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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Freitag, 27. Oktober 2017; 19:28
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Zeitgeschichte und das Heute:

> Die Welt als Vernichtungslager

Am 9.November 2017 wird wieder dem Novemberprogrom 1938 gedacht. In Wien
passiert das auch heuer wieder auf dem Gelände des ehemaligen
Aspangbahnhofs, von dem aus viele Menschen in die Vernichtungslager
transportiert worden sind. Bei der Kundgebung 2016 hielt der Regisseur
*David Schalko* folgende Rede:
*

Albert Camus sagte: "Es gibt keine Welt mit Vernichtungslagern, sondern nur
eine Welt als Vernichtungslager. Wenn andere in die Knechtschaft getrieben
werden, so betrifft uns das auch."

Heute leben wir in einer Welt mit Vernichtungslagern. Was uns 1945 aufs
Tiefste erschütterte, lässt uns heute kalt. Denn Vernichtung von Menschen
gibt es weltweit. Aber wirklich nahezugehen vermag es uns nicht. Sind wir an
den Horror gewöhnt? Sind wir abgestumpft? Oder halten uns die ständig vor
Augen gehaltenen Bilder vom Geschehen fern? Weil sie nicht riechen. Weil man
die Schreie und das Leid auf lautlos stellen kann. Weil wir tatsächlich
glauben, dass ein Internetposting einer Tat gleichkommt. Dass es Widerstand
auf der Straße ersetzt. Gesagt getan im pervertierten Sinn. Weil wir in
einer Welt leben, in der die eigene Erleichterung und Entladung wichtiger
sind als wirkliche Empathie. Und weil der Individualismus zur Ausblendung
des anderen geführt hat. Letztendlich wischen wir in der Realität die
anderen genauso weg wie auf unseren Tablets.

Deshalb wählen wir die Trumps und Hofers und Putins und Le Pens. Nicht weil
wir glauben, dass sie etwas richten oder revidieren. Sondern weil wir wählen
wie wir posten. Es ist mit der Artikulation bereits erledigt und vergessen,
dass all dies auch reale Konsequenzen haben könnte, die man vielleicht so
gar nicht wollte. Selbst wenn es uns die Demokratie kostet. Das Problem ist
nicht die Vergesslichkeit des Wählers, sondern seine Selbstvergessenheit.
Insofern geht es auch hier um Nichtvergessen.

Zunächst wollte ich heute einen Text lesen, der das nachempfinden lässt, was
letztlich nicht nachempfindbar ist. Nicht für uns, für keinen, der das nicht
durchlebt hat. Ja, vielleicht nicht einmal für jene, die das
Vernichtungslager überlebten. Selbst sie mussten verdrängen, vergessen kann
man nicht, um überhaupt weiterleben zu können. Nachempfindbar halten, weil
es vielleicht die einzige Form des Nichtvergessens ist. Damit diese
Schreckenstaten nicht aus unseren Genen verschwinden. Damit es eine
emotionale Abrufbarkeit gibt. Wobei das ist vermutlich illusorisch. Denn die
Erschütterung lässt erschütternder Weise nach. Insofern heißt Nichtvergessen
auch, die Entsprechung im heute zu finden. Und diese finden wir nicht nur in
der Verhöhnungsästhetik der gegenwärtigen Faschisten, die menschenverachtend
sind, weil sie dem Menschen nichts zutrauen, den Makel als Makel
denunzieren, sich vor der Ungleichheit ekeln und sich selbst verachten für
ihre Unvollkommenheit, wobei sich die Fantasie der Vollkommenheit aus der
Abtötung speist. Und auch die Wähler trauen sich selbst nichts zu, sonst
gäbe es die Sehnsucht nach den Erlösern, Reparateuren und Führern nicht.
Stellt sich umgekehrt die Frage: Was kann man dem Menschen zutrauen? Ist es
nicht das allerhöchste Gut des Menschen ganz Mensch zu sein? Wann ist der
Mensch am meisten Mensch? Vermutlich wenn er sich zu seinen Fehlern bekennt,
sie zulässt, sie ins Menschsein miteinbezieht, wenn er nicht versucht, ein
Roboter zu sein.

Ein Roboter will perfekte Abläufe, Effizienz, Leistung, messbare Maßstäbe,
Bewertung und Erfolg. Roboter haben kein Mitgefühl für andere. Sie kreisen
um sich selbst und ihre Programmierung. Roboter vergasen auch Menschen, weil
sie diese nur als Zahlen sehen. So wie die Nazis keine Menschenkolonnen,
sondern Zahlenkolonnen vor Augen hatten.

Steckt hinter der momentanen Wut und dem Hass nicht vielleicht die Angst,
nur noch als Roboter empfunden zu werden? Übersehen zu werden. Speist sich
daraus der Neid auf die anderen? Letztendlich auch der Neid auf den
Flüchtling, der sein Leben zum Besseren verändern konnte. In sozialen Medien
wird genau diese Mechanik aufgebaut. Man sollte also eher von asozialen
Medien sprechen. Sie programmieren uns mit rotierenden, gleichen Impulsen.
Unsere Gefühlswelten changieren mechanisch zwischen den großen Antipoden
Neid/Hass/Wut und Pathos. Die Nuancen dazwischen sind erkaltet. Für diese
haben wir keine Zeit. Alles muss sofort passieren. Und verfügbar sein. Nicht
nur Ursache. Auch Wirkung. Und Lösung. Zumindest Entsprechung. Dieses
Verhalten ist jetzt auch in der Politik angekommen, wo Zusammenhänge und
Besonnenheit einmal Tugenden waren. Aber für diese braucht man eben Zeit. In
der Hast hat vieles, was uns zum Menschen macht, keinen Platz.

