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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 13. Mai 2015; 17:23
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Kommentierte Presseschau

> Deutschlands Scargill

Was sich derzeit publizistisch in Deutschland abspielt, erinnert den
Zeitungsleser an den Bergarbeiterstreik der 80er in Thatchers Britannien.
Was damals auch hierzulande alles über Arthur Scargill, den Chef der
Bergarbeitergewerkschaft, berichtet worden war, mußte dem unvoreingenommenen
Medienkonsumenten anmuten, als wäre er ein Verrückter und Thatcher eine um
Ausgleich bemühte Politikerin. Ein Teil der britischen Presse war derart
aggressiv, daß sie etwa seinen Vornamen in "Adolf" änderte oder ihn als
"Yorkshire-Ripper" bezeichnete.

"Sogar Verbündete können seine verbissene Streikwut kaum mehr
nachvollziehen." Wie sich die Berichterstattung ähnelt - solche
Einschätzungen konnte man damals in der Berichterstattung auch über Scargill
lesen, doch der zitierte Satz stand im November letzten Jahres in der
deutschen "Morgenpost" und war auf Claus Weselsky, den Chef der Gewerkschaft
der Lokführer (GDL), gemünzt. Titel des Artikels: "Ex-Frau über
Bahnstreik-Chef: 'Er ist ein Diktator!'" Im Text: "Jetzt packt eine Frau
aus, die ihn bestens kennt, 15 Jahre lang Haus und Bett mit ihm teilte. Was
sie zusagen hat, wirft kein gutes Licht auf den Gewerkschaftsboss." Ähnlich
persönlich geht es im April dieses Jahres der "Focus" an: "So lebt der
GDL-Chef - Weselskys Altbau-Fassade: So versteckt lebt Deutschlands oberster
Streikführer". Im Text kommt dann allerdings nicht ein Penthouse vor,
sondern lediglich: "Hinter der Tür öffnet sich ein Innenhof mit einem
kleinen, rotverklinkerten Häuschen. Der geheime Rückzugsort des GDL-Chefs.
Er lebt abgeschieden." Aber die Schlagzeile sitzt. Andere Headlines des
Focus gefällig? Wie wäre es mit "Streikführer Weselsky, Sie gehören ins
Museum!" (Kommentar Oktober 2014) oder "GDL auf Crashkurs - Seit 1992 sitzt
Weselsky im warmen Büro" (ebenfalls im Oktober). Und die BILD-Zeitung, deren
GDL-Bashing schon legendär ist, brachte dieser Tage den rücksichtlosen
Autofahrer: "Weselsky drängelte auf der Autobahn mit Lichthupe".

Die Auseinandersetzung mit dem jetzigen erneuten Bahnstreik läuft großteils
ad personam. Eine Fernsehjournalistin begann neulich ein Interview mit der
Einstiegsbemerkung "Herr Weselsky, Sie sind heute wohl der meistgehasste
Mann Deutschlands". Wenn es nach Google geht, stimmt das sogar: Befragt man
die Suchmaschine nach "der meistgehasste Mann Deutschlands" findet man unter
den ersten Treffern fast ausschließlich Artikel über den GDL-Chef.

Wenige Stimmen der deutschen Medienlandschaft halten da dagegen. Jakob
Augstein schreibt im Spiegel: "So einfach kann man sich das machen: Der
Kampf der Lokführer wird zur Personalie degradiert, zur Eitelkeit eines
Einzelnen. Dabei geht es hier um nichts weniger als das Recht auf Streik.
Das sollte uns ein paar Unbequemlichkeiten wert sein. Unsere
Gleichgültigkeit ist sonst unser eigener Schaden."

Und in der taz-Kolumne "Verboten" heißt es: "An alle, die sich in den immer
gleichen TV-Straßenumfragen, asozialen Medien und Leserbriefen über die
momentanen Streiks aufregen, weil die Anliegen zwar berechtigt seien, aber
Streiks im Alltag stören ...: Checkt ihr es wirklich nicht oder wollt ihr es
nicht verstehen? Ein Streik, der keinen stört, hat keinen Sinn."

