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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 21. November 2018; 21:17
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Interview:
> Der gewaltfreie Aufstand in Armenien
Ende April und Anfang Mai 2018 hat eine gewaltfreie Massenbewegung in
Armenien durch eine große Bandbreite gewaltfreier Aktionen zunächst den
langjährigen Autokraten Sersch Sargsjan abgesetzt. Auch ein
Interimspräsident der herrschenden Republikanischen Partei und ihrer
korrupten Oligarchen-Klientel konnte sich nicht lange halten. Die Bewegung
brachte den Oppositionellen und Korruptionskritiker Nikol Paschinjan an die
Macht. In dieser Weltregion zunehmend autoritärer Regimes und brutaler
Bürgerkriege, neben Putin, Erdogan und Assad, kann die herrschaftskritische
Bedeutung dieses gewaltfreien Aufstands gar nicht überschätzt werden.
*Leonhard Bonaventura* war während der Proteste Student in Armeniens
Hauptstadt Jerewan und hat die Massenbewegung vor Ort miterlebt. *Lou Marin*
führte für die Graswurzelrevolution ein Interview mit ihm.
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Graswurzelrevolution: In welchem Zusammenhang warst du in Armenien? Wusstest
du schon vorher, dass es dort eine regierungskritische Bewegung gab?
Leonhard Bonaventura: Ich war im Rahmen meines Studiums in Armenien, um zu
meiner Abschlussarbeit zu forschen, in Geographie und Biologie, finanziert
vom Erasmus-Programm. Ich schreibe meine Arbeit über einen Waldbrand in
einem Nationalpark, der dort 2017 wütete. Damals gab es Proteste aus der
Umweltbewegung. Sogenannte Oligarchen wollten für Privatgärten einen
Großteil des Wassers eines Flusses abzapfen, um ihre Gärten zu bewässern und
zudem wollten sie sich Villen auf dem Gebiet des Nationalparks bauen lassen.
Es ist sehr schön dort. Die damaligen Proteste konnten das verhindern.
Einige spekulieren heute, dass der Brand aus Rache gelegt wurde. In der
Zeit, in der ich da war, haben sich darauf die Hinweise verdichtet. All das
wurde immer mehr mein Thema.
Vorher wusste ich von einer kleinen Bewegung, die jeden Abend Kundgebungen
durchführte, aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht zum Platz der Republik
mobilisierte, dem größten Platz Jerewans. Zwischendurch dachten da einige
noch, die Bewegung löst sich wieder auf. Als ich am 19. April dann vor Ort
war, war der Platz der Republik entscheidender Versammlungsort. Anfangs
trafen sich hier nur wenige tausend Menschen.
GWR: Der damalige Präsident über zwei Amtsperioden hinweg, Sersch Sargsjan,
wollte die Verfassung, die nur zwei Amtsperioden zulässt, umgehen, sich
jetzt zum Ministerpräsidenten wählen lassen und so seine Macht erhalten.
Davor hatte er selbst das Amt des Ministerpräsidenten mit größeren
Befugnissen ausgestattet. War das der Auslöser des Massenaufstands?
Leonhard Bonaventura: Ja. Als Sargsjan den Posten des Ministerpräsidenten
aufgewertet hat, sagte er noch öffentlich, er würde nicht Ministerpräsident
werden wollen. Es wurde als Frechheit erlebt, als er das dann doch vorhatte.
Aber auch das hätten die meisten einfach hingenommen. Damals hatte noch
niemand daran geglaubt, dass aus den anfangs winzigen Protesten, die nur
müde belächelt wurden, eine Massenbewegung werden könnte. Begonnen haben die
Proteste mit Nikol Paschinjans Protestmarsch "Qayl Ara - Mach einen Schritt"
von der zweitgrößten Stadt Gjumri nach Jerewan. Das Vorbild des lang
dauernden Salzmarsches Gandhis ist unübersehbar. Immer mehr Leute haben sich
angeschlossen und in Jerewan kam es dann jeden Abend zu Kundgebungen, zu
denen immer mehr Menschen kamen.
GWR: Der Nachfolger Sargsjans, Interims-Ministerpräsident Karen Karapetjan,
wollte dann die Herrschaft der Republikanischen Partei retten. Warum konnte
auch er sich nicht halten?
