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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 16. Januar 2019; 19:20
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Lateinamerika:
> Politik als Heilsversprechen
Der Wahlerfolg von Jair Messias Bolsonaro in Brasilien
33 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur gewann am 28. Oktober 2018 ein
Mann die Präsidentschaftswahlen in Brasilien, der offen für Folter,
Verfolgung Andersdenkender und Abschaffung der Demokratie eintritt: Jair
Messias Bolsonaro. Sein Sieg ist ein warnendes Lehrstück für das rasche
Kippen vermeintlich stabiler Demokratien. Er beruht auf einem Zusammenspiel
von kollektiver Unzufriedenheit mit der Regierung, von religiöser
Indoktrination, verfehlter Geschichtspolitik und aggressiver Wahlkampfhetze
über soziale Medien, schildert Ursula Prutsch für Lateinamerika Anders.
Nach zehn Jahren des Wirtschaftsaufschwungs unter Luiz Inacio Lula da Silva
und eines neuen nationalen Selbstbewusstseins bedeuteten die Massenproteste
gegen die Fußballweltmeisterschaft 2013 eine Zäsur. Sie mahnten die
nachhaltige Finanzierung von Bildungsstätten und Krankenhäusern statt
korruptionsgesteuerter Sportevents ein. Die wenig konsensorientierte Dilma
Rousseff vermochte durch ihren ökonomischen Zick-Zack-Kurs die Krise nicht
abzufedern. Da Brasiliens Wirtschaft zu 30 Prozent von Primärgütern abhängt
und die Preise fielen, stürzte das Land in den folgenden Jahren in die
schwerste Rezession seit 1929. Dreißig bis vierzig Millionen Menschen, die
von der Regierung Lula aus der bittersten Armut geholt worden waren, fielen
wieder dorthin zurück. Sie konnten die in Boom-Jahren aufgenommenen und zu
leicht gewährten Kredite nicht mehr zurückzahlen. Elend und Arbeitslosigkeit
führten zu neuen Wellen der Gewalt, gerade in den städtischen Armenvierteln.
Allein 2017 wurden fast 64.000 Menschen ermordet.
Rassismus als Konstante
Wenn die Demokratie in den USA auch eine unvergleichlich längere Tradition
als die in Brasilien hat, kann man die jüngsten Entwicklungen in beiden
Staaten gut miteinander vergleichen. Beide waren jahrhundertelang
Sklavenhalter-Gesellschaften mit einer weißen Elite und ihrem festgefügten
Glauben an eine "natürliche ethnische Ordnung". Die
Vergangenheitsbewältigung zum Thema Sklaverei ist dürftig. Rassismus und
Diskriminierung sind tief verankert. Barack Obama und Lula rüttelten durch
ihre Lebensgeschichten und ihre Ermächtigungspolitik gegenüber
Afro-AmerikanerInnen und anderen Minderheiten an dem überlieferten Gefüge.
Beide weckten damit große Erwartungen und konnten sie nur bedingt erfüllen.
Beide unterschätzten die Strategien der rechten Opposition und die
Nachwirkungen der Weltwirtschaftskrise.
Brasiliens dominant weiße Mittelschicht, die trotz hoher Steuerleistungen
schlechte öffentliche Einrichtungen und staatliche Dienstleistungen bekommt,
hatte in den Boom-Jahren durch die aufstrebenden Unterschichten Konkurrenz
auf dem Arbeitsmarkt erhalten. Durch die Krise drohte auch ihr nun der
soziale Abstieg. Auch die elitäre obere Mittelschicht hatte sich durch die
gesetzlich angehobenen Mindestlöhne der Lula-Zeit für (meist dunkelhäutige)
Hausangestellte provoziert gefühlt. Diese hatten plötzlich exklusive Räume
wie Shopping-Center oder Flugzeuge betreten, die den Wohlhabenden lange
vorbehalten waren. Rückwärtsgewandt sehnten sich Mittel- und Oberschicht
nach den "guten alten Zeiten natürlicher Hierarchien" zurück.
Ex-Hauptmann Bolsonaro verstand es, die tiefen Frustrationen aller Schichten
zu bündeln. Deshalb gewann er nicht nur in den Großstädten, sondern auch in
den wohlhabenden Südstaaten, die bei weiten nicht so gewaltgeprägt sind wie
die Metropolen. Bolsonaro gewann außerden nicht nur bei jenen, die
mangelhaft lesen und schreiben können, sondern auch bei "gebildeten"
Brasilianern, vor allem, wem sie männlich und weiß sind. Geschickt verkaufte
er sich als moralischer Außenseiter gegen das korrupte Establishment, obwohl
er seit 27 Jahren Kongressabgeordneter ist, acht Mal die Partei wechselte
und illegal von willfährigen Unternehmen WhatsApp-Adressen für seine
Wahlkampfkampagni erwarb. Er punktete mit der Botschaft, alle seien korrupt,
nur er habe eine weiße Weste.
