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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 11. November 2015; 08:27
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EU/Kapitalismus:

> Die Weisen aus dem Euroland

Die "Wettbewerbsräte" der EU sind nur ein Instrument zur
institutionalisierten Lohndrückerei, meint *Markus Koza* auf dem
"Alternative"-Blog:
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Am 21. Oktober legte die EU-Kommission ein Maßnahmenpaket zur Vertiefung der
Währungsunion vor. Damit tritt der "5-Präsidenten-Bericht", der bereits im
Sommer 2015 vorgestellt wurde, in die Umsetzungsphase. Das Maßnahmenpaket
beinhaltet u.a. die Forderung nach Einrichtung nationaler
"Wettbewerbs(fähigkeits)räte". Mit ihnen droht eine neue Qualität der
Einmischung der EU-Institutionen in die Lohnpolitik. Zu Lasten der
Arbeitnehmer_innen. Und mit dem Ziel der weitgehenden Entmachtung der
Gewerkschaften.

Dass Löhne, Gehälter, Kollektivverträge und überbetriebliche
Lohnfindungssysteme unter besonderem Druck seitens europäischer
Institutionen stehen, ist bekannt. Eine EU-Krisenpolitik, die sich der
Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit verschrieben hat, sieht Löhne und Gehälter
primär als Kosten, die es zu reduzieren gilt, um "billiger" zu werden und so
mehr Wettbewerbsfähigkeit zu erlangen. Dass Löhne und Gehälter gleichzeitig
Einkommen darstellen, die für den Konsum und damit für die
gesamtgesellschaftliche Nachfrage verwendet werden, bleibt bei einer
derartig einseitigen, wettbewerbszentrierten Sichtweise ausgeblendet.
Während in besonders stark von der Krise betroffenen Staaten wie
Griechenland, Portugal, Spanien aber auch Rumänien oder Italien
entsprechende "Arbeitsmarktreformen" erzwungen wurden - bis hin zur
Zerschlagung der Kollektivvertragssysteme - blieb es bei den meisten
EU-Staaten lediglich bei Empfehlungen. Das soll ganz offensichtlich nicht
länger so bleiben. Und mit den geplanten "Wettbewerbsräten" scheint die
Kommission ein entsprechendes Instrument zur Durchsetzung neoliberaler
Strukturreformen gefunden zu haben.


Lohnpolitik im Fokus der EU-Institutionen

Lohnpolitik fällt ursprünglich nicht in den Kompetenzbereich der EU. Ganz im
Gegenteil), in der Lohnpolitik war die "Tarifautonomie" - also die
Nichteinmischung staatlicher bzw. europäischer Institutionen - in
Lohnverhandlungen und Lohnfindungssysteme (Kollektivverträge) weitgehend
anerkannt bzw. sogar vertraglich oder verfassungsrechtlich abgesichert. Das
hat allerdings weder die EU-Kommission, noch die EZB oder den EU-Rat jemals
davon abgehalten, sich immer wieder in Sachen Lohnpolitik zu Wort zu
melden - etwa wenn eine moderate oder eine stärker differenzierte
Lohnentwicklung eingefordert wurde. Der Einfluss derartiger Empfehlungen auf
die tarif- bzw. kollektivvertragliche Praxis blieb allerdings bescheiden.
Diese Situation hat sich allerdings mit der Einführung eines neuen Systems
der europäischen "Economic Governance" grundlegend geändert. Die "Economic
Governance" umfasst ein umfangreiches Vertrags-und Regelwerk inklusive
entsprechender Sanktionsmechanismen das auf eine engere und verbindlichere
Koordinierung der Wirtschaftspolitik in Europa und der EU-Mitgliedsstaaten
abzielt.

