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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 25. November 2015; 17:50
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VERWORTET:

> "Lumpenproletarier"

"Es ist nicht die große Menge der Ingenieure, sondern es ist eher das
Lumpenproletariat, das hier nach Österreich kommt." Also sprach Dagmar
Belakowitsch-Jenewein, FPÖ-Nationalrätin, in Bezug auf die Flüchtlinge in
der ZiB24. Ihre grüne Kollegin Alev Korun konterte: "Den Begriff finde ich
Ihrer unwürdig, sie sind Abgeordnete des Parlaments. Ich würde Sie bitten,
alle Menschen mit Respekt zu behandeln." Belakowitsch darauf: "Das ist ein
ganz normaler Fachbegriff. Übrigens geprägt von Karl Marx, der Ihnen
wahrscheinlich näher steht als mir."

Ganz unrecht hat die Efflerin damit nicht. Der Bezug auf die Flüchtlinge,
speziell die syrischen, dürfte zwar inhaltlich eher falsch sein -- das mit
dem Fachbegriff aber nicht.

Also ich hätte nicht gedacht, daß dieser alte Begriff einmal in dieser
Kolumne auftauchen wird, weil halt mittlerweile völlig ungebräuchlich
erscheinend. Doch wenn man ein wenig googled, findet man schon ein
vermehrtes Auftreten des Wortes in letzter Zeit -- in recht
unterschiedlicher Verwendung. Daß die FPÖ auf diesen Begriff kommt, kann
vielleicht auch damit zusammenhängen, daß er von linker Seite hie und da auf
rechtsnationale Wutbürger angewendet wird, viele davon FPÖ-Wähler. Es kann
aber auch aus der Ecke der Akademiker-Burschen kommen, die gerne von überall
Begriffe übernehmen, die ihnen taugen -- und es wahrscheinlich auch noch
lustig finden, daß Marx diesen Begriff geprägt hat.

Üblicherweise bin ich ja der Meinung, daß man sich von der Rechten keine
Begriffe kapern lassen dürfe, aber im Fall des "Lumpenproletariats" muß man
sagen: Den könnt ihr ruhig haben! Denn hier gibt es keine Umdeutung, der
Begriff war von Anfang Ausdruck eines arrogant-autoritären Denkens.

In seiner Geiselung des Lumpenproletariats als bonapartistische Fußtruppen
faßte Marx 1951 diese Bevölkerungsgruppe wie folgt auf: "Neben zerrütteten
Roués [etwa: "Wüstlinge", "ausschweifende Lebemänner"] mit zweideutigen
Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, neben verkommenen und
abenteuernden Ablegern der Bourgeoisie Vagabunden, entlassene Soldaten,
entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler,
Lazzaroni [obdachlose Tagelöhner], Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler,
Maquereaus [Zuhälter], Bordellhalter, Lastträger, Literaten
["Schreiberlinge"], Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer,
Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und
hergeworfene Masse, die die Franzosen la bohème nennen".

Offensichtlich meinte also Marx tatsächlich nicht, dies wären einfach
Proletarier in Lumpen (denn mehr als Lumpen hatten auch andere Proletarier
damals oft nicht als Bekleidung) sondern sie wären selbst Lumpen. Marxens
Einschätzung als Klasse von miesem Charakter rührt zum einen aus zutiefst
bürgerlichen Vorurteilen, da viele dieser Underdogs zu Tätigkeiten gezwungen
waren, die der Staat als illegal oder das Großbürgertum als unmoralisch
ansah, zum anderen aus der Frustration darüber, daß es da eine Klasse gab,
die zwar pauperisiert, aber aufgrund ihrer Heterogenität nicht organisierbar
war. Und das Übelste daran: Viele aus dieser Klasse waren auch noch stolz
darauf, sich ein wenig Selbständigkeit unter den Bedingungen des klassischen
Spätkapitalismus erhalten zu haben und nicht völlig in der von Marx selbst
so gegeiselten Maschinerie der entfremdeten Arbeit aufzugehen. Wie soll man
jemanden vom Joch der Sklaverei befreien, der dieses Joch nur so schlampig
trägt und sich zwar ausbeuten läßt, aber eben nicht standesgemäß?
Proletarier aller Länder vereinigt Euch -- jo eh, aber diese Individuen
stören dabei ziemlich. Somit gehört dieser Begriff zu jenen, die erst den
autoritären Marxismus möglich gemacht haben: Die Arbeit hoch, aber nur die
der Fabrikarbeiter, die zu einer ordentliche Masse zusammenschließbar sind,
um als revolutionäres Subjekt zu dienen.

Wenn auch nicht deckungsgleich mit Marx' Liste so ist die Gruppe des
"Lumpenproletariats" vergleichbar mit jener ähnlich schwer abgrenzbaren
Klasse oder auch Schicht, die man heute mit "Prekariat" tituliert. Dann ist
es aber vielleicht auch besser verständlich, warum sich die Gewerkschaften
bis heute damit schwertun, sich um diese Gruppe arbeitender (oder eben auch
häufig arbeitsloser) Menschen zu bemühen. Die Verwendung des Begriffs durch
die FPÖ könnte dabei hilfreich sein, einmal über dieses Thema nachzudenken.
*Bernhard Redl*

*
(1) [Zitiert nach: MEW, Band 8, "Der achtzehnte Brumaire des Louis
Bonaparte", S. 160-161, Dietz Verlag, Berlin/DDR, 1960;
http://www.mlwerke.de/me/me08/me08_159.htm; redaktionelle Erläuterungen in
eckigen Klammern]
*

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