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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 21. September 2016; 16:44
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Wahlen 2016:

> Wahlbeteiligung: Licht und Schatten, Kritik und falsche Kritik

Es muss tiefer gegraben werden. Aber zuerst: Ich freue mich sehr über das
Ergebnis der Wahlwiederholung im 2. Wiener Bezirk. Nichts desto weniger muss
man auch ein bisschen tiefer schürfen. Das hat wenig mit den AkteurInnen vor
Ort im 2. zu tun. Die niedrige Wahlbeteiligung ist ein Thema, dass
verschiedene Begründungen benötigt. Eine ist, dass die Bezirkswahl nicht
gleichzeitig mit der Landtagswahl stattgefunden hat und Bezirksvertretungen
oft von WählerInnen nur mitgewählt werden (es sei denn es gibt ein
entscheidendes Thema, siehe Währing, wo die Grünen durch den Kampf fürs
Parkpickerl erfolgreich waren) und die mediale Konzentration geringer ist
(wie bei ÖH-Wahlen). Ein andere Erklärung ist, dass es bei Neuwahlen und
Wahlwiederholungen oft das Interesse generell niedriger ist, weil die
Dynamik fehlt. Der dritten Erklärung soll mehr Raum gegeben werden.

Politik so wie sie derzeit stattfindet, interessiert die meisten Menschen
einfach nicht mehr, es gibt subjektiv für viele keinen Grund wählen zu gehen
und wenn dann oft nur aus schlechtem Gewissen, denn es wird an ihnen
vorbeigeredet, entweder rassistisch (FPÖ), oder verbindend und soziale
Konflikte ignorierend (Grüne), oder extrem systemerhaltend, klientelistisch
und am Eigeninteresse orientiert (SPÖ, ÖVP).

Im Vergleich zur aufgehobenen Wahl 2015 haben 2016 die Grünen 88% der auf
sie entfallenen absoluten Stimmen gehalten, die FPÖ 56% und die SPÖ gerade
einmal 39% (Anmerkung das ist keine Behalterate, weil hier
WechselwählerInnen nicht einberechnet sind). In Absoluten Zahlen (in Klammer
2015) bedeutet das für die Grünen: 8839 (10031), für die FPÖ: 5619 (10010)
und für die SPÖ 7017 (17749). Das heißt, trotz hohem prozentuellen Zuwächsen
haben die Grünen Stimmen verloren, aber es geschafft am wenigsten im
Vergleich zu den anderen Parteien zu verlieren. Selbstverständlich sind auch
das Werben um WechselwählerInnen wichtig, doch mittlerweile ist vielen im
politischen Betrieb und den Schalthebeln bewusst, dass es um die
Mobilisierung der SympathisantInnen unter Nicht-WählerInnen und das Halten
der eigenen WählerInnen geht.

Dabei haben links-liberale Parteien einen Vorteil. Erstens, weil ihre
WählerInnen das Wählengehen als Bürgerpflicht auffassen und mehr Vertrauen
in das demokratische System haben. Zweitens, weil die Verschwörungstheorien
der FPÖ und ihrer Filterblase das Vertrauen in Demokratie schwächen, was
zwar langfristig gefährlich ist, aber kurzfristig auf sie zurückfällt, weil
es demobilisierend wirkt. Ohne Zahlen zu kennen: Die SPÖ hat nur ein großes
sekundäres Problem mit dem Wechsel der eigenen Klientel zur FPÖ. Ihr
primäres Problem (mag es eventuell in absoluten Zahlen auch geringer sein)
ist der Wechsel ihrer WählerInnen in die NichtwählerInnenschaft oder die
Bewegung von der SPÖ zu NichtwählerInnen und von NichtwählerInnen zur FPÖ
über längere Zeiträume. Dass es keine umfassende Thematisierung und
Erforschung der NichtwählerInnen gibt, spricht Bände über das politische
System. Denn mehr als Phrasendrescherei, was moralisch verwerflich am
Nichtwählen sei, hat kaum einE VertreterIn von Parteien und Medien im Sinn.

Hier sei in Bezug auf die sogenannte "Postpolitik" (Politik als Schein) auch
in Richtung von Linken im Grünen Umfeld oder auch manchen Liberalen eine
Kritik formuliert. Die herrschende Politik ist nicht nur rein Show, insofern
es nachwievor um Macht, Herrschaft und Gewalt geht. Doch die Beziehung
zwischen WählerInnen und Politik ist eine depolitisierende Show und das ist
Teil der Machtbeziehung. Ob Grün oder Blau an der Macht ist, macht, egal auf
welcher Ebene, einen Unterschied und der Kampf gegen Rechtextremismus endet
zwar dort nicht, aber ist auch in Wahlauseinandersetzungen notwendig. Klar
hat in der Zuspitzung von Grün-Blau die inhaltliche Substanz gelitten.
Dennoch ist es für sich genommen nicht unpolitisch und inhaltlos damit in
eine Auseinandersetzung zu gehen. Jedoch perlt auch der Einwand ab, dass ja
eh auch anderen Themen im Wahlkampf präsent waren. Die Frage stellt sich für
wen und wie intensiv?