Der Lohnpolitik kommt dabei eine herausragende Rolle zu -wenn es um die
"Wettbewerbsfähigkeit" geht: Als eine Ursache der Krise wurden - durchaus
richtig - makroökonomische Ungleichgewichte fest gemacht. Makroökonomische
Ungleichgewichte finden ihren Ausdruck insbesondere in
Leistungsbilanzüberschüssen und Leistungsbilanzdefiziten.
Leistungsbilanzüberschüsse ergeben sich aus einer positiven Differenz
zwischen Exporten und Importen. Exportstarke Länder - wie etwa Deutschland -
erwirtschaften Leistungsbilanzüberschüsse. Exportschwache Länder - wie etwa
Griechenland - erwirtschaften dagegen Leistungsbilanzdefizite. Sie
importieren mehr als sie exportieren. Staaten, die Leistungsbilanzdefizite
aufweisen gelten dem entsprechend als nicht ausreichend "wettbewerbsfähig".
Die Folge ist steigende private oder öffentliche Verschuldung in Ländern mit
Leistungsbilanzdefiziten. Gläubiger sind dabei ausgerechnet jene Länder, die
hohe Leistungsbilanzüberschüsse aufweisen. So weit die Problemlage. Die
"Problemlösung" auf europäischer Ebene fällt allerdings ausgesprochen
einseitig und - wie nicht anders zu erwarten - mit eindeutig neoliberaler
Schlagseite aus: Als wesentliche Ursache für diese mangelnde
Wettbewerbsfähigkeit werden nämlich zu hohe bzw. zu "starre" Löhne in den
Ländern mit Leistungsbilanzdefiziten angesehen. Wie können nun diese wieder
"Wettbewerbsfähigkeit" gewinnen? Durch "innere" Abwertung, also durch
Lohnzurückhaltung bzw. Lohnsenkungen. Der Weg der "Währungsabwertung" zur
(Wieder-)Erlangung von Konkurrenzfähigkeit bleibt ja in einem gemeinsamen
Währungsgebiet wie es der Euro-Raum ist, verschlossen! Entsprechend auch die
Vorschläge: Mindestlöhne reduzieren, KV-Verhandlungen auf die betriebliche
Ebene verlagern, Arbeitsrechte deregulieren und Arbeitsmärkte
flexibilisieren (z.B. über die Aufweichung des Kündigungsschutzes, Kürzung
von Arbeitslosengeldern etc.).

Weitgehend ausgeblendet bleibt dabei die andere Seite der Medaille: nämlich
dass es v.a. auch Maßnahmen in Ländern mit Leistungsbilanzüberschüssen
braucht, um Staaten mit entsprechenden Defiziten einen Aufholprozess
überhaupt erst zu ermöglichen, der zum Abbau makroökonomischer
Ungleichgewichte führen soll! Entsprechende Maßnahmen wären etwa die
deutliche Anhebung von Mindestlöhnen, die Erhöhung der Binnennachfrage -
etwa durch eine expansive, öffentliche Ausgabenpolitik, deutliche
Lohnerhöhungen oder Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. Dadurch
würden Leistungsbilanzüberschüsse abgebaut, weil auf Grund der steigenden
Nachfrage mehr importiert würde und Defizitländer so bessere Exportchancen
hätten. Eine Fokussierung nur auf die Hebung der Exportfähigkeit über
Lohnsenkungen in Krisenländern hätte insgesamt lediglich einen Lohnwettlauf
aller Staaten nach unten zur Folge, um gegenüber Konkurrenzländern bloß
nicht an Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. Wer denn dann die Länder seien,
welche noch die entsprechenden Exporte nachfragen sollen - diese Antwort
bleiben die Wettbewerbsfähigkeitsfetischist_innen allerdings weitgehend
schuldig. Wäre allerdings interessant, insbesondere für einen
Wirtschaftsraum wie die EU, wo über 90 % der produzierten Waren und
Dienstleistungen auch innerhalb der EU nachgefragt werden!


