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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 5. Dezember 2018; 21:24
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Frankreich:
> Wutbürger oder Revolutionäre?
Über die französische Protestbewegung der "gelben Jacken" und die 
Widersprüche sozialer Bewegungen in den kommenden Krisenjahren
Knapp 300.000 Menschen haben in Frankreich Straßen, Einkaufszentren und 
Raffinerien blockiert, um gegen neue Benzin- und Dieselsteuern zu 
protestieren. Was wollen sie?
*Markus Winterfeld* am 22.11.18 im Dresdner Online-Magazin 
kritischeperspektive.com
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"Jetzt hat auch Frankreich seine Wutbürger", schrieb die wirtschaftsliberale 
Neue Zürcher Zeitung über die Protestaktion der "gelben Jacken" am letzten 
Samstag, und ein Korrespondent des linken Gewerkschaftsportals Labournet.de 
beschreibt sie als "eine Bewegung [.] die mehrheitlich ein Profil zwischen 
dumpfbackig und reaktionär an den Tag legt, zwischen Autofahrerlobby und 
extremer Rechter changiert".
280.000 Menschen waren am 17.11. in ganz Frankreich auf die Straße gegangen, 
hatten Kreisverkehre, Autobahnen, staatliche Raffinerien und Einkaufszentren 
blockiert. Der Protest war spontan, dezentral über Facebookgruppen 
organisiert, es kursierten dutzende lokale Aufrufe. Alle, die sich 
beteiligen wollten, sollten als Erkennungszeichen die gelben Warnwesten aus 
dem Auto anziehen, daher der Name "gilets jaunes", gelbe Jacken.
Das funktionierte gut. Die meisten Protestierenden hatten sich, so wird 
immer wieder berichtet, vorher noch nie gesehen, erkannten sich sofort, 
schlossen sich zusammen und führten Blockaden aus, die das Land am Samstag 
lahm legten. Insgesamt 2.000 Blockaden hat die Polizei gezählt. Von der 
Mobilisierung überrascht, konnte sie die Blockaden an den meisten Orten eher 
begleiten als verhindern. In Paris gelang den DemonstrantInnen die Besetzung 
der Champs-Elysée, und nur durch Tränengas und massives Polizeiaufgebot 
konnten sie am Vorrücken auf den Präsidentenpalast gehindert werden.
Wie ist diese Protestbewegung einzuordnen? - Schaut man sich die Argumente 
an, mit denen sie mal als "Wutbürger", d.h. als französischer 
PEGIDA-Verschnitt, mal als "zwischen Autofahrerlobby und extremer Rechter" 
changierend einsortiert wird, so können diese Argumente kaum überzeugen. Das 
liberale Blatt führt als Beleg an, dass "die Mobilisation [.] spontan über 
Internet und Smartphone, in lokalen Gruppen ohne zentrale Steuerung" 
erfolgte. "Wutbürger" ist nach dieser Auffassung, wer außerhalb der 
Parteien- und Gewerkschaftslandschaft steht. Wenn man mehr sagen will, wird 
es unscharf: "Nach französischen Medienberichten waren an den Straßensperren 
vor allem Leute anzutreffen, die in bescheidenen Verhältnissen leben und 
entweder nicht wählen oder der extremen Rechten zuneigen. Doch das sind 
vorläufige Beobachtungen, eine solide soziologische und politische 
Einordnung der Protestierenden liegt noch nicht vor." Das 
Gewerkschaftsportal mokiert, dass "ein aus dem Bereich der Arbeiterbewegung 
kommender Protest [.] mit einiger Wahrscheinlichkeit nach auch nicht 
unbedingt gelb als Erkennungsfarbe gewählt" hätte, dass es mindestens zwei 
Fälle von rassistischer oder homophober Beleidigung und Gewalt gegen 
AutofahrerInnen gab, und dass die Le Pen-Partei "Rassemblement National" 
(ehemals Front National) sowie eine Reihe weiterer rechter Parteien zur 
Beteiligung aufgerufen hatten. Wenn das alles ist, was für die Einordnung 
der Bewegung als unsolidarisch, rechts und reaktionär vorzubringen ist, so 
reicht das nicht aus, noch dazu auch Luc Mélenchon, französischer Bernie 
Sanders, mit seiner "La France Insourmise" zur Beteiligung aufgerufen hatte, 
ferner derartige Gewaltfälle von vielen ProtestteilnehmerInnen kritisiert 
und z.T. aktiv unterbunden wurden.