Leonhard Bonaventura: Als sich eine Massenbewegung gegen Sargsjan entwickelt
hatte, hatten sich die Mächtigen sicher gedacht, dass eine Ablösung und
gleichzeitige Fortsetzung der Herrschaft der Republikanischen Partei der
Bewegung den Wind aus den Segeln nehmen würde. Es war eine Zeit der
Gerüchte, für den Abtritt von Sargsjan wurde auch gemutmaßt, das liege am
Tod seiner Mutter. Vor dem Abtritt gab es auch ein Treffen zwischen Putin
und Sargsjan, da wusste auch niemand genau, was besprochen wurde. Es kann
sein, dass Putin ihm nahe gelegt hat: "Tritt zurück, du bist nicht mehr
tragbar." Selbst mitzuerleben, wie groß die Freude beim Rücktritt Sargsjans
war und wie der Erfolg gefeiert wurde, war unglaublich berührend und
ansteckend. Als dann Karapetjan an die Macht kam, wurde den Leuten klar:
Wenn wir schon soweit gekommen sind, ist noch mehr möglich. Die
Massenbewegung ging also weiter, jetzt wurde zum Generalstreik aufgerufen.
Nach zwei, drei Tagen wurde dann der Bewegung Neuwahlen im Parlament
zugestanden, wodurch klar war, dass die Republikanische Partei nicht mehr an
der Macht bleiben würde. Karapetjan hat sich nur solange halten können, wie
das Prozedere mit den parlamentarischen Neuwahlen ablief und Paschinjan am
8. Mai im zweiten Wahldurchgang zum neuen Ministerpräsidenten gewählt wurde.
GWR: Welche gewaltfreien Aktionen gab es in dieser Zeit, welche hast du
erlebt?
Leonhard Bonaventura: An gewaltfreien Aktionen gab es Blockaden und Streiks
der Arbeiter*innen. Die Belegschaften der Supermärkte haben zu arbeiten
aufgehört, denn die großen Supermärkte gehören den sogenannten Oligarchen.
Sie wurden bestreikt und von Konsument*innen blockiert. Schüler*innen und
Studierende waren tags und nachts auf den Straßen. Alle haben Straßen
gesperrt. Wir haben in einem großen Wohnblock im zehnten Stock gewohnt und
unten im selben Haus haben Leute fünf Autos über eine sechsspurige
Ringstraße gestellt und dann den ganzen Tag Musik laufen lassen und die
Straße blockiert. Anwohner*innen brachten Essen. Die Stimmung war
unglaublich. So lief das die ganze Zeit. Krankenwagen wurden erst
durchgelassen. Aber im Laufe der Tage wurde klar, dass Verhaftungen nur noch
durch Zivilpolizisten in Fahrzeugen durchgeführt wurden. Deshalb wurden von
den BlockiererInnen alle Autos kontrolliert, und die Krankenwagen auch.
Abends gegen 9 Uhr wurden in anderen Stadtteilen massenhaft die Fenster
geöffnet und auf Kochtöpfe getrommelt.
GWR: Wie wurden die gewaltfreien Massenaktionen vorbereitet. Anders gefragt:
Waren sie spontan oder Ergebnis einer länger entwickelten
Bürger*innenbewegung?
Leonhard Bonaventura: Es gab zum einen die parlamentarische Opposition von
Paschinjan und dann so eine Art außerparlamentarische, aktivistische
Bewegung, die ziemlich früh schon Plena gemacht hat und gut organisiert war.
Die waren am Anfang bedeutend. Dann kamen immer mehr Schüler*innen und
Studierende hinzu, die sich auch selbst organisierten und die Uni
bestreikten oder nicht mehr zur Schule gingen. Die Streiks an der Uni habe
ich direkt miterlebt. Diese waren für die Bewegung sehr bedeutend, waren die
Student*innen doch nicht so desillusioniert hinsichtlich der Möglichkeiten
gesellschaftlicher Veränderungen, wie das fast alle Älteren waren, die sich
lange nicht beteiligen wollten beziehungsweise darin keinen Sinn sehen
konnten. Es gab einen gewaltfreien Aktionskonsens, den alle übernommen
haben. Ursprünglich wurde dieser von Paschinjan vorgegeben, aus Gründen der
Erfahrungen während der niedergeschlagenen Proteste von 2008, als es zehn
Tote gab. Auch hatte es zwischendurch andere große Proteste und auch
bewaffnete Aktionen gegen die Regierung gegeben. Die Erfahrung war, die
Regierung lässt auf uns schießen. Genau damit hatte Sargsjan in diesen Tagen
auch gedroht. Wir können nur eine Massenbewegung werden, wenn wir
gewaltfreie Aktionen durchführen, schien die Überzeugung aller zu sein. Um
sich vor gewalttätigen Übergriffen zu schützen, wurde bei den jetzigen
Protesten übrigens davon abgesehen, zentrale Orte über Nacht besetzt zu
halten. Das Risiko eines nächtlichen Überfalls durch Polizeikräfte, ohne
dass Öffentlichkeit und Presse dabei sind, wollte man bei diesen Protesten
nicht noch einmal eingehen.
