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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 10. Mai 2017; 17:09
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Glosse:
> Wir müssen wieder verrückter werden
Es herrscht eine große Ratlosigkeit in der Linken. In der österreichischen, 
der französischen, allgemein der europäischen, aber auch in der 
US-amerikanischen. In den USA gab es nach der nicht gerade zimperlichen 
Demontage Bernie Sanders die Wahl zwischen Clinton und Trump; in Frankreich 
nach dem Achtungserfolg von Melenchon die Frage, wieviel man sich verbiegen 
soll, um Le Pen zu verhindern. Und in Österreich wurde jemand Präsident, 
weil er nicht Hofer hieß. Aber wie soll man handeln in Zeiten politischer 
Pest und Cholera?
Zur jetzigen Frankreichwahl wurde heftigst diskutiert. Auch innerhalb der 
österreichischen Linken, denn es ging hier bei allem Internationalismus 
nicht um Le Pen oder Macron, die Fragestellung war eine 
Stellvertreterdebatte: Darf, soll oder muß man die Rechte unterstützen, um 
zu verhindern, daß die extreme Rechte in einflußreiche Ämter kommt? Und wenn 
man das tut, kann man dann immer noch versuchen, einen kapitalkritischen 
Gegenpol aufzubauen, um zu verhindern, daß man auch das nächste Mal vor 
solch grausliche Alternativen gestellt wird? Und wenn ja, wie?
Bei all den Beiträgen sind mir zwei Stellungnahmen aufgefallen. Zum einen 
Wilhelm Langthaler, der aus der Debatte offensichtlich einmal die Panik und 
Hysterie herausnehmen wollte. Er schrieb unter dem Titel "Achtungserfolg 
Mélenchons" auf der Site euroexit.org: "Eines der gefährlichsten Ideologeme 
des liberalen Regimes in ganz Europa ist jenes vom kleineren Übel gegenüber 
der Rechten. Da wird durch ein pervertiertes Antifa eine faschistische 
Gefahr an die Wand gemalt, angesichts derer nichts anderes mehr übrig 
bliebe, als die jeweiligen Regimevertreter zu wählen (egal ob in der links- 
oder rechtsliberalen Version). Doch die Gefahr des Faschismus gibt es nicht, 
denn es wird vergessen, dass der Faschismus einzig mit der Unterstützung der 
Eliten an die Macht gekommen war. Es war ihre ultima ratio, von der heute 
noch lange nicht die Rede sein kann. Die liberale Diktatur ('marktkonforme 
Demokratie') ist heute die Hauptgefahr sowohl nach innen als auch nach 
außen."
Wahrscheinlich hat Langthaler damit recht, aber es geht mir vor allem um 
seinen Tonfall: Das eine, was in der Linken fehlt, ist die bedächtige 
Analyse. Denn oft bestimmt der notwendig lustvolle Drive von Demos und 
Aktionen strategische und ideologische Debatten, die aber ebenso 
notwendigerweise ruhiger, trockener, von einer historisch-materialistischen 
Sichtweise geprägter Auseinandersetzungen bedürfen. So paradox es klingen 
mag: Genau deswegen muß die Linke verrückter werden. Das ist nämlich das 
andere, was in der Linken fehlt. Wie ist das zu verstehen? Nun, hier sei ein 
Facebook-Post von Cengiz Kulac zitiert:
"Viel wurde über das kleinere Übel diskutiert und gute Argumente 
vorgebracht, warum man sich hinter Macron stellen sollte. Umgekehrt, die 
Linke und radikale Linke, die weitestgehend nicht vom Fleck kommen, haben 
nichts anderes zu tun, als aus Trotz das Spielfeld zu verlassen, weil sie 
das Spielfeld nicht definieren können. Die dummen Reaktionen darauf lassen 
aber auch nicht auf sich warten. [...] Gleich ist die Rede von der 
unvernünftigen 'Silly Left', die ja die Tragweite ihrer Entscheidungen nicht 
versteht. Jene, die von der Silly Left sprechen, sind mit eiserner Dispzlin 
darum bemüht, keinen substanziellen Gedanken zu äußern, was in dieser 
Gesellschaft, in der Gegenwart, am Status Quo falsch läuft. [...] Die 'Silly 
Left' ist allerdings die einzige Hoffnung darauf, dass die Dynamik von 
neoliberaler Politik und rechtsextremer Politik durchbrochen werden kann, 
weil sie bereit ist die Logik zu durchbrechen, in dem Wissen, dadurch als 
verrückt abgestempelt zu werden. [...] Wir dürfen nicht aus Trotz das 
Spielfeld verlassen, sondern müssen das Spielfeld zu definieren beginnen. 
