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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Freitag, 26. Januar 2018; 21:34
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International:

> Türkische Truppen in Syrien: Ausweitung der Kampfzone

Erdogans Krieg gegen die syrisch-kurdische Region Afrin gefährdet
Zivilbevölkerung, Vertriebene und die religiöse Minderheit der Jesiden --
Thomas Schmidinger über Geschichte und derzeitige Situation der Region.
(Stand 22.Jänner 2018)
*

Womit der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seit über einem halben
Jahr gedroht hatte, wird seit Sonntagfrüh umgesetzt: Die türkische Armee und
ihre syrischen Verbündeten haben die kurdische Region Afrin (kurdisch Efrin)
im Nordwesten Syriens angegriffen und versuchen diese nun mittels
Bodentruppen und Panzern zu erobern. Unter den türkischen Verbündeten
befinden sich auch jihadistische Gruppen, was insbesondere bei den
Angehörigen der religiösen Minderheit der Jesiden Angst vor einer
Wiederholung jener Gräueltaten aufkommen lässt, die ihre Glaubensbrüder im
Irak 2014 durch den IS erleiden mussten.

Im Sommer 2012 hatten kurdische Einheiten auch hier, im Westen des
kurdischen Siedlungsgebietes Syriens, die Region kampflos von der syrischen
Armee übernommen. Im Hügelland des Kurd Dagh, des "Kurdenberges", wurde
seither eine autonome Verwaltung aufgebaut, die seit 2016 Teil der
Demokratischen Föderation Nordsyriens ist. Im Gegensatz zum Osten des
kurdischen Siedlungsraums in Syrien, galt Afrin schon seit den 1980er-Jahren
als Hochburg der in der Türkei gegründeten Arbeiterpartei Kurdistans PKK.
Traditionell hatten diejenigen Parteien, die sich eher an Irakisch-Kurdistan
orientierten, ihre Hochburgen in der östlichen Region Jazira (Cizire),
während die PKK - und ab 2003 ihre syrische Tochterpartei, die Demokratische
Unionspartei PYD - ihre Hochburgen stärker in Kobane und in Afrin hatten.
Schon in den 1990er-Jahren gelang es der PKK in einem Klima der politischen
Liberalisierung in Afrin sogar sechs "Unabhängige" ins syrische Parlament zu
bringen.

Die stark landwirtschaftlich geprägte Region, in der Millionen von
Olivenbäumen den Bauern ihre Existenzgrundlage sichern, ist allerdings auch
von religiöser Diversität geprägt. In der Region gibt es viele
frühchristliche Spuren. Eine Familie der heute fast völlig abgewanderten
armenische Gemeinde brannte hier bis zu Beginn des Bürgerkrieges den
berühmtesten Anisschnaps Syriens, den "Batta Arak".

In Afrin gibt es allerdings auch die einzige Stadt mit einer alevitischen -
nicht alawitischen - Minderheit Syriens und das größte Siedlungsgebiet der
Jesiden in Syrien. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehörte noch eine Mehrheit
der kurdischen Bewohner dieser eigenständigen Religionsgemeinschaft an, die
immer wieder Opfer von Verleumdungen und Verfolgungen waren.

Zufluchtsort der Jesiden

Der berühmte französische Orientalist und Kurdologe Roger Lescot, Begründer
des Lehrstuhls für Kurdisch an der Ecole Nationale des Langues orientales in
Paris und Entwickler der Grammatik Kurmanci - gemeinsam mit Celadet Ali
Bedirxan -, kam in seiner in den 1930er-Jahren durchgeführten Untersuchung
bei den Jesiden in Syrien und im Irak zu dem Schluss, dass die Jesiden seit
dem 13. Jahrhundert in die Region kamen und sich um Afrin niederließen. Die
meisten jesidischen Dörfer liegen genau zwischen der Stadt Afrin und der am
18. September 2013 vom "Islamischen Staat im Irak und Sham" von anderen
Oppositionsgruppen eroberten Stadt Azaz, sowie von dort nach Süden über den
westlich vom eigentlichen Kurd Dagh gelegenen Gebirgsmassiv des Jebel Siman
(Simonsberg). Dieses nach Symeon Stylites dem Älteren benannte Gebirgsmassiv
mit seinen Dörfern Berade, Birce Hedre, Basufane und Kimare, das auf
Kurdisch als Ciyaye Lelun bezeichnet wird und durch das Afrin-Tal vom
eigentlichen Kurd Dagh getrennt ist, bildet das Kerngebiet der Jesiden in
der Region Afrin und zugleich das größte geschlossene Siedlungsgebiet der
Jesiden in Syrien. Die insgesamt 26 jesidischen Dörfer der Region liegen
seit den Jahren 2012 und 2013 direkt an der Frontlinie mit rivalisierenden
arabischen und jihadistischen Oppositionsgruppen, von denen einige nun einen
Teil der Bodentruppen der türkischen Invasion bilden.