GWR: Warum griff das Militär nicht auf Seiten der Herrschenden ein?
Leonhard Bonaventura: Es wurde befürchtet, dass das armenische Militär
eingreift. Oder sogar das russische Militär, weil es um Bündnisfragen ging.
Am Tag des Rücktritts von Sargsjan gab es die Information, dass er Militär,
Polizei und Geheimdienst, die ja alle gleichgeschaltet waren, angewiesen
hätte, alle Mittel gegen die Bewegung zu ergreifen, dass sich diese
Institutionen aber verweigert und für eine politische Lösung plädiert
hätten, eben auch weil die Bewegung gewaltfrei war. Ab dem Morgen des 23.
April haben sich auch immer mehr Militärs in Uniform der Bewegung
angeschlossen. Offiziere aus dem Karabach-Krieg haben dazu aufgerufen, sich
an den Protesten zu beteiligen.
GWR: Wie schätzt du Nikol Paschinjan ein, der am 8. Mai vom Parlament zum
Ministerpräsidenten gewählt wurde? Er war ja nach den Protesten von 2008
drei Jahre im Knast. Von ihm stammt auch die Benennung "samtene Revolution".
Er hat nach seiner Wahl gleich den Kampf gegen die Korruption begonnen.
Leonhard Bonaventura: Die Mehrheit der Bevölkerung findet Paschinjan
glaubwürdig. Im Parlament war er einer der Wenigen, der bisher als nicht
korrumpierbar galt. Viele vertrauen ihm auch, weil er immer die Bedingung
stellte, wenn er in Verhandlungen mit der Republikanischen Partei trat, dass
das öffentlich und vor der Presse stattfindet. Bisher war das so, dass, wenn
sich aus Protestbewegungen jemand hervortat, diese Person von der
Republikanischen Partei immer hinter verschlossene Türen geladen und ein
Deal gemacht wurde. Er hat diese Praxis beendet und deshalb einen großen
Vertrauensvorschuss, wie mir vielfach erzählt wurde.
Die erweiterten Befugnisse, die Paschinjan jetzt in seinem neuen Amt hat,
nutzte er zunächst, um die Posten, die Parteikader der Republikaner
innehatten, durch neue Leute zu besetzen. Der Kampf gegen die Korruption
wurde medienwirksam aufgenommen. Es gab zahlreiche Hausdurchsuchungen,
beispielsweise bei Ex-General Grigorjan, der für den Soldatensold
vorgesehene Gelder entwendete und sich damit einen Privatzoo finanzierte.
Die Raubtiere in seinem Privatzoo wurden mit Konservenfleisch gefüttert, das
eigentlich für die Versorgung der Soldaten gespendet worden war. Dessen
Anwesen wurde vor laufenden Fernsehkameras gestürmt, die Leute konnten
sofort Grigorians Luxusautopark sehen und zuschauen, wie er verhaftet wurde.
Die Bevölkerung war schockiert. Die Wut auf die Oligarchen, die
Republikanische Partei, die nur ein Mafiaclan ist, ist unermesslich.
Derlei Vorgehen kann aber auch nach hinten losgehen. In Georgien hatte
Saakaschwili direkt nach seiner Machtübernahme 2004 im Kampf gegen die
Korruption vor laufenden Kameras Leute in Unterhosen verhaften lassen. Das
wurde von der Bevölkerung irgendwann dann als entwürdigend und unanständig
erlebt. Der Kampf gegen Korruption geriet in Verruf, der Führungsstil der
neuen Regierung in Georgien wurde immer autoritärer. Armenien kann für einen
eigenen tiefgreifenden Wandel viel aus den Erfahrungen und Fehlern, die der
Nachbar im Norden seit der "Rosenrevolution" Ende 2003 gemacht hat, lernen.
All das wurde auf einer Veranstaltung, die ich besucht habe, diskutiert. Es
hieß dort, wichtig sei, dass eine Zivilgesellschaft aufgebaut werde und alle
wach hinschauen, wie sich die neue Regierung verhält.