Die Story, die man uns erzählen will, passt irgendwie nicht, und wir tun gut 
daran, uns selbst ein Bild zu machen.
Dieselsteuer und Verelendung
Anlass des Protestes war die von der Macron-Regierung geplante Erhöhung der 
Benzin- und Dieselsteuer. In zwei Stufen bis Januar 2020 soll der Preis je 
Liter Diesel um 14, je Liter Benzin um 7 Cent steigen. Macron und seine 
Minister behaupteten gern, dass es sich um eine Umweltsteuer handeln würde, 
um Diesel zu verteuern und den Ausbau alternativer Energiequellen zu 
finanzieren; tatsächlich wurde aufgedeckt, dass von den in den nächsten 
Jahren erwarteten Mehreinnahmen in Höhe von 50 Mrd. Euro nur 20 % für die 
Energiewende eingeplant sind, während 45 % dem Staat und 30 % den Kommunen 
für die freie Verwendung überlassen werden. "Diese Analyse der geplanten 
Verwendung entlarvt die angebliche "Ökosteuer" auf Treibstoffe als banale 
Steuererhöhung zur Sanierung der öffentlichen Finanzen", schreibt die Neue 
Zürcher Zeitung in einen anderen Artikel.
60 % der französischen AutofahrerInnen fahren Diesel, der von allen 
Regierungen der letzten Jahre durch Steuerermäßigungen gefördert wurde. Im 
Verlauf des Jahres war der Preis je Liter bereits von 1,24 auf 1,50 Euro 
gestiegen. Aber es sind überhaupt nicht nur die Spritpreise, die die Leute 
auf die Straße brachten. Die Steuererhöhung traf auf einen allgemeinen Unmut 
über den gesunkenen Lebensstandard, den man als relative und absolute 
Verelendung immer größerer Schichten bezeichnen muss. Während die Kosten für 
Lebensmittel, Heizung, Sprit und Wohnung gestiegen sind, sind Löhne und 
Renten seit 2008 praktisch eingefroren. Immer breitere Schichten müssen 
kürzer treten, sparen, Ausgaben einschränken. Deindustrialisierung und 
staatliche Kürzungspolitik treffen insbesondere die ländlichen Provinzen: 
"Pensionierte klagen über neue Steuern auf ihrer Rente, Ambulanzfahrer und 
Taxifahrer gegen zusätzliche Konkurrenz durch die Liberalisierung ihrer 
Berufe: Auf dem Land fühlen sich die Leute benachteiligt und vernachlässigt: 
oft gibt es keine Schule oder keine Bahnverbindung mehr, keinen Arzt, keine 
Läden, keine Vergnügungsmöglichkeiten - dafür aber immer mehr Steuern und 
Abgaben, lautet ihre Beschwerde." (Neue Zürcher Zeitung)
Besonders stark vertreten war der Protest in den nördlichen Provinzen, 
Hochburg von Le Pen. In Henin-Beaumont an der niederländischen Grenze, wo im 
Mai 2018 ganze 69% für Le Pen gestimmt hatten, führte der französische 
"Nouvel Observateur" Interviews mit einigen Protestierenden, die die Zufahrt 
zum großen Einkaufszentrum seit den frühen Morgenstunden blockiert hatten. 
Eine Frau berichtet: "Ich arbeite Teilzeit, mein Mann voll, und dieses Jahr 
werden wir zum ersten Mal nicht in den Urlaub fahren. Es ist das erste Mal 
dass das passiert. Nach Steuern, Rechnungen und Einkäufen habe ich noch 100 
Euro im Monat. Es ist kein Leben, es ist bloßes Überleben."
Eine andere: "Ich gehe in zwei Wochen in Rente; heute habe ich einen Brief 
gekriegt, der mir erklärt, was ich kriegen werde. Ich habe 42 Jahre 
gearbeitet, und meine Rente soll sich auf 745 Euro belaufen. Ich verstehe 
das nicht."
Und eine dritte: "Das Problem ist einfach: steigende Steuern, Sozialabgaben, 
der Benzinpreis, die eingefrorenen Rentenerhöhungen." Ja, "ich hätte gern 
Marine Le Pen ausprobiert." Von Macron war sie nie überzeugt. Und 
insbesondere seit er herumläuft und "die Franzosen beleidigt." "Aber ihr 
wollt doch alle, dass wir die Pille schlucken." - Wer soll das wollen? - 
"Die Medien draußen, insbesondere BFMTV [größter französischer 
Nachrichtensender]. Ihr sagt nicht die Wahrheit, ihr denkt, wir hätten die 
Absperrungen nicht gesehen, die Macron vor den Leuten schützen sollten, als 
er am 11. November unsere Provinz bereiste. Ihr versucht uns zu sagen, was 
wir denken und tun sollen, aber wir sind keine Idioten, wir sehen dass wir 
heute schlechter leben als früher."