Bevor man andere deportieren kann, muss man etwas in sich selbst
deportieren. Muss man gewisse Dinge erkalten lassen, muss man sich
programmieren, etwas abtöten. Im Internet dressieren wir uns täglich
gegenseitig indem wir nur noch mit Gleichgesinnten verkehren. So entstehen
keine Milieus, sondern konditionierte Roboter. Eine Simulation, wo jeder
Impuls eine zeitgleiche Entsprechung hat. Die wir mit Realität verwechseln.
Und plötzlich fühlt sich in diesem Gehenlassen und diesem Rauslassen und in
diesem Reinkotzen die Vernunft wie ein Zölibat an. Wie ein Befehl zur
Entsagung, als würden Barbarei und Grausamkeit im Gengehege des Menschen
schnaufend auf und ab gehen und nur darauf warten, endlich losgelassen zu
werden. Liegt nicht die kollektive Depression darin, dass ein Foto ein
echtes Gesicht genauso wenig ersetzen kann wie die Lüge die Wahrheit? Wie
die Simulation das echte Leben. Ist es nicht das Bekenntnis zur Wahrheit,
das den Respekt zum anderen schafft? Ist die Lüge nicht die Ignoranz des
anderen? Den anderen als Menschen erkennen, auch wenn er anderer Meinung
ist. Ja, selbst wenn er Täter ist. Selbst Hitler war ein Mensch bevor er
Roboter wurde. Das Erkennen, all das steckt in uns. Jeder Gedanke kann sich
in die Massenvernichtung pervertieren. Nicht nur der nationalsozialistische.
Jeder. Wenn er beginnt, uns zu programmieren und den anderen zu
entmenschlichen. Was aber stets mit der Entmenschlichung von uns selbst
beginnt.

Deshalb ist Nichtvergessen keinesfalls gleichzusetzen mit dem Fingerdeut auf
die Schuldigen. Oder die heutigen Wiedergänger. Ganz nach Camus: Alles
Menschliche betrifft uns alle. Es gibt eben nur eine Welt im
Vernichtungslager. Nicht mit Vernichtungslagern. Wir sind jene, auf die wir
als Schuldige deuten, genauso wie jene, die vergast werden. Wie wenig es
braucht, um dazu fähig zu sein, das ist es, was wir aus unserer Geschichte
lernen müssen. Es geht nicht darum, den anderen zu beschuldigen. Es geht
darum, ihn davon abzuhalten. Es geht um Aufklärung im besten Sinn.

Den Menschen in seiner Gesamtheit zu erfassen unterliegt keiner Zeit. Ist
immer Gegenwart. Die Gefahr, dass wir wieder Roboter werden, war noch nie so
groß wie jetzt. In Zeiten von blond gefärbten Männern, die mit
Superheldenversprechen eine Superrealität kreieren, wirkt die Welt wie ein
Marvel Comic. Künstlich und überzeichnet. Es geht auch um Ästhetik. Um eine
Ästhetik der Lebendigkeit. Die wieder Schmutz zulässt. Und im sogenannten
Makel wieder Schönheit erkennt. Die nicht auf Auslöschung ausgerichtet ist,
in dem sie alles gleichmacht und in Monotonie verschüttet.

Wir sollten vor allem nicht vergessen, wer wir sind. Und weniger danach
eifern, wer wir sein wollen oder vorgeben zu sein. Das führt genau zu jener
Selbsterhebung und Demütigungsspirale, in der wir heute gefangen sind. Hier
am Aspangbahnhof, wo man ein Mahnmal braucht, weil es keine Spuren des
Schreckens mehr gibt, wurden zehntausende Menschen in Züge geprügelt, auch
viele Kinder, die sich an ihre Puppen klammerten, weil sie nicht verstanden,
wozu der Mensch fähig ist. Irgendwann wird soviel Zeit vergangen sein, dass
wir keine emotionalen Spuren des Holocausts mehr in uns tragen, ähnlich wie
sich nichts mehr regt, wenn wir an die 50 Millionen Toten des Sklavenhandels
denken oder an andere historische Genozide. Solche Abende sind dazu da, um
uns daran zu erinnern, dass wir all diese Spuren immer in uns tragen, weil
wir selbst diese Spuren sind. Es sitzt in uns. In jedem. Immer. In diesem
Sinne: Wehret den Anfängen.


Mahnwache und Kundgebung:
Donnerstag, 9. November 2017,
18 Uhr. Gedenkstein vor dem
ehemaligen, Aspangbahnhof
(Platz der Opfer der, Deportation, 1030 Wien).

Anmerkung: 2017 wurde der Platz neu gestaltet. Im September wurde an der
Stelle des ehemaligen Bahnhofs (parallel zur Aspangstraße) ein 30 m langes
Mahnmal zu den Deportationen eröffnet, mit spitz zulaufenden Schienen aus
Beton, die in einen schwarzen Betonblock hinein verlaufen.



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