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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 29. August 2018; 16:51
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Vom Essen in Öffis:

> An der schönen blauen Spießigkeit

Eine manipulierte Online-Befragung. Ein paar beleidigte Bürgernäschen. Eine
Stadträtin, die sich hinter nicht existenten Mehrheiten versteckt. Und warum
das Essensverbot in Wiener U-Bahnen demokratisch bedenklich ist. *Christoph
Baumgarten* hat sich den jüngsten Unfug der Wiener Stadtregierung genauer
angesehen.


"Überwältigende Mehrheit für Essverbot auf allen U-Bahn-Linien", titeln die
Wiener Linien triumphierend auf ihrer Homepage und in ihrer
Presseaussendung.
Die Wiener Stadträtin Ulli Sima (SPÖ), zuständig für öffentliche
Verkehrsmittel, versteigt sich zur Behauptung: "Die hohe Beteiligung zeigt
uns, dass das Thema Essen in der U-Bahn die Menschen beschäftigt. Für uns
ist das Ergebnis ein klarer Auftrag: wir werden das Essverbot auf alle
U-Bahn-Linien ausweiten und ein generelles Essverbot umsetzen."
In Zahlen ausgedrückt: Die "hohe Beteiligung" bestand in 51.216 Usern, die
an einer Online-Umfrage der Wiener Linien zum Thema Essensverbot in der
U-Bahn teilgenommen hatten.
Die "überwältigende Mehrheit" bestand aus 37.453 Usern.
Wien hat knapp 1,9 Millionen Einwohner.
Umgelegt auf die Wiener über 16 wäre das eine Wahlbeteiligung von drei
Prozent. Etwas mehr als zwei Prozent hätten bestimmt, was die restlichen
97,x Prozent dürfen.
Trotz deutlicher Verluste bei der Gemeinderatswahl 2015: So am Sand ist die
Wiener SPÖ nicht, dass sie 37.453 als "überwältigende Mehrheit" zu
betrachten hätte.

Eine unseriöse, irrelevante Umfrage

Noch dazu, wo die Fragestellung der Online-Umfrage höchst suggestiv war.
"Welche Speisen sollen neben Kebab, Burger und Co. in Zukunft in der U6 tabu
sein?
Sind Sie für ein generelles Essverbot auf der U6?
Soll das Essverbot auf andere U-Bahnlinien ausgeweitet werden?"
In dieser Reihenfolge.
Die User konnten also nur über die Details eines Verbots abstimmen. Ob sie
Essensverbote überhaupt für sinnvoll halten, interessierte niemanden.
Auch war nicht sichergestellt, dass nur die Menschen abstimmen können, die
es betrifft.
Die User können genausgut aus Berlin oder Moskau gekommen sein.
Es war auch keine Sicherheitsschranke eingebaut, die verhinderte, dass
Menschen zweimal abstimmen.
Dem Autor dieser Zeilen sind zwei User bekannt, die mehrfach abgestimmt
haben.
Man kann diese Umfrage nur als unseriös, irrelevant und manipuliert
bezeichnen. Wie Online-Umfragen es generell sind.
Worin auch der Grund besteht, warum Online-Umfragen keine politischen
Entscheidungsinstrumente sind.
Außer, offenbar, man heißt Ulli Sima und sucht etwas, hinter dem man sich
verstecken kann.
Mit Bürgerbeteiligung und Demokratie hat das nichts zu tun.
Genausogut könnte man sagen, Pegida repräsentiere das deutsche Volk.

Eine Minderheit setzt sich durch

Das ist nicht das Einzige, was das Verbot so problematisch macht, das ab 15.
Jänner gelten soll.
Wieder mal hat sich eine kleine Minderheit berufsempfindsamer
Mittelschichtler lautstark durchgesetzt.
Und darf sich jetzt im Recht wähnen, als die Verkörperung der Rücksicht und
der Disziplin schlechthin.
Früher hätte man das Spießertum genannt, aber in der identitätspolitischen
Ära muss man sich nur zum Opfer stilisieren, um eigene Verbots- und
Bestrafungsfantasien zulasten Schwächerer durchzusetzen.
Die Angehörigen von Randgruppen und von sozial benachteiligten Schichten
haben meist so gut wie nichts davon.
Sie sind es, die hier die Rechnung bezahlen. Wie auch sonst meist.
Wer ist es denn, der meist in der U-Bahn isst, Schülerinnen und Schüler
ausgenommen?
Es sind Menschen, die keine Zeit haben.
Pendler, die am Tag oft zwei Stunden und mehr in öffentlichen
Verkehrsmitteln verbringen.
Alleinerziehende Mütter, die nach einer Neun-Stunden-Schicht an der
Supermarktkassa (wovon häufig nur acht bezahlt werden, der Rest ist
"Vorbereitungszeit") zum Kindergarten oder Schule hetzen, um das Kind oder
die Kinder abzuholen.
Berufstätige, die mehr als einen Arbeitsplatz unter den Hut bringen müssen,
um durchzukommen. Sehr häufig sind das Frauen und Migranten.
Bauarbeiter, die nach einem Tag harter körperlicher Arbeit Heißhunger haben.
Und ja, diese Leute ziehen sich oft Fastfood mit entsprechender
olfaktorischer Wirkung rein. Sie haben ja keine Zeit, richtig zu essen.
Genau dieses "stark riechende" Essen wird nicht ganz unrichtigerweise mit
der Arbeiterklasse verbunden.
Das hat es auch so leicht gemacht, dagegen zu mobilisieren.