Die Neuwahlen, die wahrscheinlich erst 2019 stattfinden, werden zeigen, wie
der Kampf gegen Korruption weiter gehen wird. Eine große Herausforderung
wird es sein, faire Wahlen zu organisieren. Bislang haben die Oligarchen und
die Republikanische Partei bei Wahlen üblicherweise Stimmen gekauft, und
dies zu verhindern bleibt schwierig. Da sich beispielsweise für große Teile
der Landbevölkerung bisher durch Wahlen nichts verändert hat, ist das
Interesse entsprechend gering. Was bisher in Jerewan passierte, hat für sie
keine Bedeutung gehabt. Für wenig Geld konnten sich die Republikaner ihrer
Stimmen sicher sein.
GWR: Ist die soziale Bewegung denn von Paschinjan abhängig oder agiert sie
unabhängig?
Leonhard Bonaventura: Sie kann sich potentiell auch gegen Paschinjan
richten. Paschinjan hat jetzt diesen Vertrauensvorschuss. Aber die Proteste
gingen auch weiter, zum Beispiel gegen ein Bauvorhaben in der Jerewaner
Innenstadt und gegen den Bürgermeister der Stadt, der dann auch zurücktreten
musste und gegen den ermittelt wird. Große Teile der Bevölkerung haben eine
positive Erfahrung gemacht, dies ist erst mal ermutigend. Darauf aufbauend
wird es auch wieder Proteste geben, wenn Paschinjan seine Ankündigungen
nicht umsetzt. Diese Ermächtigung kann in der Bedeutung für den Großteil der
armenischen Bevölkerung gar nicht überschätzt werden. In der gesamten
Gesellschaft tut sich jetzt etwas. Es gab nach der sogenannten "samtenen
Revolution" etwa auch Demos von Leuten, denen es um Reformen innerhalb der
orthodoxen Kirche ging, leider auch Demos von Rechten, wenngleich diese sehr
klein waren.
GWR: Gibt es über das Bestreben hinaus, die Korruption abstellen zu wollen,
ein weiter gehendes ökonomisches Programm für die verarmten Schichten?
Leonhard Bonaventura: Allgemein weiß man noch nicht so recht, wofür
Paschinjan steht und wie er sich politisch machen wird. Dass es nur besser
werden kann, darüber sind sich fast alle einig. Die Erwartungen sind groß,
aber er muss jetzt auch liefern. Als Wirtschaftsberater hat er einen
Wirtschaftsprofessor aus der US-amerikanischen, armenischen Diaspora
berufen, dessen Profil auf einen neoliberalen Kurs hindeutet.
Aber das neue Kabinett kommt aus der Bewegung, da sind viele junge Leute
drin, bisher war das Kabinett eine Ansammlung Korrupter. Aber die
Hauptauseinandersetzung geht nicht um den globalen Wirtschaftskurs des
Landes, sondern um die Abschaffung der unglaublichen Korruption, des
Einkaufens von Karrieren, Bildung und Berufen. Eine große Herausforderung,
um die er nicht herumkommt, wird aber sein, was gegen die große Armut im
Land zu tun. Paschinjan ist auch innerhalb kürzester Zeit, wahrscheinlich
selber überrascht, über die Dynamik der Straße in diese Position
reingewachsen. Ich denke, viele dieser Fragen hat er sich selbst kaum in
aller Ausführlichkeit und mit allen Konsequenzen gestellt. Auch muss er erst
mal zusehen, seinen Kurs transparent zu machen und demokratische Mehrheiten
für sich und seine Reformvorhaben zu gewinnen. Die Straße hat ihn ja
legitimiert und vielen Forderungen muss er jetzt Gehör verschaffen.
GWR: Wie ist nunmehr die Haltung zum Krieg Armeniens um Berg-Karabach?
Bleibt Aserbeidschan ungebrochen der Feind?
Leonhard Bonaventura: Aserbaidschan ist nach wie vor der ungebrochene Feind.
Man muss wissen, dass schon die Republikanische Partei hauptsächlich aus
Karabach-Leuten bestand. Ilcham Alijew, der aserbaidschanische Autokrat, hat
die immer als "Karabach-Clan" bezeichnet. Und Aserbaidschan hat vielleicht
gehofft, dass es mit Paschinjan etwas Neues gibt. Aber Paschinjan zeigte
sich bereits vor den Protesten durchaus noch nationalistischer und gegenüber
Aserbaidschan unversöhnlicher als die Republikaner es waren. Die
Republikanische Partei hat immer gehofft, dass es da mit Aserbaidschan zu
einer Annäherung kommt, aber die Gräben haben sich eher noch vergrößert.
