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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 10. Mai 2017; 17:28
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VERWORTET

> "Mittelschicht"

Es sei Aufgabe der SPÖ, "Politik für die 95 Prozent zu machen, für die
wahren LeistungsträgerInnen einzustehen. Das sind nicht die, die von
Dividenden und Zinsen leben können, sondern blaue Arbeitsmontur oder einen
Laborantenkittel tragen und damit unsere Land und unsere Gesellschaft. Sie
sind die Mittelschicht, für die wir kämpfen wollen."

Wie meinen? Ein ganz seltsames Bild, das da unser Kanzler am 1.Mai zeichnet.
Er nimmt das klassenkämpferische Bild des klassischen Proletariers (und
seines ebenso klassischen Gegenbilds des Couponschneiders) und bezeichnet
ihn als Angehörigen einer Mittelschicht, die 95% der Bevölkerung ausmachen
soll. Irgendwas scheint an diesem Bild nicht zu stimmen.

Wenn Christian Kern so etwas formuliert, ist das aber keineswegs so
dahingesagt, sondern reines Kalkül. Offensichtlich kennt er die Statistiken:
"Bei Befragungen, ob sich Personen selbst zur Unterschicht, Mittelschicht
oder Oberschicht zählen, sehen sich im deutschsprachigen Raum mehr als 95%
in der Mitte. Lediglich 4% geben an, sich zur Unterschicht zu zählen,
schlanke 0,4% definieren ihre Zugehörigkeit zur Oberschicht!" So formulierte
das die Arbeiterkammer schon 2011.

Die Statistik Austria hingegen geht von Einkommensbeziehern zwischen 60 und
180% des Medianeinkommens aus (damit wären 80% der Bevölkerung
Mittelschicht), das WIFO definiert die Grenzen 70 und 150% -- das sind 60%
der Bevölkerung.

Aber das interessiert niemanden wirklich, interessant ist nur der politische
Kampfbegriff -- und der muß (durchaus mit der Meinung der Bevölkerung
korrelierend, wo partout sich kaum jemand zur Ober- oder Unterschicht
bekennen möchte) einen möglichst großen Teil der Bevölkerung umfassen. Bei
einer Definition von 95% Mittelschicht können sich 95% der Bevölkerung
angesprochen fühlen.

Dementsprechend sehen sich alle Parlamentsparteien als die Beschützer der
Mittelschicht, schließlich ist das das größte Wählerreservoir. Sprich: Die
Politik soll als Klientelpolitik für fast alle dastehen, quasi für die
Volksgemeinschaft. Wer dann sich zu erwähnen traut, daß es in dieser
Mittelschicht Einkommensunterschiede über den Faktor 5 hinaus gibt, kommt in
die Schubladen, wo "Neidgesellschaft" und "leistungsfeindlich" draufsteht --
und alle vom Ministerialrat und dem Primararzt bis hin zur Regalschlichterin
und dem Gerade-noch-nicht-Mindestsicherungsbezieher in der "blauen
Arbeitsmontur" geben dieser Schubladisierung recht. Weil sie alle
dazugehören wollen zu dieser Mittelschicht.

Klassen gibt es anscheinend nicht mehr und daher auch keinen Klassenkampf.
Die Gehaltsschemata sind mittlerweile sehr ausdifferenziert, so manch ein
Facharbeiter verdient mehr als manch eine kleine Büroangestellte. Aber
niemand von ihnen will sich zugestehen, daß für sie die Stufe
"armutsgefährdet" zutrifft. Wobei auch das ein seltsamer Begriff ist -- denn
in den meisten Statistiken ist diese "Gefährdung" der unterste ökonomische
Level. "Arme" kommen in diesen Studien gar nicht mehr vor. Aber das wäre
eine andere VERWORTET-Kolumne...
*Bernhard Redl*

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