Der Sieg über die Arbeiterklasse

Fast Food gilt feinen Bürgernasen ohnehin als Sünde, als Ausdruck von
Disziplinlosigkeit des Pöbels, der sich ums Verrecken kein Fünf-Gänge-Menü
leisten will.
Kulturlosigkeit! Gier! Kontrollverlust! Schlechter Geschmack! schreit einem
der saturierte Mittelschichtler vulgo Kleinbürger entgegen, wenn er an Fast
Food auch nur denkt. Und neuerdings vor allem "Rücksichtslosigkeit!"
Was denkt sich denn eigentlich die kleine Arbeiterin dabei, die gut
verdienende Angestellte - durchaus übrigens auch bei linken Organisationen -
durch ihr vielleicht stark riechendes Essen überhaupt an ihre Existenz zu
erinnern? Wie kann sie denn?
Wirft man ein, dass die Leute nicht in der U-Bahn essen, weil es dort so
gemütlich ist, sondern weil sie eben gehetzt sind, schreit es einem
entgegen: "Denen fehlt es eben an Zeitdisziplin."
Ja, wenn die Supermarktkassiererin schneller wäre als das Licht, wäre sie
vielleicht um 17 Uhr beim Kindergarten, um ihr Kind abzuholen und gemütlich
zu kochen, wenn sie um 18 Uhr 30 Dienstschluss hat. Dann könnte man ihr die
mangelnde Zeitdisziplin schon vorhalten.
Aber da war was mit einem gewissen Albert Einstein und seiner
Relativitätstheorie.
Das Argument "Zeitdisziplin" ist nichts als ein Schlagwort der finanziell
Privilegierten, die sich so ihrer moralischen Überlegenheit gegenüber denen
versichern, denen es nicht so gut geht.
Sie sind zu Recht da oben, wo sie eben sind. Sie sind eben besser als die
Anderen und haben ihre Privilegien eben verdient.
Das, und nichts anderes, besagt der Vorwurf, wer in der U-Bahn esse, habe
eben keine Zeitdisziplin.
Dass eine kleine Minderheit in einer roten Stadt dieses Verbot durchboxen
konnte, das vor allem zu Lasten der Werktätigen geht, zeigt, wie sehr sich
die politische Macht mittlerweile verschoben hat.

Ein Symptom einer gefährlichen Krankheit

Dass das ja nicht nur bei Essensverboten in U-Bahnen passiert, ist ein
Grund, warum sich die Arbeiterklasse heute als weitgehend ausgeschlossen von
politischen Entscheidungen empfindet.
Dieser Mittelschichtsautoritarismus ist Symptom einer besorgniserregenden
Entwicklung der Politik.
Die Politik hat sich weitgehend von wirtschaftlichen Prozessen
verabschiedet. In Wien weniger als anderswo, aber selbst hier.
Wenn Politik in die Wirtschaft eingreift, ist es seit drei Jahrzehnten
praktisch ausschließlich zugunsten der Wohlhabenden.
Unternehmerische Logik dominiert heute breite gesellschaftliche Prozesse.
Reallöhne sinken, Arbeitszeiten und Arbeitsdruck steigen, die
Entscheidungsautonomie der Beschäftigten über ihr Leben - auch außerhalb der
Arbeit - sinkt, die Planungssicherheit ebenso.
Diesen Kontrollverlust kompensiert Politik in der westlichen Welt mit
Identitätspolitik und Verbotsorgien auf Nebenschauplätzen, die zu
Zukunftsfragen der Menschheit stilisiert werden.
Die suggerieren, Politik habe noch die Macht, Gesellschaft zu gestalten.
Und sie binden artikulationsfähige Gruppen der Gesellschaft mit ein, die
ihre eigenen Be- und vor allem Empfindlichkeiten zum Maß aller Dinge machen.
Wie etwa das olfaktorische Empfinden von ein paar Bürgernäschen in Wien zum
Maßstab für Rücksicht beziehungsweise Rücksichtslosigkeit der arbeitenden
Klassen wurde.
Da wird der öffentliche Raum von einer Zone, in der gezwungenermaßen
Kompromisse getroffen werden müssen, zur Wellnessoase der Privilegierten.
Diesen Gruppen - meist Mittelschichtlern, die genauso vom Kontrollverlust
über ihr eigenes Leben betroffen sind wie Schlechterverdienende -
suggerieren diese Prozesse, sie hätten Kontrolle über ihr Leben und vor
allem über das Anderer.
Ohnmacht wird zu einem Machtgefühl umgemünzt. Es ist der gleiche Prozess,
der hinter dem steigenden offenen Rassismus in westlichen Gesellschaft
steckt: Die berechtigten sozialen Abstiegsängste breiter gesellschaftlicher
Gruppen werden durch Dauerhetze in Wut auf die vermeintlichen Verursacher
des befürchteten Abstiegs umgemünzt. Aus dem Ohnmachtsgefühl Angst wird das
Machtgefühl Hass.
Es ist Politik per Placebo.
Entscheidend ist nicht, welche realen Probleme gelöst werden - von
steigenden Mieten über sinkende Reallöhne zu steigender Arbeitszeit oder dem
Klimawandel etwa - sondern, wer sich nach einer politischen Maßnahme besser
fühlt.
Das ist gefährlich.
Es bestärkt nur die Berufssensiblen, die Schreihälse, die Dauerempörten.
Es entfremdet die Benachteiligten von Politik schlechthin. Führt ihnen vor,
dass sie nichts zu entscheiden haben, dass es für sie nichts zu entscheiden
gibt, dass ihre Anliegen ohnehin egal sind.
Gesellschaft zerfällt in Partikularinteressen. Wie einst Margarete Thatcher
sagte: "There is no such thing as society".
Eine bessere Gesellschaft für die Mehrheit ihrer Mitglieder wird so
undenkbar.
Das sollte vor allem einer roten Stadtregierung zu denken geben.

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https://balkanstories.net/kontrapunkte/an-der-schoenen-blauen-spiessigkeit/





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