Alte Ordnungen verspricht der Ex-Hauptmann mit Gewalt wiederherzustellen. In
der Vergangenheit war er regelmäßig durch menschenverachtende Aussagen
gegenüber Frauen, Schwarzen, Indigenen und Homosexuellen aufgefallen Drei
Themen prägten seine Arbeit im Abgeordnetenhaus über zwei Jahrzehnte: die
Angst vor dem Kommunismus, die "Verweichlichung" der Gesellschaft durch
liberale Identitätspolitik und die Ablehnung der Demokratie - er hält sie
für die Tyrannei der Mehrheit.
Bolsonaro repräsentiert die überparteiliche Fraktion der "biblia, boi e
bala" im Kongress, das heißt die Agrar- und Waffenlobby sowie die
evangelikaien Pfingstkirchen, die sich in Brasilien rasant ausbreiten. Er
will Brasiliens strenge Waffengesetze lockern, weshalb ihn die Drogenmafia
und die rechten Republikaner in den USA unterstützen. Unterstützer
Bolsonaros finden sich verstärkt auch in den Streitkräften, den
Polizeiapparaten und unter konservativen Richtern. Er will Einsparungen im
Bildungs- und Gesundheitsbereich fortführen, obwohl die Kindersterblichkeit
und Krankheiten wie Malaria und Syphilis wieder deutlich angestiegen sind.
Den "Chicago Boy" Paulo Guedes engagierte Bolsonaro als Wirtschaftsberater.
Guedes, der künftige Wirtschaftsminister, gehört zum libertären Institute
Millenium, einem Think Tank des US-amerikanischen Atlas Network, das
mittlerweile achtzig neoliberale Denkfabriken in Lateinamerika unterhält.
Machtfaktor Evangelikaie Kirchen
"Brasilien über alles und Gott über allen" hieß der Wahlslogan Bolsonaros.
Jahrzehntelang war Bolsonaro Katholik. Vor kurzem verbündete er sich mit
Edir Macedo, dem Bischof der Igreja Universal do Reino de Deus. Der
Milliardär zählt etwa vierzig TV-Kanäle und Radio-Stationen sein Eigen. Die
Pfingstkirchen wie die Igreja Universal do Reino de Deus und die Assembleia
de Deus sind medial hochprofessionell aufgestellt und haben längst die
sozialen Medien wie WhatsApp für sich entdeckt, das in Brasilien sehr
verbreitet ist. Bolsonaro setzte von Beginn an auf soziale Medien, weil der
offizielle Wahlkampf in Brasilien kurz und in den traditionellen Medien
genau geregelt ist, im Netz allerdings nicht. Er gehört der numerisch
bislang unbedeutenden Sozialliberalen Partei (PSL) an. Den Kleinparteien
werden im Wahlkampf dreimal pro Woche lediglich acht Sekunden Parteiwerbung
in Radio und Femsehen zugestanden. In dieser Zeit kann man kein Programm
erklären. Wie der Wahlkampf von Trump zeigte auch jener von Bolsonaro: Wer
die sozialen Medien zu beherrschen weiß und sich dabei an keine ethischen
Kriterien hält, hat gute Chancen zu gewinnen.
Fünfzig Millionen evangelikaler Brasilianerinnen erhielten vor dem ersten
Wahlgang den Befehl ihrer Kirchen, Jair Messias Bolsonaro zu wählen, weil
Lula der Satan und die Apokalypse nah sei. Verknüpft war diese Anweisung mit
jenseitigen Behauptungen, die als Fake News in den sozialen Medien
verbreitet wurden, etwa, dass Lula 50 Stiere habe opfern lassen, um Satan
für seine Wahl gnädig zu stimmen. Solche Botschaften mögen absurd klingen.
Sie wurden jedoch von vielen Anhängerinnen der Pfingstkirchen für bare Münze
genommen. Das Messerattentat auf Bolsonaro machte ihn für sie zum Märtyrer
in einer biblischen Schlacht.
