden.
Diese AsylbewerberInnen sind entweder von der IOM aus Libyen ausgeflogen
worden (nachdem sie in Libyen oder auf Booten im Mittelmeer festgenommen
wurden) oder sie waren auf ihrem Weg Richtung Norden (via Niger), bevor sie
von den Behörden dazu gedrängt wurden, in Niamey oder in einem 15 Kilometer
von Agadez entfernten UNHCR-Flüchtlingslager einen UNHCR-Asylantrag zu
stellen. Hinzu kommen schliesslich nigrische Binnenmigrant-inn-en, die z.B.
aus Zinder oder Maradi im Südosten des Landes stammen und traditionell
subalterne Arbeiten verrichten und häufig unter noch prekäreren Bedingungen
leben als die ansässige Bevölkerung von Agadez.


Zynismus der Europäischen Migrationspolitik

Ihr seht: Nicht nur die Sicherheits-, sondern auch die Migrationsfrage ist
differenziert. Ausserhalb von Agadez leben die Transitmigrant-inn-en, die
sich verstecken müssen, und die AsylbewerberInnen, die in einem
Flüchtlingslager einen Asylantrag gestellt haben. Demgegenüber halten sich
innerhalb der Stadt die aus Algerien und Libyen abgeschobenen Migrant-inn-en
auf (vor allem aus West- und Zentralafrika), die von der IOM versorgt werden
und ungleich weniger Geld in der Stadt lassen als früher die =ABnormalen=BB
Transitmigrant-inn-en. Im lOM-Center in Agadez landen auch jene
Geflüchteten, die innerhalb des Nigers von Sicherheitskräften aufgegriffen
oder in der Wüste gerettet wurden.

Bei dieser Betrachtung wird einem der Zynismus der Europäischen
Migrationspolitik umso klarer. Das reiche Europa streitet regelmässig
darüber, wie einige dutzend, hundert oder tausend Migrant-inn-en oder
Geflüchtete europaweit aufgenommen werden können und baut gleichzeitig in
Agadez -- d.h. in einer Stadt, die in einem der ökonomisch ärmsten Länder
der Welt liegt -- einen Hotspot für Migrant-inn-en und Geflüchtete auf mit
lOM-Rückschiebungen und UNHCR-Asylanträgen. Im selben Zug werden jene
Migrant-inn-en aus der Stadt gedrängt, die der Bevölkerung bis vor zwei
Jahren ein gewisses Auskommen beschert haben. Kurzum:

Agadez ist einer jener Orte, wo Europa seine Werte verrät und sich dabei
auch als hochgradig heuchlerisch präsentiert.

Interessant ist, dass es hier kaum Dinge gibt, die materiellen Wohlstand
signalisieren, d.h. die ökonomische Marginalisiertheit der Region scheint
mit Händen greifbar - und das, obwohl Agadez Hauptstadt der gleichnamigen
Region Agadez ist, die seit Jahrzehnten die Elektrifizierung Frankreichs
gewährleistet, allerdings zu spotbilligen Uranpreisen.

Interessant ist auch, dass die ökonomische Marginalisiertheit ganz
offensichtlich mehrere Abstufungen kennt: Hier stehen lediglich Hütten aus
Planen -- einfach, weil die Menschen nicht über die finanziellen Mittel
verfügen, richtige Häuser zu errichten (teils handelt es sich um
Mieterinnen, die in den von Mauern umfassten Grundstücken ihre Verschläge
bauen, teils um die Besitzer dieser Grundstücke herum, die aber kein Geld
für den Bau von Häusern auf ihren Grundstücken haben). Zudem sind wir
während unserer Tour auch am IOM-Zentrum vorbeigekommen, wo die
Rückgeschobenen bzw. in der Wüste aufgegriffenen Migrant-inn-en unterkommen.
Das Zentrum ist ganz offensichtlich überfüllt, entsprechend hielten sich in
den Strassen um das Zentrum Hunderte junger Migrant-inn-en auf, auch vor
zahlreichen kleinen Ständen und Geschäften, die sich rund um das Zentrum
angesiedelt haben. Auch dies hat anschaulich gezeigt, dass die Hotspot-Logik
in Agadez zu greifen begonnen hat, also jener Mechanismus, der vorzieht,
dass sich Migrant-inn-en und Geflüchtete an speziellen Orten ausserhalb oder
an den Rändern der EU zu stauen beginnen -- ob auf der griechischen Insel
Lesbos, in libyschen Geheimlagem oder eben Agadez.


