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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 12. September 2018; 19:57
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Debatten

> "Europa hat uns zerstört"

Zu Migration und Kapitalismus

Für alle Texte in der akin gilt, daß sie auch Diskussionsbeiträge
darstellen, die kritisiert und diskutieren werden können und sollen. Bei
nachfolgendem Text der Linzer *Solidarwerkstatt* sei dies nochmal extra
betont, fordert er doch einen Sicht- oder Paradigmenwechsel in der Linken
bei der Beurteilung von Migrationsfragen. Hintergrund dieses Textes ist auch
das neuerschienene Buch von Hannes Hofbauer "Kritik der Migration. Wer
profitiert und wer verliert". Dort wird die Frage gestellt, ob Migration
nicht vor allem "ein wichtiger Bestandteil von Ausbeutungstrukturen" sei.
Doch wie soll die Linke damit umgehen -- ohne dem Nationalismus
rechtzugeben? Hofbauers Buch und dieser Text der Solidarwerkstatt könnten
eventuell Ausgangspunkte für eine sachliche Debatte sein, deswegen hier
diese Reproduktion:

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Tomas Sobotka vom Vienna Institute of Demography schätzt, dass rund 14
Millionen Menschen seit Anfang der 90er Jahre Zentral- und (Süd)Osteuropa
Richtung Westen verlassen haben. Die Bevölkerung ist seither in diesem Raum
um rund 23 Millionen oder mehr als 10 Prozent geschrumpft. Hinter diesen
Zahlen versteckt sich eine ungeheure Umverteilung von arm zu reich.

Auslöser für diese Wanderung waren in den 90er Jahren die neoliberalen
Schocktherapien des Internationalen Währungsfonds, beschleunigt in den
Nullerjahren durch die neoliberalen Schocktherapien der EU mit ihrem
marktradikalen Binnenmarktprogramm. Besonders hart betroffen ist z.B.
Bulgarien: 1,6 Millionen Menschen sind abgewandert, das entspricht rund
einem Drittel der derzeitigen erwerbsfähigen Bevölkerung. Der Anteil der
Auswanderer in der Altersgruppe 20 bis 45 Jahre liegt sogar bei über 41%
(sh. Tabelle). Besonders intensiviert hat sich dieser Abfluss von
Arbeitskräften mit dem EU-Beitritt der Mittel- und Osteuropäischen Staaten,
der mit der "Arbeitnehmerfreizügigkeit" die Arbeitsmärkte neoliberal
deregulierte. So sind schätzungsweise 2,2 bis 2,7 Millionen Arbeitskräfte
aus Polen seither nach Westeuropa abgewandert. Auch die Baltischen
Republiken bluten ökonomisch aus: Rd. 370.000 Litauer zogen seit dem
EU-Beitritt in den Westen. Die Bevölkerung Litauens ist seit den 90er Jahren
um 22% gesunken, die Lettlands gar um 26%.

Die südliche Peripherie Europas wurde durch die drakonischen
Austeritätsprogramme der EU wirtschaftlich devastiert. Immer weniger
Menschen finden Arbeitsplatz und Perspektive in diesen Ländern. Rund 450.000
GriechInnen und 695.000 PortugiesInnen haben in den letzten Jahren das Weite
gesucht.


Braindrain

Es sind mittlerweile vor allem junge, gut qualifizierte Menschen, die von
Ost bzw. Süd nach West bzw. Nord ziehen. Unter dem Begriff "Brain drain" ist
diese Migration in der entwicklungspolitischen Debatte schon lange bekannt.
Mit dem neoliberalen EU-Binnenmarktregime ist nun auch der europäische
Kontinent voll davon erfasst. Rund 30% der Auswanderer aus Griechenland
haben ein Studium absolviert; jede/r dritte Akademiker/in hat Estland
verlassen, 9 von 10 Studierende dieser baltischen Republik sitzen bereits
auf gepackten Koffern. Vor allem junge ÄrztInnen und Pflegekräfte verlassen
scharenweise den Osten und Süden Europas und bringen die Gesundheitssysteme
dieser Länder an den Rand des Kollapses. In Bulgarien ging seit 2000 die
Zahl der Pflegekräfte von mehr als 600 auf weniger als 450 je 100.000
EinwohnerInnen zurück. Seit dem EU-Beitritt sind 7.000 ÄrztInnen aus Ungarn
in den Westen gezogen, gemessen am heutigen Stand ist das jede/r vierte
Arzt/Ärztin. Aus Rumänien sind 21.000 ÄrztInnen seit den 90er Jahren
abgewandert, alleine 14.000 seit dem EU-Beitritt. Heute gibt es in Rumänien
noch rd. 40.000 ÄrztInnen. Jede/r 5. Arzt/Ärztin hat Polen verlassen. Damit
beginnt sich ein Teufelskreis zu drehen: 35% der Auswanderungswilligen geben
das schlechte Gesundheitssystem in Polen als Motiv für ihre Emigration an.

