********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 6. April 2016; 16:12
**********************************************************
Argentinien:
> 40 Jahre nach dem Putsch
Das Gedenken hat nicht nur historische Bezüge, sondern auch sehr aktuelle.
In Argentinien jährte sich am 24. März 2016 zum vierzigsten Mal der letzte
Militärputsch. 1976 übernahm eine Junta aus Heer, Marine und Luftwaffe -
gestützt durch katholische Kirche, Medienkonzerne und Wirtschaft und nicht
zuletzt die USA - für sieben Jahre die Macht in dem südamerikanischen Land.
Oppositionelle und solche, die man dafür hielt, wurden verhaftet und
ermordet. Zum runden Jahrestag gedachten die Menschen in Buenos Aires der
Opfer und sagten: "Nunca más" - Nie wieder!
Auf der Plaza de Mayo war kein Durchkommen mehr möglich. Hunderttausende
waren ins Zentrum der argentinischen Hauptstadt geströmt, um den 40.
Jahrestag des Staatsstreichs von 1976 zu begehen. Weil sich die
Menschenrechtsorganisationen "Memoria con alegría" - Gedenken mit Freude -
auf die Fahnen geschrieben hatten, wurde trotz des eigentlich traurigen
Anlasses ausgiebig gesungen, getrommelt und getanzt.
Die Demonstration war wesentlich größer als in den Jahren zuvor. Das liegt
nicht nur an dem runden Jahrestag, sondern auch an den veränderten
politischen Machtverhältnissen, wie ein Teilnehmer erklärt: "Vordergründig
geht es um das Gedenken an den Staatsstreich, im Grunde geht es aber auch
gegen die rechte Regierung von Präsident Macri." Im Jahr 2015 ist zum ersten
Mal in der argentinischen Geschichte ein rechtskonservativer Kandidat nach
demokratischen Wahlen ins Amt gekommen. Und Macri, so der Teilnehmer weiter,
verfolge dasselbe neoliberale Wirtschaftsmodell wie damals die Diktatur.
Ein Putsch mit Ansage
Die Soziologin Estela Schindel erinnert sich noch gut an den Tag des
Putschs: "Wie jeden Morgen wurde ich von meinem Vater geweckt. Er sagte: Du
darfst im Bett bleiben, du gehst heute nicht zur Schule. Die Schulen haben
zu." Ein im gleichen Haus wohnender Militärangehöriger hatte dem Vater
gegenüber auf die Stunde genau den Putsch angekündigt - und als dieser um 3
Uhr nachts das Radio anschaltete, war die Erklärung der Junta zu hören.
Es war ein Putsch mit Ansage. Die Spitzen des Militärs hatten Präsidentin
Isabel Perón ein dreimonatiges Ultimatum gestellt. Für viele
Argentinierinnen und Argentinier kam ihre Festnahme am 24. März 1976 daher
nicht überraschend. Nicht zuletzt, weil es im 20. Jahrhundert insgesamt acht
Staatsstreiche in dem südamerikanischen Land gab.
Und doch war dieses Regime brutaler als die vorherigen und es arbeitete mit
klandestiner Gewalt. "Die Machtübernahme war nicht blutig wie in Chile 1973
unter General Pinochet, wo tatsächlich Menschen gestorben sind", beschreibt
Estela Schindel. "Aber ab dem 24. März verstärkte sich die Dimension der
Repression und die Gewaltaktionen wurden heimlich. Die Menschen sind einfach
verschwunden." In der Öffentlichkeit wurde der Staatsterror nicht mehr
wahrgenommen.
Ganz anders in den Jahren zuvor, als oftmals Leichen auf den Straßen
gefunden wurden und die Auseinandersetzungen zwischen Guerillagruppen und
Staat omnipräsent waren. Laut Schindel wurde bewusst ein Klima der Angst
geschaffen, das letztendlich dazu geführt habe, dass viele Menschen den
Putsch begrüßten. Obwohl 1976 die bewaffneten Gruppen bereits aufgerieben
waren und keine wirkliche Gefahr für den Staat darstellten, dienten die
sogenannten Subversiven den Militärs als Vorwand, um an die Macht zu
gelangen.
. und die Menschen sind einfach verschwunden.
Arbeiter*innen, Gewerkschafter*innen, Studierende und viele andere - oft
sehr junge - Oppositionelle, und solche, die man dafür hielt, wurden
verhaftet. Sie wurden an geheimen Orten gefoltert und ermordet, viele Tote
wurden aus Flugzeugen über dem Atlantik abgeworfen. Etwa 30.000 Menschen
fielen dem Regime zum Opfer. Rund 500 Kinder von "Verschwundenen" wuchsen
unter falscher Identität in regimetreuen Familien auf. Die meisten von ihnen
kennen ihre wahre Herkunft bis heute nicht.