Ein Mann berichtet: "Was gerade passiert, ist das Ergebnis von 30 Jahren 
Politik, die mit unseren Leben nichts zu tun hatte. Ich glaube an gar nichts 
mehr." Seine Frau, eine Pflegerin, konnte nicht kommen: sie war die letzten 
drei Nächte im Dienst. "Am Ende sind es nicht die Politiker, die das Land 
kontrollieren - es sind die Ölkonzerne, die Banken, die Ladenketten." Er hat 
viele Ideen, um den gewählten PariserInnen zu helfen, das zu verstehen: "Wir 
sollten sie für zwei Jahre arbeiten lassen, mit 1.300 Euro im Monat."
Die Erzählungen sind die gleichen wie in dutzenden anderen Interviews. In 
Strasbourg berichten die Menschen, dass sie mit ihren 1.300 Euro im Monat 
nicht mehr auskommen, in kleinere Wohnungen ziehen, Möbel verkaufen, ihren 
Kindern keine Weihnachtsgeschenke kaufen können. Sie ziehen immer weiter weg 
von Stadt und Arbeitsort, um den hohen Mieten zu entgehen; die steigenden 
Spritpreise fressen nun ihr verbleibendes Gehalt auf. Die Stimmung ist 
inzwischen komplett gegen die Regierung gekippt. Die "Nachdenkseiten" 
schreiben über "Macron und sein Problem mit den gelben Westen": "Die 
Zustimmung seiner Landsleute ist vom bisherigen Negativrekord von 29% im 
September noch einmal um drei Prozentpunkte gesunken. Macron polarisiert 
nicht, er ist verhasst."
Sozialprotest oder PEGIDA?
Aus den Aussagen der Leute ergibt sich, wie verfehlt es ist, diese Bewegung 
mit den deutschen Wutbürgern von PEGIDA gleichzusetzen. Sie sind auf die 
Straße gegangen, weil sie ihre Lebensbedingungen als untragbar ansahen - sie 
protestierten gegen die Steuererhöhung auf Benzin und Diesel, nicht weil sie 
zur "Autofahrerlobby" gehören, sondern weil sie sich die Mieten in Stadtnähe 
nicht mehr leisten konnten und jeden Tag hunderte Kilometer Auto fahren 
müssen. Die Geschichten sind dabei die gleichen, egal ob die Leute freimütig 
erklären, dass sie Le Pen gewählt haben, oder Mélenchons Linkspartei; egal 
ob sie zum ersten Mal in ihrem Leben auf einer Demonstration sind, oder ob 
sie als Gewerkschaftsmitglieder auf jeder Streikdemo der letzten zehn Jahre 
waren.
Was sie von PEGIDA und den deutschen Wutbürgern unterscheidet, ist dass sie 
ihr soziales Elend in einen Sozialprotest wendeten. Die Benzin- und 
Dieselsteuer war hierbei der Anlass. Anders als PEGIDA wendeten sie ihre 
sozialen Probleme und Ängste nicht regressiv unter den Dresdner Slogan 
"gegen die Islamisierung des Abendlandes" und zündeten keine 
Flüchtlingsheime an. Hätte es am 17.11. große rassistische Slogans und 
Transparente gegeben, so liegt die Chance gut, dass wir davon wüssten 
angesichts einer Presse, die darauf aus ist, den Sozialprotest zum bloßen Le 
Pen-Manöver zu erklären. Tatsächlich aber wird von allen Blockaden 
berichtet, dass die TeilnehmerInnen darauf geachtet hätten, ihren Protest 
ausdrücklich "unpolitisch" und parteienfrei zu gestalten. In Fontainebleau 
etwa wurden TeilnehmerInnen aufgefordert, Parteizeichen abzunehmen. Die 
Führer der verschiedenen rechten französischen Parteien, die ihre Teilnahme 
am Protest angekündigt hatten, hatten im Voraus deklariert, dies in privater 
Funktion zu tun. "Es ist gerade weil wir nicht über Parteien sprechen, dass 
wir als Bewegung so einen großen Erfolg hatten", erklärte eine Frau, die 
eine lokale Blockade koordinierte, im Interview.