Das "Polen-Magazin" bringt die Stimmung vieler im Land zum Ausdruck: "Man
liefert dem westlichen Europa gut ausgebildete hoch motivierte
Arbeitskräfte, die gute Nettozahler für die dortigen Sozialsysteme sind -
und das quasi zum Nulltarif. Auf Dauer kann sich Polen das nicht leisten."


Ungeheure Umverteilung

Diese neoliberale Arbeitsmigration ist eine ungeheure Umverteilung von
relativ armen und zu relativ reichen Ländern. Wie eingangs festgehalten:
Schätzungsweise 14 Millionen - großteils junge, vielfach hochqualifizierte -
Menschen sind infolge der Marktliberalisierungen von (Süd-)Osteuropa nach
Zentraleuropa gezogen. Das ist mehr als die gesamte erwerbstätige
Bevölkerung Rumäniens und Ungarns zusammen, die addiert jährlich ein
Bruttoinlandsprodukt (BIP) von rund 340 Milliarden Euro erwirtschaften. Man
könnte sagen: Hirn- und Muskelschmalz, das 340 Milliarden Wertschöpfung
jährlich generiert, ist von Ost nach West abgesaugt worden. Das ist zwar
"nur" knapp 3% des jährlichen BIPs der Euro-Zone, aber rund ein Fünftel (!)
der Wirtschaftsleistung des gesamten (süd-)osteuropäischen Raums. Freilich
stehen dem Rücküberweisungen von EmigrantInnen gegenüber, aber diese ändern
nicht, ja zementieren sogar den peripheren Status der Abwanderungsländer.

Ein Beamter der nordrumänischen Stadt Certeze, die von 90% der
arbeitsfähigen Bevölkerung verlassen wurde, zieht bittere Bilanz: "Europa
hat uns zerstört."


Den neoliberal-rechtsextremen Doppelpass durchkreuzen!

Das EU-Konkurrenzregime entwickelt eine fatale Dynamik: Durch den Export von
Freihandelsregimen und durch eine Kriegspolitik, die oftmals der
Durchsetzung solcher Freihandelsregime dient (z.B. am Balkan, Libyen,
Ukraine, Syrien), wurden entsetzliche Flüchtlingstragödien ausgelöst. Diesen
Menschen, die vor Krieg und Verfolgungen fliehen, setzt die EU zunehmend die
brutale Militarisierung der Außengrenzen entgegen.

Gleichzeitig werden innerhalb des EU-Binnenmarktes alle Grenzen
niedergerissen, um die Arbeitenden in eine gnadenlose Konkurrenz
gegeneinander zu hetzen. Der Osten und Süden Europas blutet ökonomisch aus.
Doch auch in den EU-Einwanderungsländern gibt es Gewinner und Verlierer. Es
profitieren vor allem jene Unternehmen, die billige und qualifizierte
Arbeitskraft bekommen, ohne in deren Ausbildung investieren zu müssen.
Verlierer sind jene ArbeitnehmerInnen, die es ohnehin immer schwerer am
Arbeitsmarkt haben, weil sie weniger qualifiziert sind und oftmals selbst
migrantische Wurzeln haben. Der liberalisierte EU-Arbeitsmarkt stärkt die
Kapitalseite dauerhaft, indem diese ständig die Konkurrenzpeitsche schwingen
kann, um Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen zu machen.


