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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 19. Oktober 2016; 17:29
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Italien:
> Die Centri sociali als Beispiel
Postsozialdemokratie und Neopopulismus: Rom wehrt sich gegen diese tödliche
Mischung. Von Aug und Ohr.
Eines der älteren centri sociali Roms, das Corto Circuito (1) ist am 13.
Oktober 2013 brutal geräumt worden, eine Unmenge Sachen, darunter die
Computer, wurden verladen und abtransportiert, das Telefon wurde gesperrt.
Ein Teil des centro wurde demoliert. Ein riesiges Aufgebot der Polizei
riegelte das ganze Stadtviertel ab. Niemand hatte eine derartig schnelle und
brutale Aktion erwartet.
Das findet nun innerhalb einer Reihe von Liquidierungen von centri sociali
sowohl in Bologna als auch in Rom statt, zuletzt wurden in Rom die Bewohner
des Baobab (2) hinausgejagt, ein centro für Flüchtlinge, die jetzt auf der
Straße schlafen müssen. Eine gegen die radikale Linke gerichtete Politik der
verbrannten Erde.
Die Flüchtlinge des Baobab dürfen sich, wie das manifesto berichtet, nach
der Verjagung nicht einmal zu zweit oder zu dritt in allzu großer Nähe
zueinander aufhalten: die Polizei kommt sofort heran und scheucht sie
auseinander, meist mit brutalen und gemeinen Worten. So durften zwei
Freundinnen nicht einmal miteinander sprechen.
Das ist Alltagsfaschismus. Hinterher hecheln die freiwilligen Helfer, und da
die Flüchtlinge von der Polizei vom einen Platz zum anderen gejagt werden,
beeilen sich die Helfer mit dem Nötigsten wie Essen und Decken nachzukommen.
Der Räumung des Baobab folgt die des Corto Circuito. Eiskaltes System.
Initiator des politischen Betätigungsverbotes und der Enteignungsaktion war
die Staatsanwaltschaft, nicht die Gemeinde, die allerdings, ihrem eigenen
Bekunden nach, erst im Nachhinein informiert wurde und sich die Hände in
Unschuld wäscht. Die Gemeinde ist allerdings Eigentümer der Gebäude.
Die Aktivisten und Militanten der Opposition halten es für extrem
unwahrscheinlich, dass in der von den Cinque Stelle (M5S) geführten
Gemeindeverwaltung davon niemand etwas gewusst haben soll. Diese neue
Formation verhält sich aalglatt und will sich nach allen Seiten politisch
absichern. Sie teilen vage Anerkennungen an alle Richtungen aus: die
Sicherheit der Bürger muss gewährleistet werden, das centro sociale hat aber
auch durchaus eine wichtige soziale Funktion und wird damit gelobt.
Vielleicht will man von allen Seiten Stimmen für die nächste Wahl! (3)
Bisher ist keine einzige politische Stellungnahme in Form einer ernsthaften
Analyse von diesen Populisten gekommen. Der aus dem Hintergrund agierende
halbe Schattenstaat braucht diese neuen Formationen, nachdem die PD (4)
schon sehr unglaubwürdig geworden ist.
Das ist das derzeitige Rom, das Rom, das jahrelang unter der Führung eines
Faschisten stand, dann kam der etwas neoliberal eingestellte, jedoch nicht
linientreue PD-Bürgermeister Ignazio Marino an die Schalthebel der
kommunalen Macht, gegen ihn entstand aber eine Hexenjagd in der eigenen
Partei und er bekam´s mit der Justiz zu tun. Immerhin hat er kürzlich einen
Prozess gewonnen, bei dem ihm Zweckentfremdung öffentlicher Gelder
vorgeworfen worden war. Dadurch offensichtlich gestärkt, ist er zu einem
begeisterten Gegner der Politik der Führung der PD geworden, insbesondere
was die von Renzi durchgezogene Volksabstimmung zur Verfassung betrifft.
