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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 28. März 2018; 13:32
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Demokratie:

> Wenn PolitikerInnen nicht mehr weiter wissen

Verfahren wie der Bürgerrat können Demokratien mit Legitimationsproblemen
weiterhelfen: Das beste Beispiel ist Irland, wo ein Bürgerrat 2015 die
Gleichstellung homosexueller Paare im Eherecht politisch ebnete. Auch andere
heikle Themen wie das absolute Abtreibungsverbot werden in Irland nun
mittels Referendum entschieden. Kann das gut gehen? *Ina Freudenschuss* auf
reflektive.at
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Den repräsentativen Demokratien westlicher Prägung scheint in den letzten
Jahren die Puste auszugehen. Sinkende Wahlbeteiligung, populistische
Wahlkämpfe, starke politische Polarisierung innerhalb der Bevölkerungen und
eine tiefe Vertrauenskrise gegenüber der politischen Ebene gehören zu den
Kennzeichen moderner Demokratien, die nach Colin Crouch immer öfter als
Post-Demokratien bezeichnet werden können.

Ratlosigkeit bei den politischen Parteien

Was gegen diese Phänomene unternommen werden könnte, darüber herrscht vor
allem bei etablierten Parteien weitgehend Ratlosigkeit. Rechtspopulisten wie
die FPÖ in Österreich oder auch die AFD in Deutschland schwören auf die
Mittel der direkten Demokratie (also Referenden und Volksabstimmungen), um
die Demokratie wieder zu beleben. KritikerInnen fürchten dadurch jedoch
vorschnelle, undurchdachte politische Entscheidungen, die die
Politikverdrossenheit sogar noch erhöhen könnten - wenn Volksbefragungen im
Anschluss zum Beispiel aus rechtlichen Gründen erst wieder nicht umgesetzt
werden können. So wurde in der Schweiz 2009 zum Beispiel ein Minarett-Verbot
via Volksentscheid beschlossen, doch dieses steht ganz klar im Widerspruch
zur verfassungsrechtlich garantierten Religionsfreiheit in der Schweiz.

Ob es also sinnvoll ist, über gesellschaftspolitisch sensible Themen wie
religiöse Symbole, Schwangerschaftsabbruch oder auch die Ehe für alle die
WählerInnen zu befragen - das verneinen SkeptikerInnen der direkten
Demokratie seit Jahren. Und doch gibt es Initiativen in anderen EU-Ländern,
die genau dies machen und dabei unerwartete politische Lösungen erarbeiten.
Irland dient heute als Beispiel für ein BürgerInnen-Beteiligungsverfahren,
das demokratiestärkend wirkt und erstaunlich tragfähige politische
Positionen hervorbringt.

Kind der Wirtschaftskrise

Historisch betrachtet ist der Bürgerrat (die "Citizen Assembly") eine Folge
der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008, von der Irland besonders
schwer getroffen wurde und eine tiefe politische Vertrauenskrise in der
Bevölkerung freigesetzt hatte. In den Jahren 2012 bis 2014 wurde von der
irischen Regierung deshalb eine Verfassungsversammlung ("Constitutional
Convention") eingesetzt, um über verschiedene Verfassungsfragen zu
debattieren. Die Versammlung sollte helfen, das verlorene Vertrauen in die
politischen Institutionen zurückzugewinnen und die Politik in besonders
schwierigen politischen Fragen beraten. Im katholisch geprägten Irland sind
das zum Beispiel Themen wie das Abtreibungsverbot oder auch die rechtliche
Anerkennung von Homosexualität. Im Jahr 2016 beschloss die irische Regierung
erneut, eine "Citizen Assembly", einen Bürgerrat, ins Leben zu rufen.

Bürgerräte werden per Los gewählt

Das demokratiepolitisch besondere an diesen BürgerInnenversammlungen ist,
dass die Mehrheit der im Gremium vertretenen BürgerInnen keine
PolitikerInnen sind, sondern per Los gewählte und repräsentativ für die
Allgemeinbevölkerung stehende BürgerInnen. In Irland besteht das Gremium aus
66 gelosten Personen, 33 PolitikerInnen und einem/einer Vorsitzenden
(insgesamt 100 Personen). Der Bürgerrat tagt über mehrere Monate zu einem
spezifischen Thema, jeweils an den Wochenenden, wobei Menschen mit
Betreuungspflichten mit Pflege- und Betreuungsangeboten versorgt werden.
Familiäre Verpflichtungen dürfen nicht verhindern, dass ein/e BürgerIn an
diesem Prozess teilnehmen kann.

Zu den Treffen werden ExpertInnen eingeladen, die Fachwissen über die
politische Frage einbringen. In verschiedenen Diskussionsformaten
diskutieren die folglich informierten Nicht-ExpertInnen zum Thema und geben
schließlich auch ihre Stimme ab. Die Ergebnisse dieser Abstimmungen wie auch
die Protokolle aller Sitzungen sind auf der Homepage der irischen
Bürgerversammlung öffentlich einsehbar und damit völlig transparent.