Entstehung des Alarmphones Sahara

Das Alarmphone Sahara (APS) wurde im Januar 2017 auf Initiative malischer
Aktivist-inn-en von Afrique-Europe-Interact gegründet. Das Projekt versteht
sich als Erweiterung des Watch The Med Alarmphones, einem seit Oktober 2014
rund um die Uhr besetzten Notrufs für Migrant-inn-en bzw. Geflüchtete in
Seenot, an dem Aktivist-inn-en von Afrique-Europe-Interact ebenfalls
beteiligt sind (https://alarmphone.org/de/). Konkret geht es dem APS um drei
Dinge: erstens zu dokumentieren, wie, auf Druck der EU, Migrant-inn-en und
Geflüchtete seit September 2016 auch in der Wüste buchstäblich gejagt
werden, was dazu führt, dass immer mehr Schlepper auf unbekannte Nebenrouten
ausweichen, was wiederum die Zahl der Toten in der Wüste enorm nach oben
treibt. Zweitens: Vermitteln von praktischen Informationen an
Migrant-inn-en, um ihre Reise durch die Wüste sicherer zu machen. Drittens:
Rettung von Migrant-inn-en bzw. Geflüchteten, die in der Wüste in Not
geraten sind sei es, weil ihr Auto eine Panne oder einen Unfall hatte, sei
es, weil sie von Schleppern ausgesetzt wurden, was oft vorkommt, wenn
Polizei auftaucht und die Schlepper sich aus dem Staub machen.

Gewiss, alle drei Ziele klingen plausibel, sind aber schwierig umzusetzen:
In der Wüste gibt es keine Wüstenwachen (analog zu Küstenwachen), zudem sind
jenseits der Hauptrouten kaum Autos unterwegs, die helfen könnten (anders
als auf dem Meer, wo es ganz verschiedene Schiffe gibt, die zumindest
theoretisch retten können). Des Weiteren sind insbesondere jene Teile der
Sahara, durch die Migrant-inn-en fahren, umkämpfte, zum Teil auch gesperrte
Gebiete (u.a. der Norden Malis, der Süden Algeriens, der Norden des Tschad
und grosse Teile Nigers). Hinzu kommt, dass die Wüste ungleich gefährlicher
als das Meer ist, halbwegs sicher können sich dort nur Menschen bewegen, die
in der Wüste leben (die sich also Sandkorn für Sandkorn orientieren können).
Schliesslich gibt es in dieser Weltregion keine zivilgesellschaftlichen bzw,
bewegungspolitischen Netzwerke, auf die das Alarmphone Sahara aufbauen
konnte. Vielmehr sind wir im Rahmen des APS gezwungen, solche Strukturen
überhaupt erst zu schaffen, wobei derzeit Aktivist-inn-en insbesondere in
Niger, Mali, Togo, Marokko, Deutschland und Österreich beteiligt sind. Mit
Gruppen und Einzelpersonen aus Libyen, Algerien und Burkina Faso bestehen
vorläufig nur Kontakte.

