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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 5. Dezember 2018; 21:26
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Oe/Kapitalismus:
> Arbeitszeitverkürzung in einer gespaltenen Gesellschaft
*Karl Czasny* über die Meinungshegemonie des Neoliberalismus
Franz Schellhorn, der als Kolumnist die Hirne der LeserInnen des profil im
Zweiwochenrhythmus mit neoliberalen Wirtschaftsmärchen vernebeln darf, stand
Mitte November vor einem echten Problem. Jener Teil seines Publikums, der
neben dem profil auch den Standard liest, hatte dort nämlich soeben
erfahren, dass laut Daten der EU-Kommission der durchschnittliche reale
Bruttoverdienst der heimischen ArbeitnehmerInnen trotz eines zuletzt sehr
guten Konjunkturverlaufs seit 2010 stagniert. Ergänzend war man vom Standard
darüber informiert worden, dass Österreich mit dieser Entwicklung hinter
allen westeuropäischen EU-Staaten liegt und nur noch von den südlichen
Krisenländern der Eurozone unterboten wird. Wenn solche Nachrichten
ausgerechnet am ersten Höhepunkt der aktuellen Kollektivvertragsrunde
hereinplatzen, dann ist Feuer am Dach und Schellhorn, im Hauptberuf Direktor
der 'wirtschaftsnahen' Denkfabrik Agenda Austria, muss ausrücken, um diese
hässlichen Fakten schönzureden, was er in seiner Kolumne vom 19.11.2018
redlich versucht.
Zunächst relativiert er den Bericht des Standard durch den "subjektiven
Eindruck, dass der Lebensstandard der breiten Masse zu keiner Zeit der
Geschichte so hoch war wie heute. Dass sich eine wachsende Zahl von Menschen
immer mehr leisten kann, vom Zweitauto über den Mehrfachurlaub bis hin zur
Vorsorgewohnung für den Nachwuchs." Möglichen Skeptikern, die argwöhnen
könnten, es handle sich bei dieser breiten Masse vielleicht gar nicht um die
Mehrheit der ÖsterreicherInnen, sondern bloß um das Gros der Menschen im
persönlichen Bekanntenkreis des wohlbestallten Leiters eines
'wirtschaftsnahen' Thinktanks, verabreicht Schellhorn vorsichtshalber auch
noch eine statistische Beruhigungspille. Letztere besteht in dem Hinweis,
dass in den vom Standard zitierten Zahlen "die Entwicklung der Bruttolöhne
nicht um die Teilzeitbeschäftigung bereinigt wird. Und in Österreich ist der
Trend in Richtung Teilzeit so hoch wie in kaum einem anderen Land. Wer
Teilzeit arbeitet, verdient naturgemäß weniger als eine Vollzeitkraft. Mehr
Menschen arbeiten, aber sie arbeiten durchschnittlich weniger Stunden,
wodurch auch das Median-Einkommen nach unten gezogen wird."
Keine Details, bitte!
Diese Erklärung ist im Prinzip richtig, muss aber dringend durch einige von
Schellhorn unterschlagene Fakten und Interpretationen ergänzt werden.
Zunächst ist auf den jüngsten Europäischen Tarifbericht des dem Deutschen
Gewerkschaftsbund nahestehenden WSI hinzuweisen. Er zeigt, dass in
Österreich seit 2010 auch die von den Veränderungen beim Arbeitsvolumen
völlig unabhängigen realen Tariflöhne nahezu stagnieren. Setzt man das Jahr
2010 mit 100 an, dann beträgt der diesbezügliche Vergleichswert für 2017
gerade einmal 101,7. Die heimischen ArbeitnehmerInnen schneiden damit
schlechter ab als ihre KollegInnen aus vergleichbaren Hochlohnländern wie
Schweden, Deutschland oder Frankreich. Neben diesem eher kümmerlichen
Anstieg der Tariflöhne ist der sehr dynamische Arbeitsmarkt für die
Stagnation der Einkommen verantwortlich. Seit 2010 ist die Zahl der
unselbständigen Erwerbstätigen in Österreich um rund 300.000 gewachsen, und
die dabei ganz neu oder nach längerer, mehr oder weniger 'freiwilliger'
Arbeitspause ins Spiel kommenden Arbeitskräfte starten häufig zu
schlechteren Tarifbedingungen als ihre seit längerem durchgängig
beschäftigten KollegInnen.
Abgesehen von den bisher erwähnten realen Bruttoverdiensten ist es für die
Entwicklung des Lebensstandards entscheidend, wie viel vom Lohn für den
Konsumbedarf ausgegeben werden kann. Und hier denkt einer wie Schellhorn
natürlich sofort an den bösen Staat. Denn "es sind eben leider nicht die
Arbeitnehmer, die von den jährlichen Lohnerhöhungen am meisten profitieren,
es sind die staatlichen Kassen", weshalb aus seiner Sicht eine Lösung
unserer Einkommensprobleme nur dann möglich sein wird, "wenn der
Einnahmenhunger des Staates gebremst wird, ohne die Qualität der angebotenen
Leistungen zu schmälern". Was das konkret bedeutet, wird gerade ziemlich
eindrucksvoll von der Regierung vorführgeführt, weshalb ich hier nicht näher
darauf eingehen muss.