Man wird daher auch enttäuscht, wenn man nach Hinweisen auf die Hintermänner 
und Hinterfrauen des Protestes sucht. Der Protest wurde über Facebook 
organisiert, Ausgangspunkt war eine Online-Petition gegen die neuen 
Kraftstoffsteuern, die von 850.000 Leuten unterzeichnet wurde, und die 
irgendwann zur Idee eines Protestes gemünzt wurde, zu dem im Internet 
allerlei lokale Aufrufe kursierten. Die französische Zeitung La Libération 
zitiert ein Polizeidossier, das etwas mehr Hintergrund zur Organisierung des 
Protestes gibt: "Das Polizeidossier hat 112 Vorbereitungstreffen bis zum 
Demonstrationswochenende gezählt, in denen 'mehrere Hundert Leute, manchmal 
in Räumen, aber meist in ungewöhnlichen Plätzen (Bahnsteig, Parkplatz.) 
zusammengebracht wurden, was auf die Improvisierung und das Fehlen 
logistischer Mittel seitens der Organisatoren verweist.'"
In einzelnen Orten versuchte die Rechte, den Protest zu kanalisieren und zu 
unterwandern, wie selbiger Polizeibericht beschreibt: "In Pas-de-Calais 
[Nordfrankreich] zum Beispiel hat sich eine kleine Gruppe Ultrarechter nach 
und nach in die 'gelben Westen' eingeschlichen. Die Schlüsselfigur ist der 
Administrator der Facebookseite 'Wütende Gallier'. Am 10. November hatte er 
sich bei einer Flugblattverteilung zusammen mit 10 anderen beteiligt, unter 
denen drei Personen waren, die für ihre Kontakte mit der extremen Rechten 
bekannt waren. Eine Führungsrolle bei der Organisation hatten sie allerdings 
nicht."
"Kämpft lieber für mehr Lohn!"
Bezeichnend ist die Ablehnung der Bewegung durch die Gewerkschaften. Der 
Chef einer der größten französischen Gewerkschaften, der CGT mit 700.000 
Mitgliedern, erklärte seine Ablehnung: "Es ist unmöglich, dass wir Seite an 
Seite mit der Front National demonstrieren". Stattdessen sollten die Leute 
für höhere Löhne kämpfen: "Die Basis von allem ist der Lohn. Wir, wir 
schlagen vor dass man den Mindestlohn stark anheben sollte zum Jahresende", 
wo sowieso eine staatliche Reevaluierung des Mindestlohns anstünde.
Ähnlich erklärt auch der Chef der Gewerkschaft CFDT mit 800.000 Mitgliedern, 
dass seine Gewerkschaft "nicht dazu aufrufen wird, sich an den 
Demonstrationen zu beteiligen, sondern weiterhin vehement die Kaufkraft der 
Angestellten verteidigen" werde.
Die Blockaden "werden weder unsere persönlichen, noch die wirtschaftlichen, 
sozialen und ökologischen Probleme des Planeten lösen, weder kurz- noch 
langfristig", erklärt eine weitere Gewerkschaft, eine vierte Gewerkschaft 
schreibt: "Die Wut über die Kraftstoffe muss in einen sozialen Kampf für 
höhere Löhne umgewandelt werden."
Aber höhere Löhne allein reichen nicht mehr. Selbst fünf, siebeneinhalb 
oder - heute komplett illusorische - zehn Prozent mehr Lohn können nicht den 
Anstieg der Lebensmittel, der Benzinpreise, der Mieten und der Häuserpreise 
der letzten Jahre kompensieren; sie können noch weniger den Verlust des 
Lebensstandards, in der Stadt wie auf dem Land, durch Wegfall von Schulen, 
Schwimmbädern und Nahverkehr kompensieren; sie können nicht das 
gesellschaftliche Angst- und Unsicherheitsklima revidieren.
