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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 26. April 2017; 21:01
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Frankreich/Linke/Glosse:
> Scylla in den Élysée!
Die Debatte ist nicht neu. Auch die Franzosen kennen sie schon länger --
sogar der Namen des Gottseibeiuns war das letzte Mal der Gleiche: Le Pen.
2002 wählte eine Mehrheit in der Stichwahl Chirac zum Präsidenten um
Jean-Marie Le Pen zu verhindern. Diesmal soll es also Macron sein, um Marine
Le Pen zu verhindern. Uns hier erinnert das Ganze natürlich an die
österreichische Präsidentschaftswahl, wo es darum ging, Hofer zu verhindern.
Und dann natürlich an die unzähligen Nationalrats- und Landtagswahlen, wo es
darum ging, SPÖ oder Grün zu wählen, nur damit die FPÖ nicht den
Regierungschef stellen möge. So ziemlich in ganz Europa (und nicht nur in
der EU) steht die Linke jeden Landes alle paar Jahre vor dem Dilemma, jemand
wählen zu sollen, den sie nicht wählen will. Man hat die Wahl zwischen einem
antifaschistischen Impetus und dem Verrat seiner Überzeugungen einerseits
und dem Bewahren linker Würde und der indirekten Unterstützung der extremen
Rechten andererseits -- die Wahl zwischen Scylla und Charybdis war ein
Lercherlschas dagegen. Die konnte Odysseus wenigstens pragmatisch
entscheiden und stand nicht vor dem Problem, daß es auch eine moralische
Frage gewesen wäre.
Dabei ist nicht einmal die pragmatische Entscheidung ganz so einfach. Der
User {AT}Der_Gregor brauchte es neulich auf Twitter auf den Punkt: "1)
Wirtschaftsliberale werden gewählt. 2) Sie machen Sozialsystem kaputt. 3)
Marginalisierte Leute wandern zu Rechtsextremen. 4) Linke müssen
Wirtschaftsliberale unterstützen, damit nicht Rechtsextreme gewinnen. 5)
Repeat."
Es scheint ein Teufelskreis zu sein, aus dem man als Linker ausbrechen
möchte. Denn so oder so, egal ob man den Systemkandidaten wählt oder die
Wahl verweigert -- beides scheint der Rechten zu nutzen, der sich nett
gebenden Bourgeoisie wie auch der faschistoiden, sich systemkritisch
gebenden Bourgeoisie.
Und dazu kommt noch etwas besonders Perfides: Unterlegene oder chancenlose
Kandidaten (je nach Wahlsystem) fühlen sich genötigt, Wahlempfehlungen
abzugeben -- gegen die eigene Überzeugung, weil sie sonst ja nie kandidiert
hätten. Ob diese Empfehlungen dann wirklich eine Unterstützung wären, ist
damit aber gar nicht gesagt. In Österreich erinnern wir uns an die
Wahlempfehlung 1966 der KPÖ an die SPÖ -- die dann hauptsächlich der ÖVP
genutzt hat. Und die KPÖ bei Teilen ihrer Anhängerschaft diskreditiert hat.
Melenchon steht in Frankreich vor einem ähnlichen Problem -- die Bobos sind
empört, daß er nicht sofort, nachdem er aus dem Rennen war, für Macron
optiert hat. Der französische linke Kandidat versucht jetzt auszuweichen und
will erst seine Unterstützer befragen, was die denn davon halten. Wenn man
bedenkt, daß er mit einem Programm antrat, daß erstens die Macht des
Präsidenten beschneiden wollte und zweitens eine explizite Beachtung von
Weißwählern bei Wahlen forderte, stellt sich die Sache natürlich etwas
anders dar. Und seine Unterstützer scheinen, folgt man der Berichterstattung
der "Liberation", keine große Lust zu haben, dem "Kandidaten der Republik",
wie der Sozialdemokrat Benoit Hamon den Kandidaten Macron nannte, ihre
Stimme zu geben. Die linksliberale Tageszeitung berichtet, daß auf Twitter
die Parole "Ohne mich am 7.Mai" (Hashtag # SansMoiLe7Mai) viral werde. Nicht
zu wählen, sei die "einzige Möglichkeit gehört zu werden" meint ein
Diskussionsteilnehmer; ein anderer wäre es überdrüssig, sich mit dem Front
National erpressen zu lassen. Viele sähen Macron auch gar nicht einmal als
bessere Wahl an: "Macron wird ein heftiges wirtschaftliches und soziales
Programm des Gemetzels platzieren", er sei der Kandidat von Juncker und
Merkel, und -- auf Marcrons Zeit als Wirtschaftsminister anspielend -- "Sie
sind verantwortlich für den Aufstieg der FN durch Ihre liberale Politik, und
Sie möchten, dass ich Sie wähle?" Diese Statements, glaubt man der
Liberation, dürften paradigmatisch sein für einen extremen Unwillen der
meisten Melenchon-Wähler, den scheinbar weniger grauslichen Kandidaten zu
wählen.
Die Parallelen zur österreichischen Politik sind deutlich -- und zwar gar
nicht einmal was die Wahl zum Präsidenten angeht, der ja in Österreich von
seinen Gestaltungsmöglichkeiten her eher wurscht ist im Gegensatz zu
Frankreich. Es geht hier eher um das Stimmungsbild für die kommenden
Nationalratswahlen. Denn unser sozialdemokratischer Kanzler hatte sich schon
vor der ersten Wahlrunde als Fan von Macron geoutet -- und damit
klargemacht, daß er die Linke auch in seiner Partei für verzichtbar hält.
Der NEWS-Herausgeber Fellner lieferte dazu einen überraschend hellsichtigen
Kommentar: Macron sei "durchaus eine französische Ausgabe unseres Kanzlers
Christian Kern - ein Sozialdemokrat mit sehr liberalen und
wirtschaftsfreundlichen Programmen, ein Reformer mit großem Show-Talent,
sehr sympathischem Auftreten, gutem Aussehen -- sprich: Ein Staatsmann, wie
ihn sich die urbane, moderne Mitte unserer Gesellschaft derzeit wünscht."
Allerdings hätte er als Austro-Marcon eine Konkurrenz in Sebastian Kurz.
Darum geht es: Wir stehen vor der Wahl zwischen einem Kapitalismus mit
lächelndem Antlitz und gut sitzendem Anzug und einem Kapitalismus, der böse
dreinschaut und kein Hehl daraus macht, daß er gerne kleine Kinder frißt.
Das Muster scheint sich setzt sich jetzt in ganz Europa durchzusetzen.
Nebenbei: Odysseus hatte sich für Scylla entschieden. Und die fraß dann
sechs seiner Männer.
*Bernhard Redl*
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