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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 9. Dezember 2015; 17:35
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Gesellschaft/Gesundheit:
> Salutogenese: Bessere Gesundheit durch Selbstbetrug
Die deutschen *Gruppen gegen Kapital und Nation* haben uns wiedermal einen
theoretischen Text geschickt:
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Seit ein paar Jahren gibt es in einigen Studienfächern, in denen das Thema
Gesundheit eine Rolle spielt, ein neues Paradigma. Die Stichworte dabei sind
Aktivierung von Ressourcen, Empowerment und Resilienz. Die Idee ist, den
Fokus nicht mehr auf Beschränkungen und Krankheiten, sondern auf
Möglichkeiten und Fähigkeiten sowie die damit verbundenen Widerstandskräfte
von Menschen aller Altersstufen zu legen.
Wesentlichen Anteil an der Entwicklung dieser Ideen hatte der
Medizinsoziologe Aaron Antonovsky. Auf ihn geht das Konzept der Salutogenese
zurück (Salus - lateinisch für Wohlergehen, Gesundheit, Wohlbefinden,
Genese - griechisch für Entstehung). Während seiner Studien zum
Gesundheitszustand von Frauen, die den Holocaust überlebt hatten, fiel ihm
auf, dass einige der Überlebenden trotz massiver Belastungen in gutem
gesundheitlichen Zustand waren. Anstatt Krankheit als das Besondere zu
nehmen, schlug er vor, Fragen wie "Warum ist jemand gesund trotz
Belastungen?" und "Wie wird jemand gesünder?" zu stellen. (1)
Antonovsky hat seine Ideen in zwei Büchern, 'Health, Stress and Coping'
sowie 'Unraveling the mystery of health' formuliert. Letzteres ist 1997 auf
deutsch unter dem Titel 'Salutogenese'. Zur Entmystifizierung der Gesundheit
erschienen. Im Folgenden soll anhand von Zitaten daraus gezeigt werden, dass
Antonovsky eine falsche, positive Sichtweise auf gesellschaftliche
Verhältnisse, die systematisch Belastungen für die Menschen hervorbringen,
propagiert. Mit der Salutogenese werden chronisch belastende
Lebensbedingungen als unhintergehbar gesetzt und an die Individuen der
Anspruch eines befürwortenden Zurechtkommens unter diesen widrigen
Bedingungen gestellt.
Im ersten Kapital grenzt Antonovsky sein Konzept von einer auf Krankheit
orientierten Medizin ab. Dieser gegenüber sollen die Vorteile der
Salutogenese herausgestellt werden. Zentral sind für ihn dabei die
Stichworte "Adaption" und "Stressoren":
"Die eher pessimistische Salutogenese bringt uns dazu, uns auf das
umfassende Problem der aktiven Adaption an eine unweigerlich mit Stressoren
angefüllte Umgebung zu konzentrieren." (S. 27)
Indem behauptet wird, dass "Stressoren" unweigerlich vorhanden sind und es
um die Anpassung an sie geht, wird der Untersuchung von Zusammenhängen, die
sie verursachen, eine Absage erteilt. Klar kann es auch mal Sinn machen,
pragmatisch mit Problemen umzugehen. Man ignoriert ihre Gründe und
konzentriert sich auf eine schnelle Problemlösung. Antonovsky formuliert das
aber, wie sich auch im Folgenden noch zeigen wird, zum allgemeinen
Programm - und das kann nicht sinnvoll sein. Erstens werden so Sachen, die
man wirklich nicht verhindern kann und solche, die man aus der Welt schaffen
kann, einfach in einen Topf geschmissen: Stressoren gibt es halt. Zweitens
ist damit eine Problembehandlung, die auf die Ursachen der Probleme geht,
ausgeschlossen. In einer solchen wird zuerst eine Analyse des Problems
durchgeführt. Wenn z. B. das Auto nicht mehr fährt oder der Computer nicht
mehr läuft, passt man sich dem nicht einfach an, sondern geht den Ursachen
nach - für Laien z.B. indem sich Wissen über die Funktionsweise angeeignet
wird oder indem Experten gefragt werden.
