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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 15. November 2017; 17:24
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Kommentierte Presseschau:

> Alter und neuer Autoritarismus

Zum Kommentar "Das Zeitalter des Autoritären" von Georg Hoffmann-Ostenhof in
"profil" vom 6.11.2017

Trotz der Ausbreitung autoritärer Regime im Osten und Südosten Europas
möchte Georg Hoffmann-Ostenhof im Gegensatz zum Leiter des Instituts für
Zeitgeschichte an der Universität Wien, Oliver Rathkolb, nicht vom Beginn
eines neuen Zeitalters des Autoritarismus sprechen. Rathkolb übersehe
nämlich bei dieser Einschätzung eine ganz wichtige Entwicklung, die dafür
sorgen könnte, "dass die momentane Rechtswende nur ein Intermezzo der
Geschichte bleibt."

GHO meint damit den Rückzug des autoritären Familienmodells. Letzteres ist
die Basis jenes an Gehorsam und Disziplin orientierten autoritären
Persönlichkeitstyps, dessen große Verbreitung im Deutschland der
Zwischenkriegszeit wesentlich zum Aufstieg des Nationalsozialismus beitrug.
Die nach Amerika emigrierten Soziologen der berühmten Frankfurter Schule
erstellten die erste systematische Untersuchung dieses Sozialcharakters und
fanden dabei heraus, dass Persönlichkeiten des genannten Typs ihre in der
frühen Kindheit rigide unterdrückten aggressiv-triebhaften Impulse im
Erwachsenenalter "auf andere Menschen, Fremde, sozial Schwächere und
Minderheiten" richten und eine Sehnsucht "nach starken Männern" entwickeln.
Da dieser Persönlichkeitstyp im Gefolge der Etablierung neuer Familien- und
Erziehungsmuster allmählich ausstirbt, hofft GHO, dass sich der politische
Autoritarismus langfristig nicht festsetzen kann, weil "ihm ein nur
schwaches sozialpsychologisches Substrat gegenübersteht".

GHO's Optimismus steht aus drei Gründen auf sehr wackeligen soziologischen
Beinen: Erstens könnten sich einige der im Rahmen der neuen Familien- und
Erziehungsmuster konstituierten Sozialcharaktere mit entsprechend neuen
Formen des Autoritarismus verbinden, die zwar nicht mehr mit dem alten
Führermodell arbeiten, aber doch sehr aggressiv auf alles Fremde und
Unangepasste reagieren. Hier gäbe es jede Menge Forschungsbedarf für die
Nachfahren der berühmten Frankfurter Schule...

Zweitens verläuft das Aussterben des autoritären Charakters nicht so
reibungslos wie GHO sich das vorstellt. Zum einen setzen sich nämlich die
neuen Familien- und Erziehungsmodelle nicht in allen Bevölkerungsschichten
mit der gleichen Geschwindigkeit durch. So wäre etwa zu fragen, ob die
diesbezügliche Entwicklung nicht gerade in jenen Bevölkerungssegmenten
besonders langsam vor sich geht, die zu den wichtigsten Hoffnungsgebieten
des Rechtspopulismus zählen. Zum anderen ist zu beachten, dass auch jeder
der neuen, demokratiefreundlicheren Charaktertypen, die nach und nach an die
Stelle der klassischen autoritären Persönlichkeit treten, mehr oder weniger
starke autoritäre Restbestände enthält. Denn das von GHO unterstellte
Schwarz-Weiß-Bild (hie der rabenschwarze autoritäre Charakter, dort dessen
blendend weiße Gegenstücke) ist eine Simplifizierung, die keine Entsprechung
in der Realität findet.

Der dritte Einwand betrifft einen Argumentationsfehler, der bei einem
studierten Soziologen wie GHO doch sehr verwundert. Er schließt nämlich den
Sozialcharakter unmittelbar kurz mit dem politischen Handeln und
unterschlägt seinen Lesern dabei, dass gewisse frühkindlich angelegte
Verhaltenspotentiale nur unter ganz bestimmten gesellschaftlichen Umständen
zum Tragen kommen. In diesem Sinne funktionierten etwa die klassischen
autoritären Persönlichkeiten im gesellschaftlichen 'Normalbetrieb' des
deutschen Kaiserreichs häufig als brave Rädchen großer hierarchisch
strukturierter Organisationen und wurden erst in dem Augenblick zu
gehorsamsblinden Führeranbetern und Kriegsverbrechern, als die historischen
Entwicklungen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts die
sozio-ökonomische Basis ihrer Lebensentwürfe gefährdete bzw. gar zum
Einsturz brachte.

Wenn man also die Gefahr der Etablierung eines neuen Autoritarismus
realistisch beurteilen möchte, gilt es nicht nur auf die dominierenden
Erziehungsmodelle und Sozialcharaktere zu achten, sondern zu fragen, ob
ähnlich wie in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Entwicklungen
im Gange sind, die aus dem Blickwinkel relevanter Gesellschaftsgruppen eine
Bedrohung der sozio-ökonomischen Basis ihrer Lebensperspektiven darstellen.
Und wer diese Frage untersucht, wird zu dem Schluss kommen, dass genau das
der Fall ist.

Im Deutschland der Zwischenkriegszeit brachten ein verlorener Krieg, der
Siegeszug der kapitalistischen Massengüterproduktion und die bald darauf
einsetzende Weltwirtschaftskrise die alte Ordnung zum Einsturz und warfen
dadurch zahllose mit ihr verknüpfte Existenzen aus der Bahn. Heute ist es
die Globalisierung, die in den alten Metropolen des Kapitals bei vielen
Menschen Angst erzeugt, weil sie Arbeitsplätze vernichtet und soziale
Sicherungsnetze destabilisiert, während sie zugleich an der Peripherie des
weltweiten Systems der Kapitalverwertung zu verheerenden sozialen,
ökologischen, ökonomischen und politischen Verwerfungen führt. Diese setzen
dann jene Flüchtlingsströme in Gang, welche die ohnehin verunsicherte
Bevölkerung der Metropolen als eine zusätzliche Bedrohung erlebt, auf die
man mit nationalistischen Abschottungstendenzen und Ausgrenzungsreaktionen
antwortet. Spitzen sich die eben beschriebenen Problemlagen weiter zu, dann
muss dies fast zwangsläufig bei noch mehr Menschen als bisher zu einem
Wiedererwachen des nach wie vor in vielen von uns schlummernden autoritären
Restpotentials führen.

Auf einer sehr wichtigen Ebene ist die Situation heute sogar gefährlicher
als in der Weimarer Republik. Während nämlich damals noch große Teile der
Wähler im Sozialismus eine Alternative zur krisengeschüttelten Gegenwart
sahen, ist heutzutage jede Form der gesellschaftlichen Utopie aus dem
Weltbild der Demokraten verbannt. Wenn aber die politische Phantasie
kastriert ist und technokratische Rationalität an der Bewältigung der sich
zuspitzenden Systemprobleme scheitert, entsteht breiter Raum für das
Einströmen irrationaler Impulse in die Köpfe und Herzen des Wahlvolks. Und
genau darauf warten Demagogen und Verführer.

GHO's Zuversicht in Ehren. In ruhigen Zeiten lebt man als Optimist
vermutlich leichter als die ängstlichen Skeptiker. Wenn's aber brenzlig
wird, könnte doch ein gewisses Mindestmaß an Realismus nicht schaden.
*Karl Czasny*

Der angesprochene Text von Hoffman-Ostenhof ist nachzulesen unter:
https://www.profil.at/meinung/georg-hoffman-ostenhof-zeitalter-autoritaeren-8409026



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