Euro-Plus-Pakt und GD ECFIN

Konsequenzen für Überschussländer sind also kein Thema. Vielmehr das
Gegenteil ist der Fall: im 2011 beschlossenen Euro-Plus-Pakt - einer
"Willenserklärung" der EU-Regierungschefs zur allgemeinen Hebung der
Wettbewerbsfähigkeit in Europa, wird explizit eine Überwachung der
Lohnentwicklung, eine zurückhaltenden Lohnpolitik und eine
"Dezentralisierung" der Lohnverhandlungen eingefordert. Die Generaldirektion
Wirtschaft und Finanzen (GD ECFIN) der EU-Kommission wird in ihrem Bericht
"Labour Markets Developments in Europe 2012" noch konkreter, in welche
Richtung die Lohnpolitik in Europa künftig steuern soll. Der
Forderungskatalog "beschäftigungsfreundlicher Reformen" liest sich dabei wie
eine Kampfansage an die Gewerkschaften und die Tarifautonomie:

- Senkung des gesetzlichen und tarifvertraglich festgelegten Mindestlohns

- Reduzierung der Tarifbindung

- Reduzierung der (automatischen) Allgemeinverbindlichkeitserklärung von
Tarifverträgen

- Dezentralisierung der Tarifvertragssysteme z.B. durch die Abschaffung oder
Einschränkung des Günstigkeitsprinzips

- Einführung bzw. Ausweitung der Möglichkeit auf betrieblicher Ebene von
Flächentarifverträgen abzuweichen

- Förderung von Maßnahmen "die zu einer generellen Reduzierung der
Lohnfestsetzungsmacht von Gewerkschaften führen."


Keine "Papiertiger": Angriffe finden längst statt

Dass es sich dabei keinesfalls um "Papiertiger" handelt, davon zeugt die
rege Einmischung in lohnpolitische Angelegenheiten, die seitens europäischer
Institutionen entlang dieser Forderungen und Vorgaben stattfindet - unter
gröbster Missachtung des Prinzips der "Tarifautonomie". Und unter
Ausblendung der Zuständigkeiten. Interventionen finden dabei insbesondere
auf zwei Ebenen statt: einerseits über länderspezifische Empfehlungen im
Rahmen des europäischen Semesters. Andererseits über den Tausch politischer
Reformen gegen finanzielle Unterstützung:

Hinsichtlich länderspezifischer Empfehlungen wurden gegenüber 18 von 27
EU-Mitgliedsstaaten in den den letzten Jahren lohnpolitische Forderungen
ausgesprochen. Diese reichen von einer moderaten Lohnentwicklung (Finnland,
Bulgarien, Italien, Slowenien) über eine Ausweitung des Niedriglohnsektors
(Schweden) bis hin zu einer Reform - sprich Dezentralisierung bzw.
Verbetrieblichung - der Kollektivverhandlungssysteme (Belgien, Italien,
Spanien). Gegenüber Belgien, Luxemburg und Malta wurde die automatische
Lohnindexierung (also die Anpassung entlang der Inflationsrate) kritisiert,
Frankreich und Slowenien aufgefordert, bei der Erhöhung der Mindestlöhne
Zurückhaltung zu üben.

Die zweite Ebene ist jene des "Abtauschs" politischer Reformen gegen
"finanzielle Unterstützung". Interventionen wurde hierbei insbesondere von
der Troika - bestehend aus EU-Kommission, der EZB und dem IWF - getätigt.
Krisenstaaten, die gezwungen waren, Finanzhilfen aus dem "Rettungsschirm" in
Anspruch zu nehmen, müssen sich zu "Strukturreformen" verpflichten. Neben
massiven Einsparungsmaßnahmen im Bereich öffentlicher Dienste wurden seitens
der Geldgeber insbesondere auch Maßnahmen im Bereich der Lohnpolitik
eingefordert. Und durchgesetzt. In Griechenland, Rumänien, Portugal und
Spanien wurden die bisherigen Flächen-Tarifvertragssysteme regelrecht
zertrümmert, die betriebliche und individuelle Ebene dagegen gestärkt und -
in Griechenland etwa - sogar konkurrierende Verhandlungsstrukturen auf
Arbeitnehmer_innenseite geschaffen. Mindestlöhne wurden eingefroren oder
gekürzt, die Einkommen öffentliche Bediensteter im Rahmen der
Austeritätspolitik massiv reduziert. In Italien knüpfte etwa die EZB den
Ankauf italienischer Staatsanleihen an Strukturreformen wie die
Dezentralisierung von Lohnverhandlungen. Das Prinzip der "Tarifautonomie"
wurden schlichtweg ignoriert und ausgehebelt.


