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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 3. Juni 2015; 16:52
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Wahlen/Debatte:

> Zur Kritik am Nichtwählen

Was mich in Wahlzeiten neben der rassistischen Propaganda der FPÖ am meisten
aufregt, ist dieses moralisierende NichtwählerInnen-Bashing kurz vor der
Wahl. Bei den meisten Parteien geschieht der größte Stimmenaustausch
zwischen NichtwählerInnen und ihnen und nicht unter den Parteien. Überhaupt
gibt es genau zwei relevante Formen des Stimmenaustausches derzeit. 1. Von
der Sozialdemokratie zu rechtsextremen Parteien und 2. eben zwischen
Parteien und NichtwählerInnen. Kampagnen sind heute mehr als früher
Mobilisierungswahlen, die Menschen dazu zu bewegen, überhaupt wählen zu
gehen.

Ich heiße Nichtwählen nicht gut, ich verurteile dafür aber niemanden.
Phrasendrescherei wie Demokratie wäre blutig erkämpft worden und sei daher
ein wichtiges Bürgerrecht, sind blutleeres Geschwafel. Ja, richtig, aber was
macht ihr damit, müsste die Frage umgekehrt lauten. Wer hat denn Demokratie
für alle StaatsbürgerInnen unabhängig von Stand, Einkommen und Geschlecht
erkämpft? Die Linke und die Arbeiterbewegung! Wer kann es denn jenen
sozialen Gruppen, deren Interessen durch eine Politik, deren Priorität
Sozialkürzungen sind, nicht berücksichtigt werden, verübeln, wenn sie kein
Bedürfnis danach haben, jenen eine Stimme zu geben, die sie in diese
Position getrieben haben.

Was hilft es jenen, wenn der Korruptionsskandal X aufgeklärt wurde, wo sie
doch schon vorher gewusst haben, daß PolitikerInnen korrupt sind, nämlich
nicht im rechtlichen Sinne, aber im Sinne von Privilegienrittern.
Korruptionsaufklärung macht noch kein gutes Leben, wenn sie nicht als Teil
einer sozialpolitischen Auseinandersetzung geführt wird und das wird sie
nicht. Was hilft es Menschen, wenn bloße Phrasen wie "Reform" oder "Impuls"
plakatiert werden, wenn Reform heute ein Drohung dafür ist, dass es ihnen
bald noch schlechter gehen wird.

Die parlamentarische Demokratie ist in der Krise und darüber freuen sich
insgeheim besonders die Rechten. Sie profitieren am meisten durch den
Zerfall einer sozialen Demokratie. Der Zerfall der Sozialdemokratie wirft in
Kombination mit Krise, tief verwurzelten Ressentiments, reaktionären
Erklärungen der Welt und Autoritarismus überhaupt erst die Möglichkeit nach
rechts auf.

Kreuzerlmachen ist keine Teilhabe

Der Kampf für Demokratie war vielen Linken verschiedenster Strömungen kein
Anliegen, um sich auf dieser auszuruhen, sondern Menschen im Sinne einer
sozialen Demokratie überhaupt erst Teilhabe und Teilnahme an politischen
Prozessen zu ermöglichen um das Kommando über Gemeingüter, über Produktion,
gesellschaftliche Institutionen übernehmen zu können. Das heißt: eine
Erweiterung der liberalen Demokratie.

Von den meisten, die gegen das Nichtwählen moralisieren, hört man auch nie
etwas zu MigrantInnenwahlrecht, dabei ist das der große Skandal in der
heutigen Demokratie. Die meisten MigrantInnen sind in dieser Gesellschaft
jene, die zu den sozial Schwächsten gehören und von demokratischen Prozessen
fast gänzlich ausgeschlossen werden. In vielen Städten würden sie mehr als
20% der Stimmen ausmachen. Oft liest man in Medienkommentaren Beschwerden
über ihr Interesse an der Politik ihres Heimatlandes, verhindert aber
demokratische Teilhabe in Österreich.

Erdbeer oder Stracciatella?

Nichtwählen ist keine Option, doch das Kreuz auf dem Wahlzettel, dass eine
Partei in ein Parlament oder in die Landesregierung befördert, die
eigentlich nicht einmal alle 5 Jahre in der Lage ist, zu kommunizieren,
wofür sie stünde, dann soll einmal jemand erklären, wie ein Mensch, der sich
unregelmäßig bis gar nicht viel mit Politik beschäftigen kann oder möchte,
zur Wahl gehen wird. Traurig, aber besser, ist es immer noch etwas zu
versprechen, was man vielleicht nicht halten kann, als gar nicht mehr den
Versuch zu machen, für etwas zu stehen. Wenn Kampagnen dazu verkommen, dass
die Wahl nur mehr eine Frage des Geschmacks ist, ob man Erdbeer,
Stracciatella, oder Bio-Fruchjoghurt lieber hat, dann ist halt der braune
Pudding für manche leider noch attraktiver. Es ist ein falsches Anderes, es
ist freilich Pseudorebellion, ohne die Konsequenz, dass es für einen besser
wird. Auch das Nichtwählen macht die Dinge nicht besser. Aber wenn die
erhabenen Bildungsbürger mit dem strafenden Blick und erhobenen Zeigefinger
den vermeintlichen "Dummen" zeigen, dass sie den Wert von Demokratie nicht
verstanden hätten -- deren Wert für sie schon lange verloren gegangen ist,
weil für sie die Wahl schon entschieden scheint --, dann läuft etwas
verdammt falsch.

Für Demokratie zu kämpfen, hieße vor allem Menschen an politischen Prozessen
zu beteiligen, sie zu organisieren und Teil von einem Anliegen zu machen und
ihnen die Möglichkeit zu geben, für ihre Interessen einzustehen, ihnen dabei
aber nicht nach dem Mund zu reden. Dann ist das Kreuzerl eher ein Endpunkt
von Demokratie und nicht der Auftrag der BürgerInnen, sich 5 Jahre wieder um
etwas zu kümmern, was schon lange nicht mehr im Interesse der Mehrheit ist.
*Cengiz Kulac*

*
Dieser hier leicht gekürzt wiedergegebene Text erschien erstmals auf dem
Blog cengizkulac.com am Tag vor den jetzigen beiden Landtagswahlen. Cengiz
Kulac ist ehemaliger Bundessprecher der Jungen Grünen und Vorsitzender der
ÖH Uni Graz.



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