Paschinjan hielt wohl eine friedliche Lösung mit Aserbaidschan noch weniger
für möglich als die Republikaner.
Während der Proteste gab es aserbaidschanische Truppenaufmärsche an der
Grenze zu Armenien. Wäre die Situation in Armenien unsicher geworden und
wäre ein politisches Vakuum entstanden, so war die Befürchtung, könnte das
aserbaidschanische Militär einen Militärschlag durchführen. An der Grenze
wird ohnehin immer wieder geschossen.
Es scheint, dass Paschinjan, auch wenn er Gandhi als großes Vorbild benennt,
überhaupt keinen Gedanken auch nur an die Möglichkeit verschwendet, dass die
Erfahrung, innenpolitisch einen Diktator mittels einer gewaltfreien
Massenbewegung gestürzt zu haben, auch außenpolitische, d.h.
antimilitaristische oder auch nur friedenspolitische Konsequenzen haben
sollte. Da geht es ihm in erster Linie um die Sicherheit Armeniens und
Karabachs. Da scheint bei ihm kein Zusammenhang zu bestehen. Sondern die
armenische Erfahrung des Genozids [an 1,5 Millionen Armenien 1915 im
Osmanischen Reich] lehrt ihn: "Nie wieder Opfer sein".
Hinzukommend werden die Aserbaidschaner*innen aus armenischer Perspektive
einfach mehrheitlich als "Osmanen" wahrgenommen. Eine gewaltfreie
Massenbewegung gegen die Diktatur in Aserbaidschan wäre für Frieden nicht
nur hilfreich, sondern nötig. Aber die gibt es derzeit nicht.
GWR: Bleibt Russland vorerst die vertraglich eingebundene Schutzmacht wie
bisher? Die Schutzmacht besonders auch gegenüber der Türkei, vor dem
historischen Hintergrund des Genozids an den Armenier*innen?
Leonhard Bonaventura: Da wird sich meines Erachtens und nach den Bekundungen
Paschinjans nichts ändern. In Armenien sind bis zu 5.000 russische Soldaten
stationiert und Armenien ist wirtschaftlich sehr stark auf Russland
angewiesen. Paschinjan hat sich schon früh mit russischen Diplomaten
getroffen, um den Kreml zu beruhigen und kein Eingreifen Russlands zu
provozieren. Paschinjan scheint es geschafft zu haben, geopolitische
Problematiken geschickt zu umschiffen und zurzeit als Partner akzeptiert zu
werden. Auch in Zukunft wird die neue Regierung weiterhin versuchen, in
Verbindung mit Russland zu bleiben, aber die Absicht ist auch erkennbar,
stärkere Beziehungen mit der EU einzugehen. Paschinjan hat übrigens das
gesamte außenpolitische Personal von der Vorgängerregierung übernommen. Im
Verhältnis zu Russland wird sich aus meiner Sicht in absehbarer Zeit also
nichts ändern. Das ist in den deutschen Medien überbewertet worden. Diese
geostrategischen Fragen, die in der Maidan-Bewegung 2013/14 in der Ukraine
so wichtig waren, haben hier quasi keine Rolle gespielt.
GWR: Welche eigenen Erlebnisse waren für dich prägend? Was hat dich
persönlich am meisten beeindruckt?
Leonhard Bonaventura: Eine solch riesige Protestbewegung habe ich vorher nie
gesehen. Beeindruckend war, dass oft die Polizei und Protestierende sich bei
den Demos körperlich nah standen und die Polizei überhaupt keine Angst
hatte, auch wenn sie gleichzeitig Leute festnahm. Die Leute haben sich gegen
ihre Festnahmen nicht gewehrt. Es wurde auf deren Seite schon fast als Ehre
erlebt, für kurze Zeit ins Gefängnis zu gehen, auch wenn gerade kurz vor dem
Rücktritt Sargsjans auch härtere Repression befürchtet wurde und die Angst
spürbar war. Die Gefängnisse waren aber überfüllt - schon vorher waren ja
die Gefängnisse in Armenien überbelegt. Alle Festgenommenen kamen auch
schnell wieder frei. Sie dürfen rechtlich nicht über eine bestimmte Zeit
hinaus festgehalten werden und daran hielt sich auch die Polizei.