"Ins Erbe des Heiligen Imperiums eintreten"

Das grausame Doppelspiel von mörderischem Grenzregime an den Außengrenzen
und neoliberal enthemmten Arbeitsmärkten im Inneren der EU entfaltet sich im
Doppelpass von Neoliberalen und Rechtsextremen. Erinnern wir uns: Die
rechtsextreme FPÖ gab - damals (wie heute) in einer Koalition mit der ÖVP -
grünes Licht für die EU-Osterweiterung und setzte damit eine zentrale
Forderung ihrer großindustriellen Förderer nach grenzenloser Deregulierung
der Arbeitsmärkte um. FPÖ-Ideologe Mölzer erläuterte den machtpolitischen -
konkret: deutschnationalen - Mehrwert der EU-Osterweiterung: "Die Geschichte
des Abendlandes . erfordert diese EU-Osterweiterung genau für jenen Bereich,
der einst vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation dominiert war. Erst
sie böte die Chance, dass die EU ins Erbe des Heiligen Imperiums eintrete.
[.] Die Deutschen können in diesem Europa wieder in ihre alte ,reichische'
Rolle hineinwachsen. . Das ist die Fortführung des alten, traditionellen
Auftrags der Deutschen."


"Macht der Gewerkschaften brechen"

Der neoliberale Wirtschaftsfachmann Marc Faber umreißt die Erwartungen des
Großkapitals: "Ich glaube, dass die Eingliederung osteuropäischer Länder für
den Euroraum sehr positiv sein wird, weil sie die Macht der Gewerkschaften
brechen dürfte".

Die Heinrich-Böll-Stiftung der deutschen Grünen versteht sich auf die
Synthese von Deutschnationalismus und Neoliberalismus. In Bezug auf die
wachsende Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften aus Griechenland
nach Deutschland heißt es in einer Studie der grünen Stiftung: "Ihre Flucht"
sei zwar für Griechenland "ein großer Verlust", für Deutschland aber "ein
großer Gewinn": "Deutschland . profitiert vom neugewonnenen dynamischen
Humankapital, das schnell und ohne große Investitionskosten in die nationale
Industrie und Wirtschaft einbezogen wird".

Die Neoliberalen wollen offene Grenzen, um billige Arbeitskräfte zu bekommen
und die Gewerkschaften in die Knie zu zwingen. Dieses brutale
Konkurrenzregime erzeugt massenhaft soziale Existenzängste. Die
Rechtsextremen kanalisieren diese Ängste in Hass gegen Flüchtlinge und die
Ärmsten der Gesellschaft, um die sozial Benachteiligten gegeneinander
auszuspielen und von den systembedingten Ursachen der sozialen Krisen
abzulenken. Und die "no border - no nation"-Skandierer sorgen dafür, dass
fortschrittliche Kräfte durch diesen neoliberal-rechtsextremen Doppelpass
regelmäßig ausgekontert werden.


Ja zum Recht auf Asyl! Nein zu deregulierten Arbeitsmärkten!

Die Solidarwerkstatt ist überzeugt, dass die fortschrittlichen Kräfte diesen
neoliberal-rechtsextremen Doppelpass nur mit einem Programm durchkreuzen
können, das auf zwei Eckpfeilern beruht:

1. Fluchtursachen bekämpfen, nicht Flüchtlinge! Also Schluss mit dem Export
von Freihandel, Krieg und völkerrechtsverletzender "Regime-Change"-Politik,
die Millionen von Menschen zu Flüchtlingen gemacht hat. Und: Eintreten für
eine humane Asylpolitik Österreichs, die Schutzsuchenden Zuflucht gewährt,
statt die EU-Dublin-Richtlinien zu exekutieren und an der Militarisierung
der EU-Außengrenzen mitzuwirken (Frontex, etc.). Nachsatz: Die Forderung
nach einem bedingungslosem "Bleiberecht für alle!" hat nichts mit einer
humanen Asylpolitik zu tun, sie bemäntelt neoliberale Arbeitsmigration und
globalen braindrain und stellt letztlich das Asylrecht in Frage.

2. Demokratische Regulierung des Güter-, Dienstleistungs-, Kapital- UND
Arbeitskräfteverkehrs statt des neoliberalen EU-Binnenmarkts! Nur so kann
eine auf Vollbeschäftigung und soziale Sicherheit orientierte Politik
durchgesetzt, eine schrankenlose Konkurrenz auf den Arbeitsmärkten
unterbunden und das Ausbluten der europäischen "Peripherie" verhindert
werden.
Beide Pfeiler erfordern die Rückgewinnung von demokratischer Souveränität
auf nationalstaatlicher Ebene. Deshalb kämpfen wir dafür, dass Österreichs
aus den neoliberalen EU-Verträgen aussteigt und die Unterordnung unter die
EU-Militarisierung beendet.

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Quelle:
https://www.solidarwerkstatt.at/arbeit-wirtschaft/europa-hat-uns-zerstoert



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