Dass die von dieser Bewegung genannten Probleme derartig diffus sind, und 
dass sie keine positiven Lösungsmöglichkeiten vorzuschlagen hat, ist weder 
zufällig, noch ist es falsch. Es drückt sich darin aus, dass die Angriffe 
auf den Lebensstandard tatsächlich "diffus" sind und in tausend kleinen 
Nadelstichen, in allen Lebensbereichen auftreten. Lohnkürzungen, 
Lebensmittelteuerungen, Fahrzeiten, Überarbeitung, Rentenkürzung. Der 
Versuch, dies allein auf die Lohnhöhe herunterzubrechen, verkennt nicht nur 
den tatsächlichen "diffusen" Charakter der Verelendung, sondern ist 
schlussendlich eine Durchhalteparole von Links: ein Appell, nicht 
demonstrieren zu gehen (das "löst unsere sozialen Probleme nicht, weder 
kurz- noch langfristig"), sondern sich noch einmal auf das System und seine 
institutionalisierten Aushandlungswege einzulassen, den Konflikt auf die 
legalen Mittel von Arbeitskämpfen, Streiks - vielleicht darüber hinausgehend 
ein paar Blockaden oder "Bossnappings", aber alles innerhalb des 
Lohnkampfes - zu limitieren.
Dabei haben gerade diese Aushandlungswege in den letzten Jahren allesamt 
versagt. Der französischen Gewerkschaftsbewegung, trotz ihrer im 
europäischen Vergleich herausragenden Organisierung und Militanz, ist es 
seit Beginn der großen Krise vor zehn Jahren nicht gelungen, auch nur einen 
einzigen Sieg zu erringen: "Die französischen Gewerkschaften unterlagen bei 
den Auseinandersetzungen um die regressive Arbeitsrechts-'Reform' im 
Frühjahr und Sommer 2016 (das umstrittene Gesetz trat am 08.08.16 in Kraft), 
bei der zweiten Stufe dieser 'Reform' im Herbst 2017, aber auch beim Streik 
der Bahnbeschäftigten gegen die SNCF-'Reform' im Frühjahr 2018." 
(Labournet.de)
Die letzten Gehaltsabschlüsse im öffentlichen Dienst, bei Post und Telekom 
lagen zwischen 0,6 % und 1,4 % Gehaltssteigerung, bei einer offiziellen 
Inflationsrate von 2,2 %. Die Chefin der Gewerkschaft "Solidaires" gibt zu, 
dass "wenn wir sehen, welche Anstrengungen die Gewerkschaften von Air France 
in den Kampf steckten, nur um eine Lohnsteigerung von 4% zu erreichen, die 
noch mal reicht, alle Preissteigerungen einzuholen, haben wir das Gefühl, 
dass es schwierig wird, weiter den Kampf für Lohnsteigerungen als Ausweg 
vorzuschlagen."
Der Lohnkampf soll nun als Ausweg aus dem Hut gezaubert werden. Aber sein 
Scheitern in den letzten Jahren ist nicht einfach Folge von mangelnder 
Organisierung oder mangelnder Militanz, sondern ist begründet in der durch 
die Krise umgewälzten Situation von Angebot und Nachfrage auf dem 
kapitalistischen Arbeitsmarkt: solange das Kapital rasch expandiert, neue 
Märkte finden kann, und ihm die ArbeiterInnen knapp werden, ist es bereit - 
gezwungen - die Löhne zu erhöhen, um einen größeren Teil der 
gesellschaftlichen Gesamtarbeitskraft flüssig zu machen. In der Depression, 
in der es Leute massenhaft auf die Straße wirft, kann es jede noch so 
imposante Militanz und Organisierung aussitzen, weil es weiß, dass die Masse 
der Arbeitslosen, von Marx als "industrielle Reservearmee" bezeichnet, 
ausreicht, um die Forderungen der Arbeiterklasse herunterzudrücken. Die 
Forderung: lasst das Demonstrieren sein, kämpft für höhere Löhne!, ist 
tatsächlich unter den heutigen Bedingungen der Versuch, Protestbewegungen 
zurück ins System des Bestehenden zu holen, den Sozialprotest zu kassieren 
und ihn zurück an den Verhandlungstisch zu führen, bei dem auf der anderen 
Seite die vereinigten Bosse, ihre Lakaien und das Übergewicht der 
Reservearmee sitzen.
Die Widersprüche von Protestbewegungen in den kommenden Jahren
Weder die Diffusität der Probleme und Forderungen ist zufällig, noch dass 
sich diese Protestbewegung außerhalb der bestehenden Parteien und 
Gewerkschaften organisierte. Der Kampf gegen soziale Verelendung infolge der 
kapitalistischen Krise kann weder durch die Gewerkschaftsorganisierung noch 
durch die Parteienpolitik geführt werden. Beide haben versagt; dies ist der 
Erkenntnisstand der Protestierenden, der aus allen Interviews herausspricht. 
Was danach kommt, ist die große Lücke.