Wenn man die Gründe für widrige Lebensbedingungen (= "Stressoren")
herausfindet, zeigt sich, wie man am besten damit umgehen kann. Erst dann
sieht man, ob es sich um vermeidbare Belastungen handelt, die durch das
Handeln von sich und/oder anderen begründet sind und durch verändertes
Handeln vermieden werden können. Genau das soll laut Antonovsky allerdings
nicht mehr stattfinden. Folgt man ihm, wird die Frage, was die feindlichen
Lebensbedingungen ausmacht, wie sie entstehen und entsprechend ob sie
vermieden werden können, nicht mehr gestellt. Stattdessen soll man sich an
sie anpassen:
"Salutogenetisches Denken eröffnet nicht nur den Weg, sondern zwingt uns,
unsere Energien für die Formulierung und Weiterentwicklung einer Theorie des
Coping einzusetzen." (S. 30)
Die Absage an eine Untersuchung der widrigen Lebensbedingungen geht einher
mit der entsprechenden Zielformulierung. Wenn einem Mist passiert, soll man
nicht fragen, was ist da los, sondern den Stress im ersten Schritt als
unvermeidlich hinnehmen. Diese Vogel-Strauß-Methode gegenüber dem Warum
widriger Lebensbedingungen wird auch noch positiv hingestellt. Es sei eine
Errungenschaft, dass man dann nur noch die Möglichkeit der
Schadensbegrenzung habe!
Wie diese Bewältigung aussehen soll, wird in der Definition von Antonovsky's
Konzept des Kohärenzgefühls deutlich. Kohärenzgefühl (Sense of Coherence,
SOC) ist das zentrale Konstrukt in der Salutogenese. Damit ist eine
sinnstiftende individuelle Verarbeitung gemeint, nach der die Welt im
Zusammenhang eines sinnvollem Ganzen stände und beeinflussbar sei. Vom
Kohärenzgefühl ist laut Salutogenese der gesundheitsförderliche Umgang mit
Stressoren abhängig.
"Das SOC ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man
ein (...) Gefühl des Vertrauens hat, daß die Stimuli, die sich im Verlauf
des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert,
vorhersehbar und erklärbar sind; einem die Ressourcen zur Verfügung stehen,
um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen; diese
Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement
lohnen." (S. 36)
Es könnte scheinen, als wenn hier doch die Erklärung der Welt eine Rolle
spielt. Auch die Frage, ob einem Ressourcen zur Verfügung stehen, ist
tatsächlich entscheidend, ob und wie man mit einer feindlichen Sache (z.B.
Hunger) fertig wird. Es geht hier allerdings nicht um Erklärungen und
Ressourcen, sondern um das Gefühl dazu. Entscheidend sei also die
Sichtweise, wie Anforderungen gesehen werden, nämlich als Herausforderungen.
Herausforderung heißt, es handelt sich potentiell um etwas Positives, durch
das man zwar gefordert wird, das dann dem eigenen Vorankommen aber auch
dienlich ist. Deswegen lohnen sie Anstrengung und Engagement.
Warum sollte sich aber eine rosarote Brille auf irgendwelche unhinterfragten
Lebensbedingungen positiv auf die Gesundheit auswirken? Warum sollte das
Ausschalten der kritischen Beurteilung von "Stimuli" zum eigenen Nutzen
sein? Angenommen, die Anforderungen, die einem begegnen, sind einem
überhaupt nicht oder auch nur in der Summe nicht dienlich - dann wäre es zum
eigenen Nachteil, sich diese als Herausforderungen, die zum eigenen
Vorankommen da sind, einzubilden, weil man beim positiven Bezug auf sie
Schaden davonträgt.
