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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 29. November 2017; 22:46
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International:
> Chaos säen
Die Website german-foreign-policy.com sieht die Ukraine tief im
Korruptionssumpf
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Vier Jahre nach dem Beginn der Maidan-Proteste am 21. November 2013 dauern
die Missstände, die damals zu den Auslösern der Demonstrationen zählten, in
der prowestlich gewendeten Ukraine an. Dies gilt unter anderem für die
ungebrochene Macht der ukrainischen Oligarchen. Bereits vor einem Jahr
stellten Experten fest, dass sich zwar Verschiebungen zwischen den
unterschiedlichen Oligarchenfraktionen vollzogen hatten [1]. Das ändere
jedoch, hieß es, nichts daran, dass sie weiterhin die Kiewer Politik in
hohem Maß unter Kontrolle hätten. Aktuelle Untersuchungen bestätigen das. In
den vergangenen zwei Jahrzehnten habe sich gezeigt, "dass die periodischen
politischen Regimewechsel in der Ukraine nur eine begrenzte Wirkung auf das
oligarchische System gehabt" hätten, urteilen etwa die Autoren einer Analyse
der Swedish International Development Cooperation Agency (Sida). Auch nach
dem Umsturz vom Februar 2014 beherrschten Oligarchen "strategische
Wirtschaftszweige"; so kontrollierten sie - nur ein Beispiel - rund 80
Prozent des Fernsehmarkts.[2] Bei dem Brüsseler Think-Tank Bruegel heißt es
ebenfalls, nach dem Umsturz habe sich "nicht viel geändert"; der Einfluss
mancher Oligarchen habe sich sogar noch verstärkt.[3] In der Tat lenkt seit
2014 mit Petro Poroschenko ein Oligarch ganz offiziell die Geschicke des
Landes - als Staatspräsident.
Korruption und Fake News
Entsprechend hält die Korruption auf hohem Niveau an. Erst kürzlich ist -
beispielsweise - ein Fall bekannt geworden, bei dem der Sohn von
Innenminister Arsen Awakow Rucksäcke an die Armee verkaufte - für das
Sechsfache des üblichen Preises. Von einem Schaden in einer sechsstelligen
Euro-Höhe war die Rede. Als das Nationale Antikorruptionsbüro die Wohnung
des Mannes durchsuchte, schritt die dem Innenminister unterstehende
Nationalgarde ein und stoppte die Maßnahme - unter dem Vorwand, eine
Bombendrohung für das Haus erhalten zu haben und nun die Wohnung räumen zu
müssen.[4] Der Fall war im Vergleich zu anderen geringfügig. Mit scharfer
Kritik meldet sich immer wieder Sergej Leschtschenko zu Wort, ein
überzeugter Befürworter des Umsturzes, der von 2000 bis 2014 als
investigativer Journalist für die prowestliche Tageszeitung Ukrainska Prawda
arbeitete, sich danach ins ukrainische Parlament wählen ließ und dort dem
Antikorruptionskomitee angehört. Im Parlament, berichtet Leschtschenko,
"liegt die Korruption in der Luft"; das werde bei Abstimmungen über den
Haushalt besonders deutlich: Dann dauerten "die Parlamentssitzungen ... bis
fünf Uhr morgens, weil die korrupten Interessen aller politischen
Einflusszentren befriedigt werden müssen".[5] Leschtschenko zufolge wird
nicht nur die Generalstaatsanwaltschaft vom Präsidenten persönlich
kontrolliert, sondern auch der Geheimdienst, der "zivilgesellschaftliche
Aktivisten, unabhängige Journalisten und Oppositionspolitiker" überwacht und
"bei der Regelung von Unternehmenskonflikten" eingreift. Ergänzend ist zur
Diskreditierung von Kritikern unter anderem "eine ukrainische Trollfabrik"
eingerichtet worden - "ein Zentrum zur Produktion von fiktiven
Internetnutzern und Fake-News für Informationsattacken gegen Regimegegner".
Zerfall und Chaos
Oligarchenherrschaft und Korruption in unverändert desaströser sozialer und
wirtschaftlicher Lage schlagen sich mittlerweile ganz erheblich auf die
Stimmung in der ukrainischen Bevölkerung nieder. So sind lediglich 17
Prozent aller Ukrainer der Auffassung, im Land finde eine - wie auch immer
zu definierende - "Konsolidierung" statt. 75 Prozent hingegen beschreiben
die aktuelle Entwicklung als "Zerfall", während 85 Prozent die Lage
schlichtweg als "Chaos" bezeichnen. 69 Prozent geben sich überzeugt,
landesweite Proteste gegen die prowestliche Regierung seien ohne weiteres
denkbar.[6] Die Zustimmung zur Amtsführung von Präsident Poroschenko ist
dramatisch abgestürzt: Sie liegt aktuell nach verschiedenen Umfragen bei
zwei bis sechs Prozent.[7]
Angriff auf die Pressefreiheit
Dabei bringt die ukrainische Regierung nicht nur mit ihrer Korruption,
sondern auch mit so manchem antirussischen Exzess sogar ausländische
Maidan-Sympathisanten gegen sich auf. So führte etwa die im Mai gefällte
Entscheidung von Präsident Poroschenko, nicht nur russischen Fernsehsendern
die Lizenzen in der Ukraine zu entziehen, sondern auch populäre russische
soziale Netzwerke wie VKontakte ("im Kontakt") und Odnoklassniki
("Klassenkameraden") sowie den E-Mail-Provider mail.ru zu sperren, zu
empörten Protesten: Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch
kritisierte die Maßnahme als "zynische, politisch kalkulierte Attacke auf
das Informationsrecht von Millionen von Ukrainern"; Reporter ohne Grenzen
klagte, es handle sich um einen "nicht hinnehmbare[n] Angriff auf die
Meinungs- und Pressefreiheit".[8] Kiew hat zudem vor kurzem ein neues
Sprachengesetz verabschiedet, das den Gebrauch von Minderheitensprachen im
Land empfindlich einschränkt. Vor allem trifft dies die russischsprachige
Minderheit, die auch nach der Abspaltung der Krim und von Teilen der
Ostukraine noch recht zahlenstark ist. Weil die Maßnahme allerdings unter
anderem auch die ungarischsprachige Minderheit in der Ukraine trifft, hat
die ungarische Regierung angekündigt, Kiews Annäherung an die EU und die
NATO bis zur Rücknahme des Gesetzes zu blockieren.
