**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 19. Dezember 2018; 22:38
**********************************************************

Glosse:

> Versteh' einer Frankreich!

Die Gelbwesten entziehen sich den üblichen Kategorisierungen von Protest.
Daß eine solche Bewegung aber in Frankreich stattfindet, ist kein Zufall.
*

Daß Daniel Cohn-Bendit keine gelbe Weste anziehen möchte, weil er die Farbe
aus politisch-historischen Gründen nicht mag, kann man verstehen. Allerdings
ist seine Ablehnung dieser Bewegung gerade aus diesem Grund eigentlich ein
Argument für diese Bewegung. Denn entstanden ist das Ganze ja aus einem
Autofahrerprotest -- die gelben Westen waren etwas, das jeder im Auto hat,
also als Erkennungsmerkmal untereinander ideal. Auf die Idee einer
Assoziation mit einem gelben Judenstern ist da keiner gekommen. Es ist eben
nicht ein Aufstand der Intellektuellen oder der Studenten aus besseren
Häusern. Dementsprechend diffus und chaotisch ist diese Bewegung. Auch die
etablierten Gewerkschaften können nichts damit anfangen. Und das politische
Parteiensystem in Frankreich zerbröselt immer mehr -- gerade oppositionelle
Parteien sehen in einer unkontrollierten Protestbewegung, die sie nicht
verstehen und auch nicht umarmen können, eine Gefährdung. Die Versuche des
Front National (der sich jetzt "Rassemblement National" nennt und sich in
seinen Positionen auch nicht mehr so sicher ist wie früher) die Bewegung zu
vereinnahmen, führte nur zu einer partiellen Desavouierung der Gelbwesten,
hatte aber keinen positiven Effekt für den FN.

Die Deklassierten sehen in Frankreich keine politischen Stellvertreter mehr,
an die sie sich wenden könnten -- das macht auch die Kraft dieser Bewegung
aus. Die Terroranschläge, aber auch die Aufrüstung Frankreichs immer mehr
hin zum Polizeistaat, aber vor allem die Angst vor dem sozialen Abstieg
verunsichern, machen letztlich wütend und die Wut bricht sich dann
irgendwann Bahn. Aber wenn man fragt, was denn eigentlich der Succus des
Protests ist, wirds schwierig: "Die Gelbwesten sind ein sozialer Protest,
der links ist, weil er sich gegen die Ungerechtigkeit wendet. Die Gelbwesten
sind rechts, wenn sie ihre eigene soziale Benachteiligung allein in der
Konkurrenz mit Ausländern begründen und die Ausgrenzung des vermeintlich
'Anderen' als identitätsstiftend nutzen." So versucht es ein Kommentar im
"Neuen Deutschland" auf den Punkt zu bringen. Aber auch das stimmt natürlich
nicht für alle Beteiligten an diesem Protest. Genauso könnte man fragen, was
denn die gemeinsame Forderung der Revolutionäre beim Sturm auf die Bastille
gewesen sei -- man wird keine klare Antwort bekommen, außer daß das Ancient
Regime verhaßt war.

Das ist vielleicht genau der Grund, warum das jetzt in Frankreich so
passiert -- und nicht woanders in Europa. Denn egal, warum die Rebellion
stattfindet und was die Stoßrichtung ist, immer empfindet in Frankreich ein
erheblicher Anteil der nicht so ganz schweigenden Mehrheit eine gewisse
Sympathie dafür.

An diesem Punkt ist es wohl angebracht, in Elias Canettis "Masse und Macht"
nachzuschlagen: "Das Massensymbol der Franzosen hat eine junge Geschichte:
es ist ihre Revolution. Das Fest der Freiheit wird jährlich gefeiert. Es ist
das eigentliche nationale Freudenfest geworden. Am 14. Juli kann jeder mit
jedem auf der Straße tanzen. Menschen, die sonst genau so wenig frei, gleich
und brüderlich sind wie in anderen Ländern, können sich einmal so geben, als
ob sie es wären. Die Bastille ist erstürmt, und die Straßen sind wieder voll
wie damals. Die Masse, jahrhundertelang Opfer der königlichen Justiz, übt
selbst Justiz. Die Erinnerung an die Hinrichtungen jener Zeit, eine
kontinuierliche Reihe von Massenerregungen der aufwühlendsten Art, gehört zu
diesem Festgefühl mehr, als man es sich eingestehen mag. Wer sich der Masse
entgegenstellte, gab ihr seinen Kopf. Er war ihn ihr schuldig und diente auf
seine Weise dazu, ihr Hochgefühl zu erhalten und zu steigern."