"Das Kernstück der salutogenetischen Orientierung ist die grundlegende
philosophische Sichtweise, daß der menschliche Organismus sich prototypisch
in einem dynamischen Zustand eines heterostatischen Ungleichgewichts
befindet. Ob die Stressoren nun aus der inneren oder äußeren Umgebung
stammen, ob es sich um alltägliche Widrigkeiten handelt, ob sie akut,
chronisch oder endemisch sind, ob sie uns aufgezwungen werden oder wir sie
frei gewählt haben, unser Leben ist reichlich mit Reizen angefüllt, auf die
wir keine automatischen, angemessenen adaptiven Antworten haben und auf die
wir reagieren müssen. (...) Lassen Sie uns einige Beispiele betrachten. Ein
40jähriger Stahlarbeiter wird darüber informiert, daß seine Firma
geschlossen werden soll. Eine 27jährige Jungmanagerin muß erfahren, daß
keinerlei Beförderung möglich und ihre Stelle in Gefahr ist, wenn sie nicht
der Forderung ihres Chefs nachkommt, mit ihm zu schlafen." (S. 124/5)
Dass sich menschliche Organismen in einem heterostatischen Ungleichgewicht
befinden, soll so viel heißen, dass Menschen von Natur aus in gewissem Grad
fragil und mit ihrer Gesundheit niemals völlig im Gleichgewicht sind. Das
ist ganz ähnlich wie der Gedanke der immer präsenten widrigen
Lebensbedingungen, nur nochmal von der Seite der Subjekte und deren
Organismus ausgedrückt. Von dieser allgemeinen Aussage macht Antonovsky den
Übergang zu Beispielen der Entlassung eines Lohnabhängigen und der
Erpressung zum Sex im Arbeitsleben. Indem er diese Beispiele in einem
Atemzug mit menschlichem Organismus und allgegenwärtigen Stressoren nennt,
legt er nahe, dass sie ähnlich natürlich und selbstverständlich seien.
Mit den Beispielen ist die Arbeitswelt angesprochen. Die hält im
Kapitalismus allerdings nicht nur die eine oder andere Belastung bereit,
sondern ist ganz prinzipiell Belastung. Arbeit findet hier statt, wenn sie
der Kapitalverwertung dient und entsprechend auf eine solche Art und Weise,
dass sie sich für das Unternehmen möglichst maximal dazu lohnt. Der
40jährige Stahlarbeiter wird entlassen, weil die Geldverwertung in "seiner"
Firma nicht mehr funktioniert hat. Um zu diesem Zweck angestellt zu werden,
konkurrieren die Anbieter der Ware Arbeitskraft gegeneinander, haben also
aufgrund der gesellschaftlichen Verfasstheit, die Antonovsky gerade
ignoriert und pauschal zur "Realität" erklärt, sich gegenseitig
ausschließende Interessen. Die Unternehmen schaffen dabei eine Hierarchie
der Entlohnung vom Niedriglohn bis hin zu wenigen besser bezahlten
Positionen, die in der Regel die Aufgabe haben, die schlechter bezahlten
Leute anzutreiben, einzustellen oder zu entlassen. In Verhältnissen der
Konkurrenz um Arbeitsplätze, auf die die meisten auch in den mittleren und
höheren Etagen existentiell angewiesen sind, kann der Chef der Jungmanagerin
seine Machtposition ausnutzen und sie zum Geschlechtsverkehr nötigen. (2)
Weiterhin übergeht er gesellschaftliche Unterschiede, wenn er schreibt, dass
"unser" aller Leben mit Stressoren angefüllt seien. In der gegenwärtigen
Gesellschaft bedeutet die individuelle Lage - vor allem wie viel Geld man
zur Disposition hat - erhebliche Unterschiede bezüglich der Widrigkeiten,
mit denen Leute konfrontiert sind.
"Es liegt in der Natur der menschlichen Existenz, daß Probleme nicht
verschwinden und Spannung erzeugt wird." (S. 128)
Es liegt nicht in der "Natur der menschlichen Existenz", dass Produktion in
Unternehmen mit dem Zweck der Kapitalverwertung stattfindet und wenn dieser
Zweck nicht aufgeht, 40jährige Stahlarbeiter entlassen werden. Es liegt auch
nicht in der "Natur der menschlichen Existenz", dass 27jährige
Jungmanagerinnen zum Geschlechtsverkehr mit ihren Chefs erpresst werden.