Nach Marinos Rücktritt kam die Hauptstadt Italiens, wie eine Reihe anderer
Städte, unter kommissarische Verwaltung, das heißt, es wird, fallweise wegen
echter oder auch vermeintlicher Korruption (5) sogar das Herrschaftswerk der
bürgerlichen Parteien ausgeschaltet. An der Spitze der Verwaltung stand nun
der Vollblutpolizist Francesco Paolo Tronca , der als commissario
straordinario vom 1. November 2015 bis zum 22. Juni 2016 die Kontrolle über
die Stadtverwaltung hatte. Niemand von dieser Gemeinderegierung unter Tronca
hat sich für die Belange des Baobab eingesetzt, klagt ein Betreuer in der
Zeitschrift "Internazionale."
Die Protestpartei, die alles verändern will und die gegen die "Kaste"
auftritt wie keine andere, wurde nun gewählt. Das sich nun an der Spitze der
Stadtverwaltung befindende Movimento Cinque Stelle (M5S) des Demagogen und
Populisten und Gewerkschaftsfeindes Grillo hat zur Räumung des Baobab wie
auch des Corto Circuito nur nichtssagende, technokratisch-administrative
Kommentare abgelassen, die Bewegungs-Partei, die angeblich so sehr auf eine
Veränderung der Verhältnisse hinarbeitet, entpuppt sich mit ihrem zynischen
Desinteresse als neue Vertreterin der Bourgeoisie, sodass man von einer
beginnenden cohabitation zwischen den rechten Sozialabbauern und
Kriegstreibern der Regierung Renzi und den in Rom und anderen Städten
bereits an die Spitze gekommenen M5S sprechen könnte.
Virginia Raggi, die neue M5S-Bürgermeisterin, die sich kürzlich dadurch
einen Namen gemacht hat, dass sie Rom als Austragungsort der Olympischen
Spiele abgelehnt hat, was aber nicht als radikale Opposition gegen die von
den Linken scharf bekämpften grandi opere (systematisch mit Korruption
verbundene technologische Großprojekte mit geringem Gebrauchswert wie die
wieder favorisierte Brücke bei Messina) gewertet werden darf, sondern bloß
als Bedachtnahme auf die katastrophale budgetäre Situation Roms. Dieser
populistischen Technokratin sind die centri sociali kein prioritäres
Anliegen.
Die centri sociali sind in Italien seit den Achtzigerjahren das Rückgrat
oder die logistische Grundlage der radikalen, unabhängigen Linken, der
Linken, die von keiner Partei geschützt wird, die von keiner Partei
ausgehalten wird. Der Linken, die von eigenen Mitteln lebt. Diese
wesentliche Linke wäre aber ohne die centri sociali nichts.
Die an die Schalthebel gelangten neuen Verwalter der Interessen der
Bourgeoisie, die aber vortäuschen, auch die Interessen der "Protestlager" zu
vertreten, wissen im Grunde genommen genau, dass die centri sociali nicht
ihre Sache sind, denn zwischen der lokal an die Macht gelangten
populistischen Neo-"Linken" und der antikommunistischen neoliberalen Kriegs-
und Sozialabbaupartei PD ("Demokratische Partei", was an sich ein
lächerlicher Ausdruck ist) und andererseits der unabhängigen Bewegungslinken
besteht eine Kluft, die nicht überbrückbar ist. Daher muss sich die
institutionelle Linke gegen die antagonistische Linke wenden.
Es gibt wenige centri sociali in Rom, die sosehr in der Bevölkerung
verankert sind wie das Corto, und das im ansonsten politisch toten und
sterilen Stadtteil Cinecittà, der sich durch anonyme Wohnblöcke, private
Familienhäuschen und Straßen für Schnellraser auszeichnet und auch durch den
gänzlichen Mangel an öffentlichen (und innovatorischen) Strukturen. Mit
zahlreichen Veranstaltungen und Fortbildungskursen, viel Gegeninformation
(dem eigenen "Radio Sonar") und einer engen Verbindung zu relevanten
Basisbewegungen/-organisationen wie dem neuen radikalen
Basisgewerkschaftsbündnis USB (Unione Sindacale di Base), betreibt das Corto
Circuito eine Politik, die sowohl eine Breitenpolitik als auch eine
unverkürzt radikale ist. Und das geschieht unter der Verwaltung der 5S,
wiewohl die Order von der Staatsanwaltschaft kam, die mit ihrem
Vernichtungsfeldzug gegen autonome, besetzte und selbstverwaltete Strukturen
auf einzelne Klagen "besorgter Bürger" freudig reagierte. Dieser Mechanismus
der Aufbietung rancunebeladener rechter Einzelpersonen für eine ordentliche
Justiz- und Politikkampagne wird allerorten angewendet. Das sind die
Personen, die den decoro, Anstand und Wohlverhalten, vertreten.