Nicht nur die Attacken auf die Person der Streikführer verbindet den
britischen Bergarbeiterstreik mit dem deutschen GDL-Streik: Hintergründig
waren es damals und sind es heute auch im engeren Sinne politische Kämpfe.
In Britannien ging es offiziell um Arbeitsplätze, tatsächlich aber vor allem
gegen Privatisierungen und Beschneidungen der Gewerkschaftsrechte. In
Deutschland sind es Forderungen nach höheren Löhnen, doch dahinter steckt
der Kampf um die Tarifautonomie für kleinere Gewerkschaften, die von der
deutschen Regierungskoalition nun per Gesetz eingeschränkt werden soll.

Und eine letzte Parallele: Hüben wie drüben war und ist die Solidarität der
Sozialdemokratie und deren braveren Gewerkschaftern - höflich oder
eigentlich verharmlosend gesagt - endenwollend. Wie schreibt Augstein über
die aktuelle Situation in Deutschland: "Die Sozialdemokraten haben gegen die
wachsende Ungleichheit nichts unternommen. Und die Gewerkschaften auch
nicht. Im Gegenteil: Viel zu viele Sozialdemokraten und Gewerkschafter haben
sich in der Vergangenheit auf die Seite der Lohndrücker geschlagen."

Auch das hätte man über Thatchers Britannien damals genauso schreiben
können. Die Folgen dort waren eine Entmachtung der Gewerkschaften und "New
Labour".


> Autoritärer Vorreiter Frankreich

Der Zeitungsleser haßt es, Christian Ortner - dessen Blog ironisch, aber
nicht ganz zu unrecht im Untertitel als "Zentralorgan des Neoliberalismus"
firmiert - rechtzugeben. Aber, Shit happens, diesmal hat er leider recht. Er
schreibt in der "Wiener Zeitung" über das in Frankreich ab September gültige
Verbot, Rechnungen über 1000 Euro in bar zu begleichen. Das ist ein Trend,
der auch in anderen Ländern Europas schon Gesetz geworden ist, denn
derartige Bargeldverbote ab gewissen Limits gibt es schon jetzt in
Griechenland, Spanien und Italien. Ortner sieht darin eine Beschneidung
bürgerlicher Freiheitsrechte. Diese würden üblicherweise begründet "mit der
Notwendigkeit, Terroristen, Geldwäschern und Steuerhinterziehern so besser
das Handwerk legen zu können. Frankreichs Finanzminister Michel Sapin
verstieg sich gar zur Behauptung, das teilweise Bargeldverbot ab September
sei notwendig geworden, weil die 'Charlie Hebdo'-Attentäter ihre
Mordinstrumente mit Barem erworben hätten." Aber nicht nur Terroristen und
Geldwäscher hätte guten Grund, einem Bargeldverbot eher skeptisch
gegenüberzustehen, so Ortner: "Ohne Bares wird das Leben jedes Bürgers für
die Obrigkeit so genau nachvollziehbar und sichtbar wie die sekundären
Geschlechtsmerkmale einer Frau im Nacktscanner am Flughafen. Da bleibt dann
nichts, aber auch gar nichts mehr dem Auge der Behörden verborgen; sämtliche
Möglichkeiten des Missbrauchs natürlich eingeschlossen.Zusammen mit der
Abschaffung des Bankgeheimnisses ist ein Bargeldverbot quasi die Atombombe
im Krieg des Staates gegen die Privatsphäre seiner Bürger. Umso
erstaunlicher ist, dass der sukzessive Abschied vom Bargeld nirgends in
Europa zu größerer Empörung geführt hat, während gleichzeitig jeder Angriff
auf die 'informationelle Selbstbestimmung' durch staatliche
Schlapphut-Trupps regelmäßig zu moralischem Hyperventilieren führt." Ja,
natürlich muß man sich bei Ortner fragen, wessen Interessen er da vertritt.
Aber digitale Geldflüsse sind nunmal tatsächlich Informationen, die ähnlich
gut zur Überwachung geeignet sind wie die Vorratsdatenspeicherung, vor
allem, wenn die Limits nur der erste Schritt sind. Ortner: "Damit wird in
Europa immer wahrscheinlicher, was der renommierte Harvard-Ökonom Kenneth
Rogoff jüngst gefordert hat: ein gänzliches Verbot von Bargeld. 'Zunächst
wird es zu einer Begrenzung des Bargeld-Haltens und anschließend zur
Abschaffung des Bargeldes kommen', prophezeit auch Robert Halver, Chefökonom
der deutschen Baader-Bank, für Europa." Und das würde dann weniger die
Finanzmafia betreffen, die auf andere werthaltige Papiere zurückgreifen
kann, als den ganz normalen Bürger, wenn er sich bspw. einen Zugfahrschein
kauft.