Diktaturnostalgie und Wunsch nach starker Führung
Bolsonaro gewann, weil viele Brasilianerinnen die Demokratie nicht
vorbehaltlos verteidigen. Dabei mag bei manchen älteren WählerInnen eine
Diktatur-Nostalgie eine Rolle gespielt haben. 21 Jahre lang war Brasilien
eine Militärdiktatur. Da im Vergleich zu Chile und Argentimen "nur" zwischen
400 und 900 Menschen ermordet wurden, traten die wenigen Bemühungen um
Vergangenheitsbewältigung nie ins kollektive Gedächtnis. 2011 war zwar eine
Wahrheitskommission zur Aufklärung der Verbrechen während der
Militärdiktatur gegründet worden, aber nach heftigen internen Debatten
setzte man den Untersuchungszeitraum zwischen 1946 und 1988 fest und
verwässerte dabei den Zeitraum der Diktatur,
Viele Menschen tun sich offenbar aus Ignoranz oder politischer Unbildung
schwer, zwischen Diktatur und Demokratie zu unterscheiden. Brasilianerinnen
halten sich selbst oftmals für undiszipliniert. In Bolsonaro glauben sie
eine Führerfigur gefunden zu haben, die sie lenkt, ihnen Entscheidungen
abnimmt und das Land "reinigt". Die Metapher der Reinigung war in den
Diskursen des Wahlkampfs oftmals zu hören.
Dass Bolsonaro zum dritten Mal verheiratet ist und während seiner
Militärzeit wegen undisziplinierten Verhaltens verurteilt wurde, wird ihm -
ähnlich wie bei Trump - großzügig verziehen. Wie sein US-amerikanisches
Vorbild versteht er mittels reduzierter und provokanter Sprache zu
unterhalten. Via Facebook-Live-Stream trat er mit AnhängerInnen in Kontakt
und simulierte den direkten Dialog. Er ließ sich in Alltagssituationen
filmen und vermittelte seinen Unterstützerinnen, einer von ihnen zu sein. Es
gelang ihm, selbst menschenverachtende Positionen hinter verharmlosenden
Bemerkungen zu verstecken, um sich davon - wenn nötig - distanzieren zu
können. Wie Trump macht er sich über Schwache lustig und rächt sich, wenn
die Ironie und der Witz der Anderen ihn selbst treffen.
Unfreiwillige Wahlhilfe der PT
Jair Bolsonaro kam freilich zugute, dass die Arbeiterpartei PT seit zwei
Jahren in einer Schockstarre verharrt und nicht einmal in Ansätzen
Selbstkritik übte. Einer der größten Korruptionsskandale der letzten
Jahrzehnte fand schließlich während ihrer Regierungszeit statt. Fernando
Haddad, der ehemalige erfolgreiche Bürgermeister von Säo Paulo und Lulas
Ersatzkandidat, war einer der wenigen, der eine Selbsterneuerung der PT
einmahnte. Dafür erntete er bei einigen in der Partei Kritik. Statt
längerfristig einen alternativen Kandidaten zu Lula aufzubauen, hoffte die
PT bis zuletzt auf die erfolgreiche Kandidatur des charismatischen
Polit-Stars. Dem intellektuellen und bedächtigen Haddad blieben nur ein paar
Wochen Zeit. Er musste Lula sein und sollte sich doch von ihm
unterscheiden - ein schwieriges Unterfangen. Dass Femando Haddad in so
kurzer Zeit 45 Prozent der Stimmen erreichte, zeigt, dass er einen guten
Wahlkampf führte und über 47 Millionen Wählerinnen wussten, was auf dem
Spiel stand.
Die Entscheidung Lulas, die Kommunistin Manuela D'Avila als
Vizepräsidentschaftskandidatin Haddad zur Seite zu stellen, war in
ideologischer Hinsicht problematisch und ein strategischer Fehler - noch
dazu in einem aggressiven Wahlkampf, in dem die PT von ihren Gegnerinnen
pauschal und fälschlich als linksextrem verunglimpft wurde. Die Aussagen D'Avilas,
die wie Haddad aus einem südbrasilianischen universitären Umfeld kommt, in
der TV-Sendung Roda Viva Ende Juni war gerade auch in diesem Kontext
kontraproduktiv.
So hatte sie auf Fragen der Journalistinnen, warum sich der stalinistische
Flügel der Kommunistischen Partei nie von Staaten wie Nordkorea oder
Venezuela distanziert hat, nur ausweichend geantwortet. Sie verwies auf die
Fröhlichkeit des brasilianischen Volkes, das Samba und Fußball liebe, und
deshalb Sozialismus in Brasilien anders sei.