Beides hat seinen Grund in den gesellschaftlichen Verhältnissen.
Antonovsky insistiert dennoch auf der Natürlichkeit von unnatürlichen
Problemen. Damit legitimiert er einen geistigen Umgang mit ihnen, der falsch
ist:
"Aber wenn einmal dieses Vertrauen [im Sinne des Kohärenzgefühls] aufgebaut
ist, wenn sich, in meinen Begriffen, die generalisierte Weltsicht als
bedeutungsvoll und verstehbar auf die spezifische Situation richtet, ist man
bereit, zu handeln. Solches Handeln kann simultan oder sequentiell darauf
ausgerichtet sein, das instrumentelle Problem und die emotionale Belastung
zu lösen. Was bedeutet dies, um eines der vorigen Beispiele aufzugreifen,
für den 40jährigen Stahlarbeiter, dem mitgeteilt wird, daß sein Werk
schließen und er seine Arbeit verlieren wird? Betrachten Sie die folgende
Vielzahl von Ressourcen, die von einer Person mit einem starken SOC
aktiviert werden können: darauf insistieren, daß seine Gewerkschaft ein sehr
genaues Auge auf alle Versuche der Firma hat, sich der auf legitime Weise
erworbenen Abfindung, Rentenansprüche oder Rechte im Urlaubs- und
Krankheitsfall zu bemächtigen; klarstellen, daß weder er noch seine
Kollegen, sondern inkompetentes Management oder generelle soziale
Bedingungen schuld am Scheitern des Unternehmens sind; Überprüfung des
Familienbudgets und Kalkulation, welche Einschränkungen gemacht werden
können und wie lange die Ersparnisse ausreichen können; gemeinsame
Überlegungen mit seiner Frau, die bisher lieber zu Hause geblieben ist, ob
sie sich nach einem Job umsehen sollte und wie die Kinder mit anpacken
könnten; die Gelegenheit nutzen, noch einmal genau zu überlegen, ob dies
nicht eine gute Chance für einen Berufswechsel oder eine Weiterbildung ist;
da nun ein wenig freie Zeit zu erwarten ist, kann er die Dinge in Angriff
nehmen, die er schon seit langem tun wollte, ohne daß dabei die Suche nach
einer neuen Stelle zu kurz käme; er wird seinen Onkel oder einen Kameraden
aus der Armee kontaktieren, um Ideen für eine neue Arbeit zu sammeln; er
wird wieder dem Kirchenchor beitreten und singen, um den Schmerz zu lindern.
Und er wird sich umsehen, aber nicht nur nach einem anderen Job, sondern
nach einem der ihm in jeder Beziehung angemessen Gratifikation verschafft.
Schließlich sprechen wir darüber, wie er die nächsten 25 Jahre verbringen
wird." (S. 135/6)
Das ist an Zynismus schwerlich zu übertreffen. Antonovsky propagiert einen
systematischen Selbstbetrug, bei dem eine große Misere als etwas Gutes
gesehen werden soll. Er stellt vor, wie Leute "mit einem starken SOC"
gedanklich Scheiße zu Gold machen sollten - und damit, so meint er, würden
sie sich auch noch einen Gefallen tun. Was er schreibt ist eine Frechheit
gegenüber denjenigen, an die sein Programm gerichtet ist. Das wird deutlich
wenn man sich vorstellt, dass Antonovsky dem entlassenen Stahlarbeiter
persönlich mitteilen würde, er solle seine Lage doch positiv sehen, jetzt
kann er endlich die Ressourcen nutzen, eine neue Finanzplanung aufzustellen
und mit seiner Frau zu überlegen, wie sie einen Job bekommen könnte.
