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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 19. Oktober 2016; 17:19
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Glosse:
> Wirtschaftsverträge von bliblischen Ausmaßen
Das wirklich Erschreckende bei CETA und TTIP
Ich hätte da mal eine Frage! Wer hat dieses CETA-Abkommen eigentlich
gelesen? Nein, nicht Auszüge, sondern das komplette! Wer jetzt schreit:
'Ich!' bekommt von mir einen äußerst skeptischen Blick zugeworfen. Denn
allein der Text des Grundvertrags hat 600.000 Zeichen, mit allen
rechtsverbindlichen Anhängen hat das Ding in der Version vom Juli 2106 --
also noch ohne "Beipacktext" -- in seiner deutschen Fassung über 2 Millionen
Zeichen, das ist ungefähr die Hälfte der Bibel.
In den Annexen geht es hauptsächlich um so weltbewegende Fragen, ob
Camembert und Cheddar oder Rindervorderhälften und -hinterhälften
zollrechtlich unterschiedlich behandelt werden sollen oder Klarstellungen,
daß die Produktbezeichnung "Ceske pivo" unter der Produktklasse "Bier"
abgehandelt werden muß. Aber bekanntlich fühlt sich der Teufel im Detail
besonders wohl und vielleicht ist da irgendetwas ganz Arges drin -- was weiß
man?
Jahrelang haben Heerscharen von Beamten unterschiedlicher Muttersprache an
diesem Text gefeilt, Textbausteine aus anderen Abkommen eingebaut, diese
wieder umgebaut, dreimal gewendet und dann verzweifelt versucht, daß daraus
noch irgendwo gerade Sätze werden. Ob überhaupt auch nur irgendeiner dieser
Beamten den ganzen Text komplett verstanden hat, ist sehr fraglich;
höchstens in dem Abschnitt, den er beackert hat, kann man ihm vielleicht
Kompetenz zugestehen.
Jetzt erklärt uns Christian Kern, er hätte diesem Vertrag die Giftzähne
gezogen mit seinem "Beipacktext". Einmal abgesehen davon, daß dieser
Zusatztext namens "Joint Interpretative Declaration" (JID) eher auf den
deutschen Bundestag zurückgehen dürfte als auf den österreichischen Kanzler,
fehlt der JID natürlich die Detailverliebtheit des eigentlichen
Vertragstextes. Dadurch ist die JID zwar gut lesbar, kann aber in ihrer
Unkonkretheit trotz ihres Namens bei der Interpretation des Vertragstextes
wahrscheinlich kaum sehr hilfreich sein. Und genau darum geht es: Ein
"Beipacktext" ändert ja nichts an der Substanz, der er beigepackt ist --
insofern ist diese Bezeichnung treffender.
Tja und da werden sie dann alle sitzen, die zeichnungsberechtigten Vertreter
der Staaten und keine Ahnung haben, was sie da eigentlich wirklich
unterschreiben. Das wird wohl mit ein Grund sein, warum man solange im
Geheimen verhandelt hat -- denn dann wäre vielleicht mehr Menschen
aufgefallen, daß es sich dabei um einen Text handelt, der kaum mehr
überblickbar ist in seiner Tragweite und in seinen Details.
Dieses Abkommen soll vorläufig angewandt werden -- das geht schon gar nicht,
denn schließlich handelt es sich um langfristige Garantien (besonders in den
Fragen des Insvestitionsschutzes). Man kann aber keine langfristigen
Garantien auf Widerruf vorläufig anwenden. Das geht nur dann, wenn man davon
ausgehen kann, daß die nationalen Parlamente doch noch ratifizieren. Dazu
müßte aber seriöserweise jeder einzelne Abgeordnete dieser Parlamente
wissen, was genau da abgestimmt werden soll -- sonst gibt er seine Stimme ja
nur im blinden Vertrauen ab. Umgekehrt wird da aber auch ein Schuh daraus:
Man geht davon aus, daß die Parlamentsabgeordneten Ja und Amen sagen, weil
schließlich würde das da eh schon angewandt und man kann da ja wohl nicht
dagegen sein, wenn man eigentlich gar nicht so genau weiß, was man an diesem
Vertrag aussetzen könnte. Schließlich gibt es da ja die Experten, die einem
bei jeder Kritik sagen, daß man das alles völlig falsch verstanden hätte.