Bolsonaro nützte hingegen die letzten vier Jahre für einen verleumderischen
Kreuzzug, der die Arbeiterpartei insgesamt zur kommunistischen Bedrohung
hochspielte und einen Kalten Krieg imaginierte. Dabei gelang es ihm, die
Erinnerung an die erfolgreichen Jahre unter Lula zu überlagern und so zu
tun, als sei die PT seit 2016 noch immer in der Regierung. Darin wurde er
von den Mainstream-Medien, von Unternehmen und der Regierung Temer
unterstützt. Die tiefen politischen Gräben, die sich seit 2016 durch
Institutionen und Familien ziehen, verstand Bolsonaro noch mehr zu
vergrößern. Dabei blieb es nicht bei einer Feindrhetorik. Die
Auseinandersetzungen hatten bereits vor der Wahl Tote und Verletzte zur
Folge. In Rio de Janeiro zerbrach ein Abgeordneter der PSL mediengerecht die
Gedenkplakette für die im März ermordete lesbische, schwarze Politikerin
Marielle Franco.
Rechtsruck auf allen Ebenen
2018 war ein sogenanntes "Superwahljahr". Alle 27 Gouverneure, das gesamte
Abgeordnetenhaus, zwei Drittel des Bundessenats und 1024 Abgeordnete der
Einzelstaatsparlamente standen zur Wahl. Die Ergebnisse machen den
Rechtsruck deutlich; Bolsonaros Partei PSL gewann in Rondonia und in
Roraima, in das seit 2015 etwa 40.000 Venezolanerinnen geflüchtet waren. Im
Bundesabgeordnetenhaus ist sie die zweitstärkste Partei. In Rio de Janeiro
stellt die christlich-soziale Partei PSC den Gouverneur. Die neoliberale
Partei MDB gewann den Gouverneursposten in zwei Nordstaaten und im
Bundesdistrikt Brasilia, die Mitte-Rechts-Partei PSDB in Säo Paulo, Mato
Grosso do Sul und Rio Grande do Sul. Die Arbeiterpartei PT stellt noch in
ihrem traditionellen Einflussbereich, in Rio Grande do Norte, Ceara und
Piaui sowie in Bahia die Gouverneure.
Bolsonaro wird in den nächsten Jahren kritischen Medien und Intellektuellen
das Leben schwer machen. Noch vor dem zweiten Wahlgang führte die
Bundespolizei im Auftrag der Wahlaufsichtsbehörde an 15 Universitäten
Hausdurchsuchungen durch. Sie ließ Plakate, die etwa die Aufschrift "Gegen
Faschismus. Für Demokratie" trugen, mit dem Argument entfemen, dass dies
Wahlwerbung sei. PolitikerInnen seiner Partei haben bereits Schülerinnen und
Studierende dazu aufgerufen, Vorlesungen aufzunehmen und kritische
Äußerungen gegen den designierten Präsidenten an die Behörden weiterzugeben.
Dabei soll es nicht bleiben. Bolsonaro plant, die in Brasilien verbreitete
kritische Pädagogik von Paulo Freire, die Befreiung von Unterdrückung, zu
zerstören und durch ein autoritäres und autoritätsgläubiges System zu
ersetzen. Ebenso soll die Evolutionstheorie dem Kreationismus weichen. Damit
will er seine evangelikale Wählerschaft belohnen.
Die Linke muss sich neu formieren
Minderheitenrechte, Umweltschutz und soziale Umverteilung werden in den
nächsten Jahren keinen Raum in der Politik haben. Indigene Territorien
werden bedroht, das fragile ökologische Gleichgewicht des Amazonas-Raums
wird wieder massiv verletzt werden. Dass weltanschauliche und soziale
Unterschiede noch viel öfter in aggressive Gewalt münden werden, dass die
Willkür bei Militär und Sicherheitskräften und der Militarismus insgesamt
zunehmen werden, ist anzunehmen.
Für linke Graswurzelbewegungen und Linksparteien wird die Herausforderung
groß sein, sich zu konsolidieren und sich als überzeugende, weltanschaulich
offene demokratische Gegenkraft wider die Volksverführung zu positionieren.
Mit ihren 56 gewonnenen Sitzen im Abgeordnetenhaus kann die PT gemeinsam mit
anderen (Mitte-)Linksparteien noch immer ein starkes Gegengewicht gegen den
"rechten Block" sein. Sie muss freilich die Korruption in den eigenen Reihen
bekämpfen, deeskalieren und aus ihren Fehlern der Vergangenheit lernen. Nur
dann kann sie den auf Langfristigkeit angelegten Rechtspopulismus
rechtsextremer Prägung brechen.
(Lateinamerika Anders, Dez 2018)
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