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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 22. April 2015; 17:35
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Debatte:
> Kampffeld Nationalstaat
Weite Teile der europäischen Linken sehen vom Kampf im eigenen Land ab. Sie
wollen sich auf Europa konzentrieren. Die Schwächung der Arbeiter- und
anderer sozialer Bewegungen sei dadurch enorm, meint *Andreas Wehr*.
Sein hier abgedruckter Text hat einen starken Deutschlandbezug, ist aber in
vielerlei Hinsicht auch für die österreichische Linke und die hiesigen
Gewerkschaften zumindest diskussionswürdig.
*
Der Wahlsieg von Syriza bei den griechischen Parlamentswahlen bot der
Initiative »Europa neu begründen« einen Anlass, die Forderung nach einer
anderen Politik für die Europäische Union zu erneuern. Die Initiatoren der
2012 veröffentlichten gleichnamigen Erklärung legten dafür im Februar 2015
den Aufruf »Griechenland nach der Wahl - Keine Gefahr, sondern eine Chance
für Europa« vor. In dem heißt es: »Der politische Erdrutsch in Griechenland
ist eine Chance nicht nur für dieses krisengeschüttelte Land, sondern auch
dafür, die Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU grundsätzlich zu überdenken
und zu korrigieren.« (1)
Bereits in dem Aufruf »Europa neu begründen« war angemahnt worden: »Der
Einigungsprozess braucht eine neue identitätsstiftende Leitidee. Immer mehr
Menschen verbinden mit Europa Staatsschulden, Sozialabbau und Bürokratie.
Sie entziehen der EU Sympathie und Zustimmung. Soll Europa eine Zukunft
haben, muss aktiv um die Zustimmung und Zuneigung der Menschen geworben
werden. In einer europäischen Öffentlichkeit müssen sich die Akteure über
eine Leitidee für ein soziales und demokratisches Europa verständigen.« (2)
Verfasser waren die Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB)
sowie der in der Dachorganisation zusammengeschlossenen
Einzelgewerkschaften. Zu den Erstunterzeichnern zählten Gewerkschaftschefs
aus Frankreich, Österreich, der Schweiz, Großbritannien und Spanien, Sozial-
und Wirtschaftswissenschaftler sowie Politiker der SPD, den Grünen und der
Partei Die Linke.
Die Forderung nach einem »sozialen und demokratischen Europa« ist alles
andere als neu. Als Mantra - erweitert oft um »friedlich«, »ökologisch« oder
auch »feministisch« - findet sie sich seit langem in unzähligen
programmatischen Erklärungen von DGB, SPD, Grünen und Linkspartei. Doch
nähergekommen ist man diesen Zielen in all den Jahren nicht. Im Gegenteil:
Im Zuge der Euro-Krise schritt der Demokratieabbau voran, wurden neue
Institutionen wie der Europäische Stabilitätsmechanismus geschaffen, die
ohne jede parlamentarische Kontrolle arbeiten. Auch die »Troika« aus
Vertretern der Europäischen Zentralbank, der Europäischen Kommission und des
Internationalen Währungsfonds agiert in einem parlamentarisch
unkontrollierten Raum.
Keine Fortschritte gab es auch bei der Schaffung eines »sozialen Europas«.
Die EU ist vielmehr führend beim Abbau sozialer Rechte. Die großen
Privatisierungswellen, ob bei der Post, der Bahn oder im Energiebereich, sie
alle wurden von Europäischem Rat und Kommission vorangetrieben. Selbst das
national geregelte Streikrecht wurde durch Entscheidungen auf europäischer
Ebene eingeschränkt. (3)
EU-Skepsis in der Bevölkerung
Nun wird von den Anhängern eines »sozialen und demokratischen Europas«
eingewandt, dass nicht nur auf europäischer Ebene Demokratie- und
Sozialabbau stattfindet, sondern auch in den Mitgliedsländern. Und in der
Tat ist mit der neoliberalen Wende in den siebziger Jahren fortschrittliche
Politik dort früh unter Druck geraten. Richtig ist auch, dass »Brüssel«
durch die Mitgliedsstaaten ausdrücklich zu seinem antidemokratischen bzw.
antisozialen Vorgehen ermächtigt wurde. Zudem haben die Initiatoren des
Aufrufs sehr wohl erkannt, dass es auch die vertraglichen Grundlagen der EU
sind, die eine demokratische und soziale Politik nicht zulassen, deshalb
stellten sie ja den Aufruf unter die Überschrift »Europa neu begründen«.