Daran schließt sich direkt das folgende Zitat an:
"Es gibt keine Garantien im Leben, und die Realität mag einem fortwährend am
Herzen, an der Zeit und dem Geldbeutel zerren. Man kann sich sehr wohl auf
den Holzweg begeben, Fehler machen und sich selbst täuschen. Man beginnt
sich zu beschuldigen, mit der Frau und den Kindern zu meckern und zu
trinken. Aber die Chancen, daß eine Person mit einem starken SOC
fehlangepasste Copingaktionen unternimmt, sind geringer." (S. 136)
Was ist denn das für eine Realität, die einem da "fortwährend am Herzen, an
der Zeit und dem Geldbeutel" zerrt? Bei Antonovsky liest es sich so, dass
diese Realität unhinterfrag- und unhintergehbar wäre, obwohl er andererseits
um die bestimmte Verfasstheit der Gesellschaft weiß. Denn aus den positiven
Ressourcen, die der entlassene Stahlarbeiter aktivieren könnte, wird klar,
um was für eine Realität es sich handelt. Das Management hat ihn entlassen;
er könnte die Gewerkschaft anrufen, um sich seine Rentenansprüche zu sichern
und er könnte nochmal klarstellen, dass er nicht an seiner Entlassung schuld
ist. Das weist auf einen Klassengegensatz hin. Das Management entscheidet im
Auftrag des Kapitals über die Existenz derjenigen Leute, die auf Lohn
angewiesen sind. Die Interessen dieser zwei Klassen sind entgegengesetzt und
wer wem was zu sagen hat, ist klar. Allein die Notwendigkeit, dass sich die
Lohnabhängigen zusammentun und mit Arbeitsverweigerung drohen müssen, um
überhaupt ihre Interessen vorbringen zu können, zeigt, dass es sich nicht um
eine Gesellschaft der "Gelegenheiten" handelt. Die Anforderungen
("Stimuli"), vor die so viele Leute gestellt sind, sind nicht zu deren
Vorankommen da.
In dem Zitat wird auch deutlich, dass Antonovsky's Programm auf
Anpassungsleistungen hinausläuft, die die Betroffenen erbringen sollen. Der
Einstieg in dem Buch ist die Förderung von Gesundheit. Da ist das
Widersinnige, dass eine undifferenziert positive Sicht auf widrige
Lebensumstände gesundheitsförderlich sein soll. In Bezug auf die hier
erwähnte geforderte Anpassung wird klar, in welchem Zusammenhang die
positive Sicht steht: gemeint ist eine bestimmte, gesellschaftlich
erwünschte Haltung.
Anpassung setzt etwas voraus, an das sich angepasst werden kann. Was das
ist, wird wiederum aus dem Beispiel des Stahlarbeiters deutlich. Der soll
z.B. das Angebot der Kirche zur Schmerzlinderung wahrnehmen; er soll sich
ideelle Genugtuung schaffen, indem das "Fehl-Managemant" für die Kündigung
verantwortlich macht. Vor allem aber soll er seine miese Situation als
Ausgangspunkt für neue Bemühungen nehmen, in den "herausfordernden"
Verhältnissen wieder zurechtzukommen. Er soll es als eine Gelegenheit sehen,
wie er oder seine Frau an einen Job kommen könnten; er soll es als eine
Gelegenheit sehen, dass seine Kinder mitanpacken könnten und er soll es als
eine Gelegenheit sehen, sich für den Arbeitsmarkt fitzumachen. Die
selbstbetrügerische geistige Stellung, die Antonovsky vorschwebt, soll Leute
jeweils zum Sisyphos machen. Das ist das Ideal, was in der Salutogenese
steckt:
"Meine Ansicht ist natürlich nicht, daß Arbeitslosigkeit eine glückliche
Erfahrung ist; ganz im Gegenteil. Aber bei der Person mit einem starken SOC
mag sie weniger schädlich sein und sich sogar als günstig erweisen." (S.