Was im Übrigen gerade im Post-Charlie-Frankreich auffällt und seither
befürchtet worden war - der Trend zum Überwachungsstaat kommt auf Touren.
Mit überwältigender Mehrheit hat die französische Nationalversammlung gerade
etwas beschlossen, was die üblicherweise ebenso neoliberale Agentur
"Bloomberg" als "Patriot Act a la Francaise" charakterisiert.
Sozialdemokratie und Neogaullisten haben ein Gesetz beschlossen, daß sie als
Modernisierung verkaufen, die im digitalen Zeitalter notwendig geworden sei.
Bloomberg faßt diese "Modernisierung" aber so zusammen: Das Gesetz bestimmt,
"wie Ermittler Telefone abhören, Menschen durch Handies lokalisieren, eMails
ausspionieren, versteckte Fotos machen und Wanzen installieren können ohne
vorherige Genehmigung durch einen Richter".

Und das alles paßt auch zusammen mit Ideen, wie man das Internet unter
Kontrolle bringen könnte - in dem man nämlich die Verschwörungstheoretiker
dämonisiert. Zugegeben, auf Verschwörungstheoretikersites steht meist sehr
viel Blödsinn. Doch bislang ist Blödsinn nicht kriminalisiert worden - zu
Recht, denn man muß davon ausgehen, daß ein mündiger Medienkonsument im
Sinne der Meinungsfreiheit selbst entscheiden können muß, was Blödsinn ist
und was nicht. Dieses Recht ist Teil dessen, was man so landläufig
Demokratie nennt. Und wenn man sich die einschlägigen Sites so ansieht, so
finden sich doch dort zumeist nur wilde Spekulationen und Verknüpfungen,
aber nur selten definitiv falsche Zitate. Und so glaubt der Zeitungsleser
einmal folgendes Zitat, das er auf einer dieser Sites gefunden hat: "[Der
Antisemitismus] unterhält die Verschwörungstheorien, die sich ohne
Begrenzung ausbreiten. Verschwörungstheorien, die in der Vergangenheit schon
zum Schlimmsten geführt haben, "(...) "[Die] Antwort ist, der Sache bewusst
zu werden, dass die komplotistischen Thesen sich über das Internet und
soziale Netzwerke verbreiten. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass die
Vernichtung zuerst durch das Wort vorbereitet wurde. Wir müssen auf
europäischer und sogar internationaler Ebene handeln, damit ein rechtlicher
Rahmen definiert werden kann, und die Internet-Plattformen, welche die
sozialen Netzwerke verwalten, zur Verantwortung gezogen werden, und dass, im
Falle einer Verletzung, Sanktionen verhängt werden". Dies habe, so
voltaire.net, der Präsident der französischen Republik, Francois Hollande,
Ende Jänner 2015 gesagt. Jetzt muß der Zeitungsleser den Kampf gegen den
Antisemitismus unbedingt gutheissen. Nur: Die Nachtigallen trampeln schon
wieder gehörig und es besteht die Befürchtung, daß da schon wieder Kinder
mit dem Bade ausgeschütten werden könnten, deren Zahl Legion ist.