Wichtig ist, dass die Bürgerversammlung keine bindenden Entscheidungen für
das Parlament fällt. Am Ende des Beratungsprozesses steht ein Bericht mit
Empfehlungen, der vom Parlament behandelt werden muss. Oftmals folgen daraus
Referenden zur Befragung der gesamten irischen Bevölkerung.

Völlige Gleichstellung im Eherecht

So geschehen nach den Bürgerrats-Beratungen zur Gleichstellung von
Homosexuellen im irischen Eherecht. Die Verfassungsversammlung war 2013 mit
der Frage befasst worden, ob die irische Verfassung geändert werden sollte,
um auch gleichgeschlechtlichen Paaren die zivile Ehe zu ermöglichen. Nach
monatelangen Beratungen stimmte die Versammlung dafür. Anschließend wurde
der Bericht im irischen Parlament behandelt und die Entscheidung fiel auf
ein Referendum.

Im Sommer 2015 war es schließlich so weit - das erzkatholische Irland
entschied über die Frage, ob schwule und lesbische Paare ebenfalls heiraten
dürften. Und für viele überraschend: 62,1 Prozent stimmten trotz erbitterten
Widerstands der katholischen WürdenträgerInnen dafür, die irische Verfassung
mit einem Zusatz zu erweitern, der das Geschlecht beim Zugang zum
Rechtsinstitut Ehe irrelevant macht. Damit wurde Irland zum ersten Land
weltweit, das eine völlige Gleichstellung homosexueller Paare auf Grundlage
einer Volksbefragung beschloss.

Abtreibung

Im Jahr 2017 wurde ein Bürgerrat zum Thema Abtreibung einberufen. Irland
zählt zu den Ländern mit dem striktesten Abtreibungsverbot weltweit. Der
Abbruch ist nur erlaubt, wenn das Leben der Mutter durch die Schwangerschaft
in Gefahr ist. Im 8. Zusatz der irischen Verfassung ist seit 1983 verankert,
dass das Lebensrecht des Ungeborenen gleichwertig zum Lebensrecht der
Schwangeren zu sehen ist. Die irische Verfassung verfügt demnach über ein
absolutes Abtreibungsverbot.

Genau über diesen Zusatz verhandelte der Bürgerrat und kam zu der
Übereinkunft, dass der Zusatz zwar nicht ersatzlos gestrichen werden soll,
jedoch das gewählte Parlament an dieser Stelle autorisiert werden soll, in
der Abtreibungsgesetzgebung aktiv werden zu können. Seither ist die irische
Regierung mit der Organisation eines Referendums in dieser Frage
beschäftigt.

Am internationalen Frauentag, dem 8. März 2018, wurde nun der
Abstimmungstext der Öffentlichkeit präsentiert: die Bevölkerung wird Ende
Mai befragt werden, ob der 8. Zusatz der irischen Verfassung ersatzlos
gestrichen werden oder bleiben soll.

Bürgerräte auch in Österreich

Die demokratiepolitische Entwicklung von Irland in den letzten zehn Jahren
mutet erstaunlich an und wirft die Frage auf, ob das Modell der Bürgerräte
auch in anderen europäischen Ländern Zukunft hätte. Zumindest für Österreich
kann festgehalten werden, dass es bereits Erfahrungen mit Bürgerräten gibt.
Allerdings handelt es sich dabei um kleinere politische Projekte auf
Gemeinde- oder Stadtebene, nicht jedoch um bundesweite Bürgerräte mit
parlamentarischer Legitimität.

Ein Beispiel dafür ist das "Vorarlberger Modell" - es wurde seit 2006
bereits 41 mal auf Gemeinde, Region oder Landesebene durchgeführt.
Vorarlberg ist auch das einzige österreichische Bundesland, in dem die
partizipative Demokratie (d.h. das Recht auf Bürgerräte) in die
Landesversammlung aufgenommen wurde.

Auch in anderen Bundesländern, wie beispielsweise in Kärnten, werden zur
Lösung verfahrener politischer Probleme zunehmend Bürgerräte ins Leben
gerufen. Voraussetzung für das Gelingen solcher Projekte ohne legistische
Grundlage ist es, im Vorfeld die Unterstützung und Anerkennung der
politischen VertreterInnen zu erreichen.

Bereicherung für die direkte Demokratie

Bürgerräte stellen also eine Spielart der direkten Demokratie dar, in der
der Inhalt der Debatte nicht "vom Volk" bestimmt wird, sondern von den
politischen VertreterInnen. Die Auseinandersetzung ist spezifisch und
transparent und ermöglicht im besten Fall eine politische Lösung jenseits
vorgefertigter und polarisierter Gruppeninteressen, die im ordentlichen
Gesetzgebungsverfahrung beziehungsweise bei der Entscheidungsfindung auf
Gemeindeebene oft ein Problem erzeugen oder gar unlösbar machen. Bürgerräte
können also als Teil oder Helfer der politischen Institutionen verstanden
werden . Und Hilfe kann das politische System Demokratie ja derzeit gut
gebrauchen. ###

Quelle:
http://reflektive.at/allgemein/wenn-politikerinnen-nicht-mehr-weiter-wissen/


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