Der Unterschied in der Kritik ist, welchen zeitlichen und historischen
Handlungshorizont man für die eigene Kritik und die darauf folgende
politische Praxis festmacht. Festzustellen ist, dass die postpolitische
Mobilisierung eine zynische Show ist, in der Menschen zu Objekten des
Politikmarketings gemacht werden und nicht als Individuen mit bestimmten
sozialen Interessen behandelt werden. Das impliziert nicht nur rationales
Interesse geleitetes Handeln sondern auch irrationales, wie Rassismus oder
Antisemitismus, was man weder als Protest abtun darf noch lapidar mit
"Sorgen ernst nehmen" deklassieren. Ein Rassist oder eine Rassistin ist das,
weil er oder sie entsprechende Vorstellung hat. Manche mehr und manche
weniger. Doch soziale Interessen und menschenfeindliche Vorstellungen
existieren im Menschen nebeneinander. Dabei kommt es darauf an wie stark
oder schwach, kurz-, mittel- oder langfristig diese Vorstellungen
angesprochen und aktiviert werden, wieviel Raum sie haben, wer die Debatte
wie "framed", mit welchen kulturellen Codes sie in Verbindung stehen
("Tabus") und wie diese Seiten in Beziehung gesetzt werden, ob das eigenen
Interesse, das auch unmittelbar mit der eigenen sozialen Schwäche
zusammenhängt, aus dem bewussten Denken verdrängt wird oder nicht.

Doch die Kritik an derartigen Entwicklungen ist oftmals selbst unpolitisch
und moralisierend, weil dabei die mediale Realität der Vergangenheit,
Partei- und Grundsatzprogramme (die niemand liest und auch niemand lesen
wird) und bestimmte Aktionsformen romantisiert werden. Das ist
strukturkonservativ. In der Auseinandersetzung mit der Postpolitik geht es
nicht darum, die Instanz "wahrer" und richtiger Praxis zu sein und sich zu
Gralsrittern zu erheben, sondern die Frage zu stellen, in welche politischen
Konflikte man mit wem und welchen Themen langfristig und organisiert
eintritt. Und taktische Fragen (wie Wahlkämpfe) erst nach derartigen
strategische Fragen stellt und dabei taktisch erst lernt. Insofern ist die
moralisierende Kritik an den Grünen wegen der Zuspitzung auf Blau-Grün
verkürzt. - Was auch nicht bedeuten soll, dass die Grünen aus dem Status Quo
von Politik nicht langfristig gedacht ausbrechen sollten.

Wie Medien und Öffentlichkeit (d. h. Medienunternehmen, Politikberatung,
Think Tanks etc.) funktionieren, ist keine äußere Determinante von Politik,
sondern Resulat von Ideologien (Neoliberalismus) und ökonomischer
Verhältnisse (Arbeitsbedingungen, Verteilung etc.) und kann sich daher
ändern.

Das heißt: Worum es ginge, wäre langfristige, kleinteilige Zuspitzung in
ausgewählten Themenbereichen, Grundlagenarbeit über Jahre hinweg, Aufbau
oder Verdichtung von lokalen Strukturen in denen AktivistInnen und Menschen
ernst genommen werden. Dann verändert sich auch der Möglichkeitsraum
politischen Handelns. Gesellschaftliche Veränderungen erscheinen uns immer
wie Meilensteine in der Geschichte, schlagartig treten sie auf. Doch der
wahre Kern dessen ist, das nicht hinter jeder Volte, eine Revolte steckt,
sondern dass Menschen oft Jahre lang auf politische Zuspitzungen die
entscheidende Veränderungen bedeuten, ohne die tägliche historische
Gewissheit, dass es je zu so einer kommen wird, hinarbeiten.

Die Grünen haben den kurzfristigen Handlungspielraum genutzt, auf die Karte
Grün gegen Blau gesetzt und das zum wahlentscheidenden Thema gemacht. Ob das
Brillanz oder Zufall war, sei dahingestellt. Die Präsidentschaftswahlen
haben dem zwar Aufwind gegeben, doch vor allem wurden klug ehrenamtliche und
professionelle Ressourcen im Bezirk gebündelt und das hat sich bezahlt
gemacht. Und den Ehrenamtlichen (zum Beispiel den Jungen Grünen Wien und
Grünen im Bezirk) gehört einfach gedankt. Denn auch das ist etwas, was sich
grundlegend an Politik ändern muss. Danke!
*Cengiz Kulac (gek.)*

https://cengizkulac.com/



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