Revolutionspatriotismus

1789, 1830, 1848, die Commune 1871, die Resistance in der Nazi-Zeit, Mai
1968, der Aufstand der Banlieues 2005 bis hin zu Nuit Debout 2016 -- die
Revolte ist Teil des französischen Nationalgefühls. Viele Konflikte in
Frankreich dringen ja gar nicht bis in unsere Medien. Demos mit zigtausenden
Beteiligten in Paris werden aufgrund ihrer Häufigkeit kaum mehr groß
beachtet. Streiks sind nicht nur sehr beliebt, sondern sie laufen auch oft
viel heftiger ab und verhandlungsunwilligen Fabriksdirektoren kann es schon
mal passieren, daß sie über Nacht in ihren Büros eingesperrt werden, um ihre
Position noch einmal zu überdenken ("Bossnapping" ist trotz der
angelsächsischen Bezeichnung eine französische Erfindung).

Dazu kommt als Konterpart eine ziemlich berüchtigte Polizei.
Tränengasgranaten gehören schon seit Jahrzehnten bei Demos zur
Standardausrüstung der Pariser Exekutive. Was in Frankreich aber eben kaum
jemand einschüchtert.

Mit anderen Worten: In Frankreich gehört es zum Patriotismus, gegen die
Regierung aufzubegehren, egal welche und egal warum. In Österreich und
Deutschland ist das unverständlich, denn da wie dort zogen demokratischere
Zustände meist nur dann ein, wenn ein Krieg verloren worden ist. Und wenn es
in Österreich nennenswerte relevante Revolten gegeben hat, dann wurden sie
in den Geschichtsbüchern gerne kleingeredet (1848), moralisch relativiert
(1927, 1934) oder diffamiert (Oktoberstreik 1950). Der österreichische
Nationalfeiertag bezeichnet den Tag eines bürokratischen Aktes, der
französische den Tag der Erstürmung eines Gefängnisses. Das sagt alles.

"Man macht Voltaire keinen Prozeß" soll 1960 der damalige Präsident Charles
de Gaulle seinen Beratern gesagt haben, als diese den Philosophen Jean-Paul
Sartre hinter Schloß und Riegel bringen wollten. Ob das Zitat korrekt ist,
ist dabei völlig egal, bedeutend ist es deswegen, weil man es für denkbar
hält. Es ist bezeichnend für zweierlei: Zum einen dafür, daß in Frankreich
auch radikaler Protest als Teil der nationalen Konstitution angesehen wird.
Zum anderen aber auch, daß das politische Establishment gewohnt ist, damit
umzugehen. Sprich: Köpfe werden keine mehr rollen wie am Ende des
18.Jahrhunderts, höchstens werden ein paar ausgetauscht. Die Eliten werden
aber wohl auch die Gelbwesten unbeschadet überstehen.
*Bernhard Redl*



***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der nichtkommerziellen
Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd muessen aber nicht
wortidentisch mit den in der Papierausgabe veroeffentlichten sein. Nachdruck
von Eigenbeitraegen mit Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete
Beitraege stehen in der Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von
Texten mit anderem Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine
anderweitige Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als
Abonnement verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann
den akin-pd per formlosen Mail an akin.redaktion@gmx.at abbestellen.



*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
postadresse a-1170 wien, lobenhauerngasse 35/2
redaktionsadresse: dreyhausenstraße 3, kellerlokal, 1140
vox: 0665 65 20 70 92
http://akin.mediaweb.at
blog: https://akinmagazin.wordpress.com/
facebook: https://www.facebook.com/akin.magazin
mail: akin.redaktion@gmx.at
bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
bank austria, zweck: akin
IBAN AT041200022310297600
BIC: BKAUATWW