http://www.wienerzeitung.at/meinungen/gastkommentare/750964_Bar-zahlen-das-neue-Rauchen.html
http://www.bloomberg.com/news/articles/2015-05-05/patriot-act-a-la-francaise-set-to-pass-even-as-opposition-mounts
http://www.voltairenet.org/article186994.html


> USA: Der unmögliche Kandidat

Bernie Sanders ist einer der wenigen US-Parlamentarier, der auch jenseits
des großen Teiches bekannt ist. 1991 bis 2007 war er im Kongreß, seither
vertritt er im Senat den Bundesstaat Vermont - und zwar ohne einer Partei
anzugehören. Er schließt sich zwar immer der demokratischen Fraktion an,
aber als echter Linker weiß er, daß er ohne sozialdemokratische
Parteimitgliedschaft besser dran ist. Und wahrscheinlich sind seine über das
Internet weltweit bekannten Geißelungen des Großkapitals bei den meisten
seiner demokratischen Parlamentskollegen sowieso nicht so beliebt. In
Vermont hingegen wird er offensichtlich geliebt - die Wähler des schon
länger mehrheitlich demokratisch gesinnten Bundesstaats bescheren Sanders
regelmäßig Mehrheiten, von denen viele seiner Kollegen nur träumen können
und die ihm die nötige Autorität verschaffen, den Millionären der USA die
Leviten zu lesen. 2013 wurde er mit 71% wiedergewählt.

Jetzt hat er Größeres im Sinn. Bislang gab es ja nur eine demokratische
Vorwahl-Kandidatin für die US-Präsidentschaftswahl. Nun will sich Sanders
auch dafür bewerben. Auf den ersten Blick ein aussichtsloses Unterfangen,
aber der jetzt 73jährige Sturschädel ist ja schon oft unterschätzt worden.
Es sei ja nicht nur so, daß die Mittelklasse in den USA mittlerweile
verschwunden sei, meinte er bei seiner Kandidaturpressekonferenz. Sondern:
"Es geht darum, daß 99% aller neuen Erträge an die obersten 1% gehen und der
groteske Level an Vermögens- und Einkommensungleichheit heute schlimmer ist
als in allen Zeiten seit den späten 1920ern. Die Leute an der Spitze
schnappen sich alle neuen Vermögen und Einkommen für sich selbst und der
Rest Amerikas wird zerdrückt und zurückgelassen." Ob er mit der Ansage
Chancen auf eine Nominierung hat? Er meint dazu, er würde nicht antreten,
"wenn ich nicht glaubte, ich könnte gewinnen". Nur: Das mit den
Wahlkampfspenden von besseren Leuten möcht er gar nicht versuchen: "Ich
laufe nicht im Land herum, um mit Millionären zu reden. Ich spare mir jetzt
die Zeit, weil die mir sowieso kein Geld geben würden und das ist gut so."

Der aussichtsreichste Kandidat auf republikanischer Seite dürfte übrigens
Jeb Bush sein, Hardcore-Neocon, ehemaliger Gouverneur von Florida sowie Sohn
resp. Bruder zweier ehemaliger Katastrophenpräsidenten. Sollte es - entgegen
aller Wahrscheinlichkeit - zu einem Wahlkampf Sanders vs. Bush kommen, wird
sich der Zeitungsleser wohl mit sehr viel Popcorn eindecken müssen.

Alle Zitate nach
http://thehill.com/video/in-the-news/240632-watch-live-sanders-announces-run-talks-agenda-for-america
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Die Berichte beziehen sich großteils auf die Online-Ausgaben der zitierten
Medien. Zeitungsleser: -br-



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