Wettbewerbsräte für neoliberale Reformagenda .

Was ist also die Aufgabe nationaler"Wettbewerbs(fähigkeits)räte"? Sie
sollen:

- Die Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit im entsprechenden Mitgliedsstaat
überprüfen

- Die Preisentwicklung bei Gütern und Dienstleistungen sowie die
Kostenentwicklung - inklusive der Lohnkostenentwicklung - beobachten und mit
"konkurrierenden" Ländern vergleichen

- den Kollektivvertragsparteien die gewonnenen "relevanten Informationen"
zur Verfügung stellen

- "politische Empfehlungen" zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit erteilen

Die "Wettbewerbsräte" sollen dabei gegenüber Regierung und Behörden
"strukturell unabhängig" und weisungsfrei agieren können und innerhalb der
nächsten 6 Monate eingerichtet werden - vorerst nur als "nicht bindende
Empfehlung". Allerdings behält sich die Kommission eine andere Vorgangsweise
vor.

Es wird auch keinerlei Geheimnis darum gemacht, worum es der Kommission mit
der Einrichtung der Wettbewerbsräte vornehmlich geht: nämlich darum, den
Druck zu Strukturreformen, wie sie von der Kommission seit Jahr und Tag den
Mitgliedsstaaten verordnet werden, zu erhöhen. Dazu soll die "unabhängige
Expertise" der neuen Räte dienen. Und die soll dabei ausdrücklich die
"Lohnentwicklung" und deren Auswirkung auf die Wettbewerbsfähigkeit im Fokus
haben. Kein Wunder, dass die Ankündigung, "Wettbewerbsräte" einrichten zu
wollen auf den Widerstand der Gewerkschaften stößt.


. und ein klares NEIN von Seiten der Gewerkschaften dazu

Der Beteuerung, dass das Recht der Sozialpartner auf KV-Verhandlungen und
Arbeitskampfmaßnahmen unberührt bleiben soll, wird dabei ganz offensichtlich
nicht (mehr) geglaubt. Aus gutem Grund, wie die Vergangenheit, aber auch die
laufenden Interventionen in die Lohnpolitik belegen. In einer Stellungnahme
des ÖGB-Büros in Brüssel heißt es dazu:

"Bereits seit Jahren versucht die Kommission in ihren Empfehlungen die
automatische Lohnindexierung in Ländern wie Belgien abzuschaffen oder die
Heraufsetzung des gesetzlichen Pensionsalters (z.B. in Österreich) zu
erzwingen. Generell gibt es seit Jahren einen Trend in der EU-Kommission,
die Lohnverhandlungen zu 'dezentralisieren', also Flächen-Kollektivverträge
zu Gunsten von Firmen-KV's einzuschränken."

Die Vollversammlung der AK Wien hat nicht nur einen AUGE/UG-Antrag -
basierend auf der Kritik des ÖGB-Büros in Brüssel - angenommen, in dem sich
diese klar gegen Wettbewerbsräte ausspricht, sondern hat bereits in ihrer
Stellungnahme zum 5-Präsidenten-Papier ihre "strikte" Ablehnung gegenüber
nationalen Einrichtungen "zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit" erklärt, da
"sie die grundrechtlich garantierte Tarifautonomie der Sozialpartner
aushebeln" würde.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund spricht von einem "Angriff auf die
Tarifautonomie". Der EGB spricht davon, dass der Vorschlag zur Einrichtung
von Wettbewerbsräten "nicht vereinbar mit den EU-Verträgen und
ILO-Konventionen" sei.
(gekürzt)


Quelle:
http://diealternative.org/verteilungsgerechtigkeit/2015/10/wettbewerbsraete-institutionalisierte-lohndrueckerei



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