136)
Was für eine Verarsche: Im Wissen, dass Arbeitslosigkeit keine glückliche
Erfahrung ist, sei es mit der Sicht, dass es eine glückliche Sache wäre,
doch vielleicht nicht ganz so schlimm. Die Propagierung einer falschen Sicht
auf diese Verhältnisse ist kein Gefallen für die, die drin stecken. Denn der
Erfolg liegt eben nicht in der Hand der Leute, sondern bei den Konjunkturen
der Märkte und damit verbunden für die Arbeitnehmer bei den Kalkulationen
der Arbeitgeber. Es gibt eine Notwendigkeit im Scheitern von Lohnabhängigen
im Kapitalismus: Ihre Arbeit ist Kostenfaktor, der vom Kapital anhand des
Maßstabs Rentabilität lohnmäßig minimiert und leistungsmäßig maximiert wird.
(3)
"Eine Einstellung gegenüber der Welt, in der Stimuli als bedeutsam,
verstehbar und handhabbar gesehen werden, liefert die motivationale und
kognitive Basis für Verhalten, mit dem von Stressoren gestellte Probleme
wahrscheinlicher gelöst werden können als eine, die die Welt als
beschwerlich, chaotisch und überwältigend ansieht." (S. 137)
Der Fokus ist hier nicht mehr die Verbesserung von individueller Gesundheit.
Antonovsky schreibt nur noch von einer Basis, auf der Probleme
wahrscheinlicher gelöst werden können. Er geht davon aus, dass sie jeweils
schwerlich, also im Ganzen gar nicht zu lösen sind. Entsprechend sieht dann
auch die Anpassungsleistung aus, um die es geht: man soll mit den widrigen
Lebensbedingungen einverstanden sein und erst dann mit eigener, möglichst
maximaler Anstrengung in Angriff genommen werden.
Antonovsky macht seine falsche Sicht der Herausforderungen zum Programm. Für
den Stahlarbeiter schließt er folgendermaßen:
"Unseren arbeitslosen Stahlarbeiter zum Beispiel kann der Copingprozeß in
die Leitung der Gewerkschaft katapultieren, seine Frau kann eine bezahlte
Arbeit annehmen, seine Kinder können ihn mehr zu sehen bekommen, oder er mag
von seinem Onkel, mit dem er bisher in entfernter Beziehung stand, einen
unattraktiven zeitlich befristeten Job angeboten bekommen. So ist das
wirkliche Leben. Aber wenn ich diese Zusammenhänge herstelle, verstärke ich
damit nur meine ursprüngliche Position, daß Stressoren allgegenwärtig in der
menschlichen Existenz sind, daß wir permanent zum Coping aufgefordert
werden." (S. 137)
Hier wird nochmal deutlich, dass Antonovsky sich über seine Ignoranz der
Verhältnisse im klaren ist. Den geschilderten Widrigkeiten will er nur
entnehmen, dass "Stressoren allgegenwärtig sind", dass also seine
Ausgangsthese bestätigt wird. Sein Programm ist gegen die Ablehnung der
Verhältnisse gerichtet, die in Anbetracht der von ihm geschilderten
typischen Lebenssituationen nahe liegt.
Es ist bedauerlich, wenn Leute sich geistig zustimmend in Verhältnissen
einrichten, in denen sie als Material für fremde Zwecke der Geldverwertung
verwendet werden. Widerlich ist, dass Antonovsky das zum
"wissenschaftlichen" Programm macht und sich das als Gefallen an den Leuten
anrechnet. Und dieser Scheiß ist Programm an den Hochschulen.
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(1) "Gesünder" werden impliziert eine veränderte Vorstellung vom
Zusammenhang von Krankheit und Gesundheit: Statt einem Entweder-Oder geht
die Salutogenese von einem Kontinuum mit den Polen Krankheit und Gesundheit
aus.
(2) Hier soll nicht gesagt sein, dass die Konkurrenz um Arbeitsplätze
alleiniger Grund für diese Erpressung ist. Sowas findet in einer
sexistischen Gesellschaft statt. Größtenteils gehen Übergriffe nicht nur in
der Arbeitswelt von Männern aus und richten sich gegen Frauen.
(3) Siehe dazu das Buch Die Misere hat System: Kapitalismus, insbesondere
Kapitel 4 zu Lohnarbeit. Gibts gratis als E-Book unter
https://gegen-kapital-und-nation.org/sites/default/files/print_pdf/misere1.2-web.pdf
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