Erwähnenswert ist aber ein anderer Aspekt der Frage des für Konsumbedarf
verfügbaren Einkommens. Letzteres wird nämlich in Zeiten boomender
Immobilienmärkte ganz empfindlich durch die sich immer schneller drehende
Wohnkostenspirale beschränkt. Vor allem im Einzugsbereich der größeren
Städte kommt es angesichts der bei Neuvermietungen zahnlosen
Mietpreisregulierung zu einer kontinuierlichen Reduktion der für die Dinge
des täglichen Bedarfs bereit stehenden Einkommensbestandteile. So zeigt etwa
eine im Februar publizierte AK-Studie, dass zwischen 2008 und 2016 die
privaten Hauptmietzinse bei Neuvermietungen im Bundesdurchschnitt um 13
Prozentpunkte und in Wien sogar um 21 Prozentpunkte stärker anstiegen als
die Löhne. Hauptopfer dieser Entwicklung sind die jüngeren Haushalte, weil
sie einerseits über relativ niedrige Einkommen verfügen und andererseits
(nicht zuletzt auch wegen des hohen Anteils von nur befristet angebotenen
Mietverträgen) eine hohe Wohnmobilität zeigen. Die eingangs erwähnte
Stagnation der realen Einkommen seit dem Jahr 2010 läuft unter solchen
Bedingungen zwangsläufig auf eine massive Reduktion des für den Konsum
verfügbaren Realeinkommens hinaus.
Nun noch einige Worte zu Schellhorns Erklärung der Stagnation der realen
Bruttoverdienste durch die starke Zunahme von Teilzeitarbeitsverhältnissen.
Es handelt sich bei dieser Zunahme um eine besondere Spielart der
Umverteilung von Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung. Betrug 2005, also vor
dem Ausbruch der großen Finanzkrise, die von einem unselbständig
Erwerbstätigen tatsächlich geleistete Arbeitszeit im Schnitt noch rund 33
Stunden, so sank dieser Wert bis 2017 im Gefolge des Teilzeittrends um 10%
auf 30 Stunden. Ohne diese Entwicklung wäre es nicht möglich gewesen, nach
2010 die oben erwähnten 300.000 zusätzlichen Erwerbstätigen in den
Arbeitsprozess zu integrieren. Wir haben es dabei also mit einer an sich
sinnvollen Antwort auf die aus Automation und Rationalisierungen
resultierenden Arbeitseinsparungen zu tun, welche außerhalb von
Hochkonjunkturphasen aus der Arbeit ein zunehmend knappes Gut machen. Die
Art, wie diese wichtige und auch von der Linken geforderte Umverteilung von
Arbeit hierzulande abläuft, ist allerdings in zweifacher Weise höchst
problematisch und spiegelt die Spaltung unserer Gesellschaft nicht nur
wider, sondern trägt zu ihrer Vertiefung bei.
Freiwillige Teilzeit?
Denn zum einen erfolgt die Arbeitszeitverkürzung hierzulande nicht möglichst
gleichmäßig bei allen Arbeitsverhältnissen, sondern betrifft vor allem
Frauen, die in die Teilzeitarbeit gedrängt werden und dann auch deren
unangenehme Nebenfolgen, wie verminderte Aufstiegschancen, laufende
Einkommensverluste und fehlende Absicherung im Alter, tragen müssen. Zum
anderen handelt es sich beim heimischen Teilzeittrend um eine
Arbeitszeitreduktion ohne Lohnausgleich. Diese wirkt sich angesichts der
gleichzeitig kontinuierlich wachsenden Arbeitsproduktivität negativ auf den
Anteil der Lohnabhängigen am Volkseinkommen aus und hat damit
hochproblematische konjunkturpolitische Effekte (Stichwort: Zurückbleiben
der Inlandsnachfrage).
Üblicherweise werden derartige volkswirtschaftliche Überlegungen durch
Experten vom Schlag eines Franz Schellhorn mit Verweis auf die
betriebswirtschaftliche Unmöglichkeit eines derartigen Lohnausgleichs
zurückgewiesen. Demgegenüber ist festzuhalten, dass eine
Arbeitszeitreduktion mit vollem Lohnausgleich bei steigender
Arbeitsproduktivität rein rechnerisch kostenneutral ist. Wenn also etwa die
Menge der pro Arbeitsstunde erzeugten Güter um zwei Prozent steigt, kann man
die Arbeitszeit entsprechend verringern und den Stundenlohn um den gleichen
Prozentsatz erhöhen, ohne einen Anstieg der Lohnstückkosten zu verursachen.
Es ist aber klar, dass im Vor- und Umfeld einer solchen Arbeitsumverteilung
auf der Seite der Arbeitskräfte begleitende Umschulungs- und
Mobilisierungsmaßnahmen erforderlich wären, während seitens der Betriebe
zusätzlicher Organisationsaufwand anfiele, den man nicht zur Gänze den
Unternehmen aufbürden dürfte. Und ebenso klar ist leider auch, dass all
diese flankierenden Maßnahmen im Sinne eines kollektiven Projekts nur im
Rahmen einer solidarisch agierenden Gesellschaft mit starken
Arbeitnehmervertretungen realisierbar wären -- anders gesagt: im Rahmen
einer Utopie, von der wir uns angesichts der aktuellen politischen Trends
zurzeit wohl immer weiter entfernen.
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Quellen:
Schellhorns Kommentar:
https://www.profil.at/meinung/franz-schellhorn-loehne-oesterreich-steigen-sinken-10471008
Der von Schellhorn erwähnte Standard-Bericht zu den stagnierenden realen
Bruttoverdiensten:
https://derstandard.at/2000091260125/Oesterreich-bei-Einkommensentwicklung-in-Europa-weit-hinten
Europäischer Tarifbericht des WSI:
https://www.boeckler.de/pdf/p_wsi_report%2042_2018.pdf
Bericht über die AK-Mietenstudie:
https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/wirtschaft/oesterreich/945290_Mieten-stiegen-in-acht-Jahren-um-35-Prozent.html
Statistik zum Rückgang der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit:
https://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/arbeitsmarkt/arbeitszeit/index.html
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