Die politische Lage verschärft sich. Es herrscht eine diffuse 
Unzufriedenheit mit dem gesellschaftlichen Status Quo. Doch die politische 
Richtung, in die uns diese Unzufriedenheit führen wird, ist bei weitem noch 
nicht entschieden. Didier Eribon hat dort mit seiner Feststellung recht, wo 
man vom Status Quo der Linken ausgehen muss. Sie ist nicht in der Lage 
Entscheidungsfragen herbeizuführen. [...] Wer linke Politik machen will, um 
Spielräume zu erweitern und um zu Entscheidungsfragen zu kommen, muss klein 
und geduldig anfangen und sollte die eigene Irrelevanz eingestehen. Es gibt 
keinen Masterplan dafür, gleichzeitig die Realität im Blick zu haben und die 
Verrücktheit zu haben, den Status Quo mit etwas Neuem in Frage zu stellen. 
Doch langsam sollten wir verrückte Linke werden, so unvollständig, 
unberechenbar und chaotisch das ist. Neues entsteht nicht aus eingefahrenen 
Schemen."
"Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche." So wird gerne in der 
Linken Che Guevara zitiert, aber so richtig ernst nehmen wir das oft genug 
nicht -- das reicht allemal für ein Demoflugi. Als Erik Durschmied 1958 
Guevaras Compañero Fidel Castro in dessen Versteck in den Wäldern 
interviewte, traf er auf einen Rebellenführer, der, obwohl auch damals schon 
fast eine lebende Legende, selbst nicht so recht an die Revolution glauben 
wollte, aber der Meinung war, daß man es trotzdem versuchen müsse. Irgendwie 
war es Castro selbst zu verrückt, zu glauben, daß Batista besiegt weden 
könne. Wenig Monate später zog er triumphal in Havanna ein.
Von der Revolution hier in Mitteleuropa darf man träumen, auch wenn sie 
derzeit unrealistisch erscheint. Aber ein bisserl was von der Träumerei geht 
vielleicht doch. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich selbst zu den 
Verrückten zählte. Vor rund drei Jahrzehnten stellten wir "weltfremden 
Öko-Spinner" Forderungen auf, die völlig jenseitig erschienen. Von denen ist 
allerdings heute etliches gesetzlich verankert. Wenn auch die Ökobewegung in 
unseren Tagen fast völlig von Kapital, Boulevardmedien und etablierter 
Politik korrumpiert und vieles unerledigt geblieben ist, so wäre ein 
Gerichtsurteil wie das jetzt gegen den Ausbau des Flughafens Schwechat 
damals undenkbar gewesen -- gegen das Großkapital und gegen den politischen 
Willen von ÖVP und SPÖ! Von den Fällen Zwentendorf und Hainburg, wo 
natürlich auch das Glück historischer Gelegenheiten mitspielte, gar nicht zu 
reden.
Die Linke fürchtet sich nur mehr und befindet sich in einem ständigen 
Abwehrkampf. Die Zeiten, in der wir die neue Welt bauen wollten, scheinen 
vorbei. Aber vielleicht gilt es genau deswegen, weil wir überhaupt keine 
Chancen mehr haben, diese zu nutzen. Das ist natürlich ein total verrückter 
Gedanke. Aber bevor wir uns von den Vernünftigen verrückt machen lassen, 
sollten wir es lieber von uns aus werden. Denn das Verrückte ist heute wohl 
das Vernünftigste.
*Bernhard Redl*
Zitatquellen:
http://www.euroexit.org/index.php/2017/04/30/achtungserfolg-melenchons/
https://www.facebook.com/cengiz.kulac/posts/10211476114832739
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