Die seit 2012 von der Demokratischen Unionspartei PYD eingeführte
Selbstverwaltung schützte auch die Jesiden vor jihadistischen Angriffen und
integrierte sie in das politische System der Region. Zwar führte die
Interpretation des Jesidentums als Variante des Zoroastrismus, der von
Zarathustra gegründeten vorislamischen Religion des Iran, wie sie von der
PYD und PKK betrieben wird, immer wieder zu Auseinandersetzungen mit
Jesiden, die sich dieser Neuinterpretation ihrer Religion widersetzten.
Allerdings erkannten auch PYD-kritische Jesiden die Bedeutung, die die
kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG und Frauenverteidigungseinheiten
YPJ für die Verteidigung der Region gegen jihadistische Gruppen hatten und
haben, an. Diese von der PYD gegründeten Einheiten hatten 2014 auch für die
irakischen Jesiden eine wichtige Rolle im Kampf gegen den IS gespielt und
stellen nun für die syrischen Jesiden die einzige Hoffnung gegen die Türkei
und ihre Verbündeten dar. Jesidische Mitglieder der PYD konnten in der
kurdischen Verwaltung wichtige politische Positionen erringen und auch die
Premierministerin der Region, Hevi Ibrahim Mustefa, gehört einer religiösen
Minderheit ein: Sie ist Alevitin.

Ziviles Leben im Bürgerkrieg

Die 1951 geborene Premierministerin ist die einzige Frau in einem
vergleichbaren Amt in ganz Syrien. In der traditionell sehr säkularen Region
werden Frauenrechte sehr hoch geschrieben. Afrin besitzt ein Kultur- und
Geistesleben, das durch den Zuzug kurdischer Intellektueller seit 2012
profitiert hat. Einige von ihnen haben 2015 die erste kurdische Universität
in ganz Syrien gegründet, ein Jahr bevor die Universität in Qamischli ihre
Pforten öffnete. Der lebendige Bazar der Stadt besitzt trotz ökonomischer
Blockaden durch die türkischen Nachbarn eine überraschende Vielfalt an
Waren. In der kleinstädtischen Mittelschicht gibt es einen Bedarf nach
europäischen Cafes und syrischen Restaurants.

Die Region wurde seit 2012 allerdings auch zum Zufluchtsort für
hunderttausende Vertriebene aus andere Teilen Syriens, insbesondere aus dem
lange umkämpften Aleppo. Nicht nur Kurden aus den umkämpften Städten,
sondern auch zehntausende Araber wurden seit 2012 in Afrin aufgenommen. Auch
wenn sich viele nur notdürftig als Tagelöhner über Wasser halten konnten, so
fanden sie hier zumindest Sicherheit, notdürftige Unterkünfte für ihre
Familien und Zugang zu Schulbildung für ihre Kinder.

Kampf gegen die PKK

All dies ist nun durch den Angriff der Türkei und ihrer verbündeten Milizen
gefährdet. Bereits seit Monaten werden grenznahe Dörfer in Afrin von
türkischem Boden aus beschossen. Die am Sonntag begonnene Offensive hat
jedoch einen anderen Charakter: Mit Bodentruppen will die Türkei nun die
kurdische Verwaltung, die sie aufgrund ihrer Nähe zur PKK als
Terrororganisation betrachtet, vernichten. Die türkische Regierung hat dabei
auch keine Hemmungen, für ihre Invasion Waffen zu verwenden, die ihnen ihre
Nato-Partner in den letzten Monaten geliefert hatten. Die regierungsnahe
türkische Zeitung "Milliyet" veröffentliche Fotos von der Invasion, bei der
deutsche Leopardpanzer zu sehen waren. Deren Produzenten, die Firma
Rheinmetall, hatte schon vor dem türkischen Angriff gegen Afrin eine
Nachrüstung der türkischen Leopard II Panzer angekündigt und plant die
Errichtung einer Panzerfabrik in der Türkei. Bei Luftangriffen waren am
Sonntag in der Stadt selbst und in mehreren Dörfern Kämpfer und Zivilisten
ums Leben gekommen. Die konkreten militärischen Erfolge der Türkei und ihrer
Verbündeten sind allerdings unklar. Kurdische Quellen meldeten am
Sonntagabend, dass Angriffe der Bodentruppen abgewehrt werden konnten,
während türkische Quellen militärische Erfolge und die Einnahme eines Dorfes
meldeten.