Im Auftrag prowestlicher Kräfte
Während die politischen Spitzen der prowestlich gewendeten Ukraine in dieser
Woche feierlich den vierten Jahrestag des Beginns der Maidan-Demonstrationen
begangen haben, sind neue Berichte bekannt geworden, denen zufolge das
Kiewer Blutbad am 20. Februar 2014, das den letzten Anstoß zur Eskalation
der Proteste sowie zum Sturz der Regierung Janukowitsch gab, von
Scharfschützen-Morden im Auftrag von Regierungsgegnern ausgelöst wurde.
Einer der Scharfschützen hatte dies schon im Februar 2015 eingeräumt und
damit bestätigt, was sich bereits wenige Tage nach dem Blutbad in Kiew
herumgesprochen hatte: Der estnische Außenminister Urmas Paet hatte
gegenüber der EU-Chefaußenpolitikerin Catherine Ashton Anfang März 2014 in
einem mitgeschnittenen Telefongespräch berichtet, der Verdacht mache die
Runde, "jemand aus der neuen Koalition" in der ukrainischen Hauptstadt könne
die Scharfschützen-Morde in Auftrag gegeben haben (german-foreign-policy.com
berichtete [9]). Im Februar 2016 hat sich der Maidan-Aktivist Iwan
Bubentschik dazu bekannt, im Verlauf des Massakers ukrainische Polizisten
erschossen zu haben. Bubentschik bestätigte dies in einem Film, der
internationale Beachtung fand.[10]
"Wahllos schießen"
In der vergangenen Woche haben nun ein Bericht in der italienischen
Tageszeitung Il Giornale und eine Reportage des TV-Senders Canale 5 weitere
Details enthüllt. Darin berichten drei Georgier, an jenem Tag ebenfalls als
Scharfschützen eingesetzt worden zu sein - im Auftrag der damaligen
Regierungsgegner. Demnach sei ihnen explizit befohlen worden, sowohl auf
Polizisten als auch auf Demonstranten zu schießen - um "Chaos zu säen".[11]
Trifft das zu, dann bricht die offizielle, auch von Berlin vertretene
Behauptung, die ukrainischen Repressionskräfte hätten das Massaker am 20.
Februar gezielt gestartet, in sich zusammen. Schwer wiegt zudem, dass die
drei laut Eigenaussage tatbeteiligten Georgier nicht nur sich selbst schwer
belasten; ihre Aussagen begründen zudem einen gravierenden Verdacht gegen
teils einflussreiche Politiker in der heutigen, prowestlich gewendeten
Ukraine.
(gek.)
[1] S. dazu Zauberlehrlinge (III)
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7102/
[2] Wojciech Konoñczuk, Denis Cenu?a, Kornely Kakachia: Oligarchs in
Ukraine, Moldova and Georgia as key obstacles to reforms. Swedish
International Development Cooperation Agency 24.05.2017.
[3] Marek Dabrowski: Ukraine's oligarchs are bad for democracy and economic
reform. bruegel.org 03.10.2017.
[4] Reinhard Lauterbach: Solide zerstritten. junge Welt 04.11.2017.
[5] Sergej Leschtschenko: Markenzeichen Korruption. zeit.de 05.05.2017. S.
auch Das korrupteste Land in Europa.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7171/
[6] Umfragen zur Entwicklung der sozialen Lage und zur Proteststimmung in
der Bevölkerung. In: Ukraine-Analysen Nr. 191, 15.11.2017.
[7] Reinhard Lauterbach: Solide zerstritten. junge Welt 04.11.2017.
[8] Zitiert nach: Steffen Halling: Kritiklos heraus aus dem Netz des
Feindes? In: Ukraine-Analysen Nr. 186, 14.06.2017. S. 2f.
[9] S. dazu Die Kiewer Eskalationsstrategie
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/6226/ und Von Raèak zum
Majdan. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/6565/
[10] Katya Gorchinskaya: He Killed for the Maidan. foreignpolicy.com
26.02.2016.
[11] Gian Micalessin: La versione dei cecchini sulla strage di Kiev: "Ordini
dall'opposizione". ilgiornale.it 15.11.2017.
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Quelle: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7456/
Zu weiteren Details der Aufarbeitung des Maidan-Massakers siehe auch
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7459/ Allerdings findet
sich auch dort keine Information oder auch nur Mutmaßung darüber, warum die
mutmaßlichen Attentäter jetzt mit dieser Geschichte auspacken.
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