Also wird man dann halt doch den Experten vertrauen, denn wenn man denen
nicht vertrauen kann, wem soll man denn sonst vertrauen?
Durchklicken als Wirtschaftspolitik
Wir leben in einer komplizierten Welt. Wir bedienen ständig Maschinen, die
wir nicht verstehen. Da bleibt zwar oft ein mulmiges Gefühl zurück, aber
zumeist haben wir doch den Eindruck, wir wüßten, was wir mit diesen
Maschinen machen. Bei zum Beispiel einem Smartphone können wir zumindest
konkret überprüfen, was funktioniert und was nicht. Und: Smartphones müssen
kompliziert sein, sonst funktionieren sie nicht. Die AGB zum Handyvertrag
aber müssen nur deswegen kompliziert sein, um zu vermeiden, dem Kunden
allzuviele Rechte zuzugestehen. Spätestens wenn eine horrende Handyrechnung
kommt, wissen wir, wir hätten uns doch genauer informieren sollen. Auch die
AGBs von Softwarelizenzen klicken wir einfach so als "gelesen" an, weil wir
sonst die Software nicht nützen können -- in der Hoffnung, daß es schon okay
so sein wird.
Genauso ist auch CETA gestrickt -- und all die anderen Handels- und
Wirtschaftsverträge, deren Zahl Legion ist, die uns aber sonst nicht
interessieren, weil es sich dabei meistens um Verträge zum Schutz von
"Investoren" aus unseren Industriestaaten handelt, die die niedrigen Umwelt-
und Arbeitsstandards in Schwellenländern nützen wollen.
Jene Herrschaften, die jetzt da CETA unterschreiben wollen, sind es also
gewohnt, solche Verträge abzusegnen, die sie nicht verstehen. Und daher
machen Sie das auch bei CETA so, weil ihnen jemand eingeredet hat, das wäre
schon ganz gut und richtig so.
Genau mit solchen Rechtswerken angefangen bei den ersten GATT-Verhandlungen
hat sich die Politik selbst entmachtet: Mit im Dienste des Großkapitals
erstellten Bürokratenwerken, deren Tragweite die sogenannten
Entscheidungsträger nicht erfassen konnten, und von denen sie nun getrieben
werden.
Was steht in CETA? Ich weiß es nicht. Ich habe den Verdacht, daß viele
der -- wie auch immer dann zustandekommenden -- Schiedsgerichte ebenfalls
überfordert sein und letztendlich nach anderen Rechtskriterien entscheiden
werden. Genau deswegen aber muß man gegen solche Rechtswerke sein. Denn so
umfassend sie sind, verschaffen sie genausoviel Rechtssicherheit wie die
Bibel, mit der man bekanntlich alles und das Gegenteil beweisen kann.
Oder -- um grob vereinfacht den Mathematiker Gödel zu zitieren --: Jedes
hinreichend komplexe System ist widersprüchlich oder unvollständig. Und wenn
wir im Alltag dieser komplexen Welt mit diesem Problem auch zurande kommen
müssen, müssen wir nicht auch noch Rechtswerke kreieren, deren Folgen
unberechenbar sind.
*Bernhard Redl*
(Verfaßt vor Bekanntwerden des belgischen Vetos)
*
CETA ist nicht nur ein Investitionsschutzabkommen, aber eben auch. Darum
dreht sich hauptächlich die Debatte. Vor knapp zwei Jahrzehnten gab es
bereits einen Versuch, die in Schwellenländern exzessiv zur Anwendung
kommenden Abkommen auch in den Industrieländern wirksam zu machen: Das im
Rahmen der OECD verhandelte "Multilateral Agreement on Investment" (MAI).
Die akin beschäftigte sich damals sehr ausführlich damit, einer der Texte
von damals sei daher auf dem Blog wiederveröffentlicht:
https://akinmagazin.wordpress.com/2016/10/18/aus-dem-archiv-das-mai-zu-ceta-und-ttip/
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