Der polizeiliche Semi-Schattenstaat schmiegt sich an die extremen
Bürgerblätter wie das Giornale an, demzufolge nun der Bezirk vom Corto
Circuito "befreit" worden sei. Das ist die Sprache des Faschistenführers
Fini, der die Verleihung des Nobelpreises an Dario Fo "eine Schande" nannte.
Vernaderer tauchen überall irgendwie auf, man glaubt sich in Wien zu
befinden. Auch bei der Casa della Pace ("Haus des Friedens"), das sich in
einem riesigen offiziell akzeptierten Komplex (dem ehemaligen Schlachthof,
ex-mattatoio) befindet, wird das durchgezogen. Man hat sich einfach über den
Lärm beklagt. Das ex-mattatoio, in dem sich jetzt unter anderem die Città
dell´Altra Economia befindet, wo sich vom 14. bis zum 16. Oktober eine
Großveranstaltung des No-Lagers (der GegnerInnen des "Referendums") mit
vielen hunderten TeilnehmerInnen stattfand, soll durch die Hintertür ein
wenig getroffen werden, indem einzelne Mieter ein wenig gemobbt werden:
Politik der Nadelstiche.
Noch infamer ist der Versuch, eine römische Lokalstelle der heute noch nach
wie vor sehr aktiv an der politischen Diskussion beteiligten ANPI
(Associazione Nazionale dei Partigiani) zu räumen. Auch ihre Organisation
eine radikale Gegnerin des Renzi´schen Verfassungszerstörungsprojekts und
des damit verbundenen Abbaus der Rechte des Parlaments ist.
Über das Referendum weist mit der Grobschlächtigkeit seiner Formulierungen
viele Züge auf, die es mit dem "Referendum" des Orbán gemein hat (6).
Die Linke läßt sich nichts gefallen. An die 2000 Leute zogen kurze Zeit nach
der Räumung protestierend zum Centro Sociale Corto Circuito, und man sieht
an den Aufnahmen einer darauf folgenden Protestversammlung, was für ein
breiter Teil der Bevölkerung hier vertreten ist: das ist keinen
drogengeschwächte, antikommunistische, mit dem Zionismus paktierende
Subkultur, das ist eine bewußte politische, mit dem Proletariat verbundene
Kultur. Auch die Mischung der Generationen ist hier bedeutend und natürlich.
Italien ist, ebenso wie Griechenland ein Experimentfeld, ein Laboratorium
für eine eiskalte europäische Finanzdiktatur. Im schwer zu domestizierenden
Süden soll sie ein wenig ausprobiert werden. (gek.)
(1) "Kurzschluß" . Circúito hat die Betonung auf dem u.
(2) Diese Bezeichnung für den Affenbrotbaum kommt vom arabischen bu-hibab;
in Kiswahili, der Sprache des Julius Nyerere, lautet die Bezeichnung jedoch
mbuyu, Mehrzahl mibuyu.
(3) In einem gesonderten Bericht werden wir die Statements einzelner
PolitikerInnen mit Quellenangabe auflisten.
(4) PD ist die Abkürzung für Partito Democratico ("Demokratische Partei"):
das ist die italienische Sozialdemokratie.
(5) In vielen Fällen auch wegen "Infiltration durch die Mafia". Es kann aber
auch zahlreiche andere Anlässe geben (die mit Korruption und Mafia nichts zu
tun haben), bei denen die Bestellung eines außerordentlichen
Regierungskommissars möglich ist.
(6) Angesichts der schwer zu durchschauenden Fülle von Änderungen in der
Verfassung und im Wahlrecht ist folgende Propagandalosung der Regierung
Renzi einfach nur als demagogisch und manipulatorisch zu bezeichnen. Auf
einem Plakat heißt es: "Willst Du, daß die Gesetze einfacher werden?" Ähnelt
nicht die simple, emotionsgeladene Sprache, der Sprachduktus dem der Plakate
Orbáns? Kommissarische Verwaltung, desinformatorische Kriegsführung und
plebiszitäre Pseudodemokratie von oben prägen seit neuestem die politische
Fratze Europas.
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