Dass die Schrecken der Militärregierung bekannt wurden, ist vor allem den
Angehörigen der Opfer zu verdanken, allen voran den Madres de la Plaza de
Mayo - den Müttern von der Plaza de Mayo. Sie fanden sich nicht damit ab,
dass es keine Spur ihrer entführten Kinder gab und fingen an, in Polizei-
und Militäreinrichtungen und vor dem Regierungspalast an der Plaza de Mayo
zu fragen: "Wo sind unsere Kinder?" Heute sind die Madres fester Bestandteil
Argentiniens und kämpfen weiterhin für Menschenrechte in dem Land.
Nach dem Ende der Diktatur 1983 folgten viele Jahre des Kampfes für
Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit. Bis ab 2003 die Regierungen von
Néstor Kirchner und später von Cristina Fernández de Kirchner die Anliegen
der Menschenrechtsbewegung zum Staatsprojekt erklärten. Schindel, die viel
zu dem Thema geforscht hat, bilanziert:
"Die Kirchners haben eine Wende in der Diktaturaufarbeitung herbeigeführt,
an die viele wirklich nicht mehr geglaubt haben." Amnestiegesetze wurden
durch den Kongress abgeschafft und später für verfassungswidrig erklärt,
zahlreiche Prozesse gegen die Militärs wieder aufgerollt und viele ehemalige
Gefangenenlager wurden zu Gedenkorten und zu Zentren für Menschenrechte und
soziale Gerechtigkeit.
Erinnerung unter Macri nachrangiges Thema
Eines der zentralen Projekte des seit Dezember regierenden neoliberalen
Präsidenten Mauricio Macri ist die Verschlankung des Staates: Zehntausende
Staatsbedienstete wurden bereits entlassen. Auch im Menschenrechtsbereich
gab es viele Einschnitte, wenngleich Macri hier nicht auf offenen
Konfrontationskurs geht. Giselle Tepper von der Organisation HIJOS spricht
von einem doppelzüngigen Spiel: "Während im öffentlichen Diskurs das
Korrekte gesagt wird, das was die ganze Welt gerne hört, nämlich dass
'Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit' weiterhin Staatspolitik sein
werden, werden Programme gestrichen und Leute entlassen." So wie beim Centro
Ulloa, das Zeug*innen, Überlebende und Angehörige bei Prozessen gegen
Militärs berät und psychologisch begleitet. "Seit vor zehn Jahren der
Kronzeuge Julio López spurlos verschwunden ist, ist diese Arbeit wichtiger
denn je", erklärt Tepper. Das Programm zu streichen, sei nur eines von
zahlreichen Beispielen, wo Macri gegen seine eigenen Aussagen handle.
Macris Regierung spart vor allem dort, wo sie sich unliebsamer Meinungen
entledigen will. Die Aufarbeitung der Diktatur ist ein nachrangiges Thema,
nicht zuletzt, weil viele Träger*innen des militärisch-bürgerlichen Regimes
von damals heute auch seine Regierung stützen. Auch seine anfängliche
Weigerung, sich nach seinem Amtsantritt überhaupt mit den
Menschenrechtsorganisationen zu treffen, verdeutlicht seine Haltung.
Schon deshalb war die Demonstration zum 40. Jahrestag der Diktatur auch eine
Kampfansage in Richtung Macri. Ein Teilnehmer bringt das, was viele heute
umtreibt, auf den Punkt: "'¡Nunca más!' - nie wieder, das heißt unter Macri
nicht nur: 'Nie wieder Verschwundene!', sondern auch: 'Nie wieder
Neoliberalismus!'"
(Christian Rollmann und Jessica Zeller / npl / poonal)
Quelle: https://www.npla.de/poonal/argentinien-40-jahre-nach-dem-putsch/
***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der nichtkommerziellen
Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd muessen aber nicht
wortidentisch mit den in der Papierausgabe veroeffentlichten sein. Nachdruck
von Eigenbeitraegen mit Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete
Beitraege stehen in der Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von
Texten mit anderem Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine
anderweitige Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als
Abonnement verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann
den akin-pd per formlosen Mail an akin.buero{AT}gmx.at abbestellen.
*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1170 wien, Lobenhauerngasse 35/2
vox: ++43/1/535-62-00
(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
http://akin.mediaweb.at
Blog: https://akinmagazin.wordpress.com/
Facebook: https://www.facebook.com/akin.magazin
Mail: akin.redaktion{AT}gmx.at
Bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976-00, Zweck: akin
IBAN AT041200022310297600
BIC: BKAUATWW