Dabei ist es keineswegs verwunderlich, dass ein solcher Protest wenigstens 
teilweise mit der Rechten sympathisiert, und zugleich diese versucht, ihn zu 
vereinnahmen. In Frankreich wie in Deutschland ist die Rechte die einzige 
Partei, die sich noch nicht durch Regierungsbeteiligung korrumpieren konnte, 
daher als letzte Alternative innerhalb des Systems und zugleich als 
außerhalb des Systems stehend erscheinen kann. Dass jeder spontane Protest 
mit der Rechten sympathisiert, ist nicht allein, aber auch Folge der 
Ratlosigkeit und der Alternativlosigkeit. Als im Iran Anfang des Jahres 
zehn- oder hunderttausende auf die Straße gingen, sich eine Protestbewegung 
wie ein Lauffeuer zu verbreiten begann, war das Neuartige dass erstmals seit 
Jahrzehnten die Forderung nach der Rückkehr des Schahs - der letzte wurde 
1979 zusammen mit seinen Folter- und Mordschergen verjagt, nur um durch neue 
Folterschergen ersetzt zu werden - präsent war.
Wir mögen uns eine andere Protestbewegung gegen die kapitalistischen 
Zustände wünschen. Nicht diffus, ohne Sexismus und Rassismus und ohne 
Romantisierung des Nationalstaats. Wie und woher soll eine solche aber 
entstehen? Die Gewerkschaftsbewegung und die Parteilinke sind 
abgewirtschaftet. Eine Bewegung, die den Status Quo infrage stellen könnte, 
kann nur und muss heute außerhalb dieser Institutionen entstehen, ja, die 
Hoffnung, die einzige Chance besteht gerade darin, dass sich eine 
Protestbewegung außerhalb der bestehenden Institutionen und ihrer 
zerrütteten innerkapitalistischen Aushandlungsrituale entwickelt. Welchen 
weiteren Weg sie geht, wird Sache von langwierigen Auseinandersetzungen und 
Kämpfen, in die wir uns investieren müssen. Die nächsten Jahre werden keine 
Wiederbelebung von Linksparteien, linksparteilichen Sammlungsbewegungen und 
linker Gewerkschaftsarbeit sehen, sondern massenhaften, zugleich diffusen 
und spontanen Protest gegen die Verelendungen unter den Bedingungen des 
Versagens der kapitalistischen Gesellschaftsform.
Der Widerspruch ist, dass die neuen Bewegungen, auf die alles ankommt, nur 
spontan und außerhalb der bestehenden Institutionen entstehen können, damit 
aber zugleich notwendig offen sind, auch für die faschistische Option. Sie 
können den Machtantritt des Faschismus beschleunigen, sind zugleich aber 
auch die einzige Hoffnung gegen ihn. Denn zum Faschismus streben heute nicht 
nur die Massenstimmungen, sondern ebenso die gewählten demokratischen 
Regierungen, die freie Presse und die liberale Bourgeoisie: der 
Massenprotest mag sich nach rechts wenden; aber wird er erstickt und 
scheitert er, werden es die Landes- und Verfassungsschutzpräsidenten sein, 
die Springerverleger und DAX-Vorstände, die den neuen Faschisten das Szepter 
in die Hand zu legen. Es war Macron, der nur eine Woche vorher den 
französischen Nazi-Kollaborateur und Faschisten Pétain als "großen Soldaten" 
anpries. Die einzige Hoffnung, an deren Realisierung wir arbeiten müssen, 
ist die zunehmende Radikalisierung des außerhalb dieser Institutionen 
stehenden Protestes. Nach allem, was wir über die "gelben Jacken" wissen, 
ist hierfür durchaus Potenzial vorhanden.
Was die französischen "gelben Jacken" in jedem Fall gezeigt haben, ist, wie 
zerrüttet die gesellschaftliche Normalität unter der scheinhaften Oberfläche 
bereits ist, diesmal nicht mehr in Griechenland oder Spanien, sondern im 
Vorzeigestaat Frankreich. Sie haben zugleich gezeigt, wie machtlos der Staat 
schlussendlich gegen eine dezentrale Massenmobilisierung einiger 
hunderttausend ist.
(gek.)
Volltext: 
https://kritischeperspektive.com/kp/2018-36-die-franzosische-protestbewegung-der-gelben-
jacken-wutburger-oder-revolution-uber-die-widerspruche-sozialer-bewegungen-in-den-kommenden-krisenjahren/
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