In Jerewan nahmen an den Protesten jeden Tag immer mehr Menschen teil. Es
war unglaublich lebendig. Es gab auch die ganze Zeit Autokorsos. Die Leute
haben anfangs massenhaft die Nummernschilder von den Autos entfernt, um
darüber nicht verfolgt werden zu können. Viele fuhren in diesen Tagen viel
zu schnell. Das zweijährige Kind eines Bekannten wurde dadurch in einen
Unfall verwickelt und ist gestorben. Daraufhin hat Paschinjan dazu
aufgerufen, die Nummernschilder wieder anzubringen und langsam zu fahren.
Die Protestierenden befürchteten, angesichts von Autorasern mit solchen
Folgen, diskreditiert zu werden. Das wurde unmittelbar umgesetzt und
plötzlich fingen die Blockierer*innen bei Straßensperren Autos ab, die noch
ohne Nummernschilder umherfuhren. Die Insassen einiger Autos mit getönten
Scheiben, die keine Nummernschilder angebracht hatten und zu schnell fuhren,
entpuppten sich durch Kontrollen manchmal sogar als uniformierte Polizisten,
wie ich hörte. Sie wählten wohl diese Strategie, um so Verhaftungen
durchzuführen, aber auch, um die Bewegung in Verruf zu bringen.
GWR: Wie wichtig waren das Internet oder andere strategische Einflüsse von
außen?
Leonhard Bonaventura: Das Internet hat eine wichtige Mobilisierungsrolle
gespielt. Vieles lief direkt über Paschinjans Facebook-Account, den andere
weiter gemacht haben, als er trotz parlamentarischer Immunität während der
Proteste für zwei Tage im Gefängnis war. Vieles im Internet wurde aber auch
dezentral und in geschlossenen Gruppen organisiert. Auch haben einige
Landesteile in Armenien gar keinen Internetzugang. Nach dem Autounfall, bei
dem ein Kind getötet wurde, flaute die Bewegung in Jerewan etwas ab. Die
Bewegung verlagerte die Proteste dann in die Provinzstädte. Viele
AktivistInnen fuhren in langen Korsos hupend durchs Land. Das war für mich
sehr beeindruckend.
Das war im Timing durchdacht und gut organisiert. Wie über zwei Wochen
hinweg der Druck immer weiter aufgebaut wurde und sich zuletzt aus dem
ganzen Land unglaubliche Meldungen überschlugen, war beeindruckend. Schon zu
Beginn meines Aufenthalts in Armenien habe ich erfahren, dass die
Organisationsgruppe von Paschinjan 2017 in Belgrad war und da ein
Protesttraining der "Open Society Foundation" von Georges Soros besucht hat.
Das hat sich offenbar rentiert.
Eventuelle Spekulationen über westliche Interessen und in die
Protestbewegung fließende Gelder habe ich weder auf der Straße noch auf
Veranstaltungen als Thema wahrgenommen.
Die armenische Demokratiebewegung war für alle eine Überraschung, nicht
zuletzt auch für sie selbst. Unterstützt wurde sie durch strategische
Organisationskenntnisse einiger Aktivist*Innen, die sie sich im Vorfeld
angeeignet haben. Sicher gab es da auch interessengeleitete Bündnisse. Vor
allem aber die Erfahrungen der unmittelbaren Proteste waren entscheidend.
GWR: Könnte gesagt werden, durch diesen gewaltfreien Massenaufstand sei eine
Entwicklung hin zu einem festgezurrten autoritären Regime wie bei Putin oder
Erdogan verhindert worden?
Leonhard Bonaventura: Weit mehr: Da war ja schon ein festgezurrtes
autoritäres Regime. Das national-konservative Sargsjan-Regime bestand aus
Bürokraten, die noch in der Sowjetunion sozialisiert wurden. Sowohl Sargsjan
als auch sein Präsidenten-Vorgänger Robert Kotscharian, Präsident Armeniens
von 1998 bis 2008, waren Sowjet-Funktionäre gewesen. Das hatte schon eine
Struktur und Machtbasis, die man von Putin oder Erdogan heute kennt. Und
genau das wurde gebrochen, das war der Erfolg der Bewegung.
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Aus der Septemberausgabe der Graswurzelrevolution. Mittlerweile sind die
Parlamentswahlen in Armenien für Dezember angekündigt worden.
https://www.graswurzel.net/gwr/2018/09/der-gewaltfreie-aufstand-in-armenien/
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