Zurück zur Geschichte unseres Netzwerks: Begonnen hat es im Februar 2017 mit
einem Gründungstreffen in Niamey, seitdem gab es drei weitere Treffen; eines
in Ouagadougou und zwei in Agadez. Sämtliche dieser Treffen waren
instruktiv, und doch hat sich der Networking-Prozess als vergleichsweise
kompliziert erwiesen, unter anderem, weil sich viele der beteiligten
Organisationen und Netzwerke bislang kaum kannten. Hinzu kommt, dass
Organisierungsprozesse in Westafrika ohnehin extrem kompliziert sind (ganz
zu schweigen von der Wüste) -- nicht nur wegen der schwierigen
Rahmenbedingungen, sondern auch deshalb, weil die meisten der beteiligten
Aktivist-inn-en auch persönlich mit prekären Lebensbedingungen zu kämpfen
haben. Vor diesem Hintergrund ging es beim diesmaligen Treffen
schwerpunktmässig darum, die bislang aufgebauten Strukturen zu konsolidieren
und überall dort nachzujustieren, wo Dinge noch unklar bzw. offen waren.


Die Aktivitäten

Beteiligt waren an diesem Treffen insgesamt 16 Personen bzw. Delegierte:
zwei aus Mali, eine Person aus dem Togo, eine aus Marokko, fünf aus
Deutschland und Österreich sowie neun Personen aus Niger - darunter vier
=ABStreckenbeobachterInnen=BB, die an verschiedenen Orten des nigrischen Teils
der Sahara leben. Entsprechend haben wir am ersten Tag an der internen
Struktur des Alarmphone Sahara gearbeitet (Aufgabenverteilung,
Kommunikations- und Entscheidungsprozesse etc.), während an den beiden
anderen Tagen unsere konkreten Aktivitäten im Mittelpunkt standen -- nicht
nur in Niger, sondern auch in den anderen Ländern.

Was die ins Auge gefassten Aktivitäten betrifft, sei vor allem dreierlei
hervorgehoben: Seit geraumer Zeit finden regelmässig Massenabschiebungen
insbesondere an die mitten in der Wüste gelegene algerisch-nigrische Grenze
statt. Das APS will daher zukünftig stärker an diesem Ort aktiv sein, auch
um die Behörden unter Druck zu setzen, die hiermit verbundenen
Misshandlungen abzustellen -- ganz abgesehen davon, dass solche
Abschiebungen aus Sicht des APS eine Menschenrechtsverletzung darstellen und
sowieso schnellstmöglich aufhören müssen. Zweitens ging es um die Frage, ob
und wie wir in der Region Dirkou (das ist ca. 1000 Kilometer nordöstlich von
Agadez) Rettungseinsätze organisieren können. Drittens haben wir über
unterschiedliche Möglichkeiten geredet, Migrant-inn-en zu sensibilisieren,
d.h. besser auf die Reise durch die Wüste vorzubereiten. Denn Fakt ist, dass
diejenigen, welche sich für die Migration entschieden haben, nicht von ihrem
Ziel abgebracht werden können und sollen. Nicht nur, weil Bewegungsfreiheit
ein -- insbesondere von afrikanischer Seite betontes --Menschenrecht ist,
sondern auch, weil die von Akteur-inn-en wie der EU oder der IOM
unternommenen Anstrengungen, die Migrant-inn-en zur Rückkehr zu bewegen,
erfahrungsgemäss im Wind verhallen. Insofern konzentriert sich das
Alarmphone Sahara darauf, die Migrant-inn-en mit praktischen Informationen
auszustatten - sei es über unser Büro in Agadez (was auch als Anlaufpunkt
dient), sei es über einen von malischen Aktivist-inn-en erstellten Flyer aus
Text und Bildern, der demnächst sowohl in Agadez, als auch auf den grossen
Busbahnhöfen in Bamako, Gao oder Ouagadougou verteilt werden soll.
(Olaf Bernau, Afrique-Europe-Interact;
Aus: Archipel, Zeitschrift des Europäischen BürgerInnenforums, April 2019 /
bearb.)


Mehr Informationen zum Alarmphone Sahara finden sich auf der Webseite von
Afrique-Europe-Interact. Das Projekt ist dringend auf Spenden angewiesen.
https://afrique-europe-interact.net

EBF: https://www.forumcivique2.org



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