Russisch-Türkische Deals

Unklar war zunächst auch das Verhalten Russlands, das nach den Siegen des
syrischen Regimes zum wichtigsten Machtfaktor im Land wurde und sich mit den
USA auf eine Demarkationslinie entlang des Euphrats geeinigt zu haben
scheint. Während Russland eine Einigung mit der Türkei ebenso dementierte,
wie den von türkischen Medien gemeldeten Abzug der russischen Truppen aus
dem von Afrin kontrollierten Luftwaffenstützpunkt Menagh, so melden
kurdische Quellen, dass es einen Deal zwischen Russland und der Türkei
gegeben habe, der der Türkei die Invasion in Afrin erlaube. Tatsächlich ist
es schwer vorstellbar, dass die Türkei einen Angriff mit Bodentruppen gewagt
hätte, wenn Russland nicht die Bereitschaft signalisiert hätte, diesen
hinzunehmen. Das monatelange Zögern der Türkei und die langen Drohungen
Erdogans, sind nur mit dem bisherigen Veto Russlands zu erklären, ein Veto
das offenbar Geschichte ist. Was Russland dafür von Erdogan erhalten hat,
ist unklar.

Immer deutlicher wird jedoch eine weitere Intention Russlands: Die Angriffe
der Türkei sollen die Kurden in die Arme des Regimes treiben. Schon im
Dezember 2017 wurde im kurdischen Viertel von Aleppo, Sexmeqsud, das seit
2012 unter Kontrolle der YPG steht, erstmals wieder die syrische Fahne
gehisst, ohne dass das Viertel von der syrischen Armee erobert worden wäre.
Vielmehr stellte die partielle Reintegration des von etwa 30.000 Menschen
bewohnten Viertels eine Grundvoraussetzung für die Auflösung der Blockade
des Stadtteils dar. Im Gegenzug begann Ende 2017 die Lieferung von
Treibstoff und Lebensmitteln nach Sexmeqsud. Eine solche schrittweise
Reintegration unter die Herrschaft des Regimes wäre eine mögliche Reaktion
auf den anhaltenden Druck der Türkei. Bereits im Dezember spekulierten
russische Medien damit, dass ein ähnlicher Schritt auch in Afrin gesetzt
werden könnte. Aldar Khalil, ein führendes Mitglied der "Bewegung für eine
Demokratische Gesellschaft" (TEV-DEM), der Massenorganisation der PYD,
erklärte am Sonntagnachmittag, dass Russland offen Druck auf die Verwaltung
von Afrin ausgeübt habe, die Region wieder dem Regime zu überlassen, damit
dieses Afrin gegen die Türkei verteidigen könne. Die kurdische Seite habe
dieses "Angebot" allerdings abgelehnt.

De facto Aufruf zum Jihad

Während die türkische Armee und ihre verbündeten Milizen weiter versuchen
syrisches Territorium zu besetzen, wurde in türkischen Moscheen am Samstag
auf zentrale Anordnung des Türkischen Amts für Religion (Diyanet) durch die
Rezitation der Sure 48 (al-Fatah, der Sieg) de facto zum Jihad aufgerufen.
Die türkische Öffentlichkeit, die seit Monaten massiver Propaganda gegen die
Kurden ausgesetzt ist, wird auf allen Ebenen gegen den Versuch der
kurdischen Selbstverwaltung im Nachbarland mobilisiert. Sollte die Türkei
wirklich die gesamte Feuerkraft seiner Armee einsetzen, ist ein
militärischer Sieg der kurdischen Seite wohl kaum vorstellbar.

Auch internationale Proteste hielten sich bislang in Grenzen. Aus Österreich
war bisher nur vom EU-Abgeordneten Josef Weidenholzer Protest zu hören und
auch sonst meldeten sich innerhalb der EU bisher lediglich einige Vertreter
von Linksparteien zu Wort. Verurteilt wurde das türkische Vorgehen bislang
von Frankreich und den USA, die Uno tagt am Montag. Von Deutschland oder
Österreich, dessen Außenministerin eine baldige Türkei-Reise angekündigt
hatte, waren bislang keine Proteste zu hören.

Die Türkei würde allerdings wohl nur auf massiven internationalen Druck
reagieren. Solange dem türkischen Präsidenten Erdogan vermittelt wird, dass
er mit dieser Kriegspolitik davonkommen wird, weiterhin als Nato-Mitglied
willkommen ist und europäischen Panzer und andere Waffen erhalten wird, wird
die türkische Regierung keinen Grund sehen, ihre Aggression gegen Afrin
abzubrechen.
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Zuerst veröffentlicht auf dem User-Blog von Standard.at. Nachdruck mit
freundlicher Genehmigung des Autors. Aus technischen Gründen wurden einige
diakritische Zeichen nicht übernommen. Wir bitten diesbezüglich um
Verständnis.

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