Doch unhinterfragt steht hinter allen diesen Forderungen und Vorschlägen
nach einer anderen, d. h. demokratischen und sozialen Europäischen Union
bzw. nach ihrer Neubegründung die Vorstellung, dass in Zeiten der
Globalisierung eine grundlegende Wende nur noch international, zumindest auf
Ebene der EU, auf keinen Fall aber mehr im nationalstaatlichen Rahmen
möglich ist. Die Leugnung dieser Annahme führe unweigerlich zu
rückwärtsgewandtem, nationalistischem Denken.
Genau dies ist es aber, was es Gewerkschaften und linken Parteien immer
schwieriger macht, erfolgreich für eine andere Politik einzutreten, folgen
ihnen doch die Massen nicht mehr auf diesem Weg. Im Aufruf »Europa neu
begründen« wird dieser Unwille zwar zur Kenntnis genommen, doch Konsequenzen
werden nicht gezogen. Im Gegenteil: Mit einer europäischen Sozialpolitik
verlangt man sogar nach einem mehr an Europa, denn die ließe sich nur
mittels einer Verlagerung weiterer Kompetenzen auf die europäische Ebene
realisieren.
Warum kein Erfolg auf EU-Ebene?
Warum aber kann der Kampf um eine fortschrittliche Politik auf EU-Ebene
nicht erfolgreich geführt werden? Es ist nicht allein die Stärke der in
Brüssel gut organisierten Macht neoliberaler Kräfte, die das verhindert.
Vergeblich ist er, weil dabei ignoriert wird, wie sich die Menschen ihrer
gesellschaftlichen Stellung bewusst werden, um überhaupt erst die
Veränderung der Verhältnisse, in denen sie leben, angehen zu können.
Im Vorwort zur »Kritik der politischen Ökonomie« spricht Karl Marx über die
Bedingungen, die für grundlegende Umwälzungen gegeben sein müssen. Man
muss »stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich
treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen
und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder
philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses
Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten« (MEW, Band 13, Seite 9). Die
von Marx dargestellte Korrelation ist daher eine dreigliedrige:
Produktivkräfte - Produktionsverhältnisse - gesellschaftliche
Bewusstseinsformen.
Antonio Gramsci hat die Gründe für die Niederlagen der Arbeiterbewegungen in
den entwickelten kapitalistischen Ländern in den Jahren 1918/19 analysiert
und daraus grundlegende Schlussfolgerungen entwickelt. Im Unterschied zum
unterentwickelten zaristischen Russland, wo den Bolschewiki in einem
Überraschungsangriff in einem vom italienischen Kommunisten sogenannten
Bewegungskrieg der Sieg gelang, dominierte in den gefestigten
Zivilgesellschaften des Westens nach Gramsci der »Stellungskrieg«. Bei
diesem Kampf in und um die Zivilgesellschaft geht es um die Eroberung von
Bastionen, die als Ausgangspositionen für weiteren Terraingewinn dienen. Es
ist ein lange währendes Ringen, das schließlich, in die Errichtung einer
gesellschaftlichen Hegemonie der Arbeiterbewegung mündet.
Den politischen und kulturellen Rahmen für dieses Ringen bilden die
Nationen, davon gingen Marx, Engels, Lenin und Gramsci als
Selbstverständlichkeit aus. Die von Marx benannten »juristischen,
politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz,
ideologischen Formen« existieren eben nur als Elemente der jeweils national
organisierten Gesellschaften. »Der Stellungskrieg wird geführt auf dem Boden
der nationalen Besonderheiten.« (4) Heute würde man das Ensemble
der »ideologischen Formen« als nationale Öffentlichkeit bezeichnen. Damit
ist zugleich die Aufgabe benannt, der sich eine unterdrückte Klasse zu
stellen hat, schickt sie sich an, die Ausbeuterordnung zu stürzen: »Die
Arbeiterklasse muss im Stellungskrieg ihre Kultur entwickeln - als ihre
eigene neue, die das kulturelle Erbe der Nation und der Menschheit aufnimmt
und weiterführt. Die Kultur der Unterdrückten ist ein Teil der
Nationalkultur, und sie enthält deren progressive, von der herrschenden
Klasse nicht eingelöste Sinn-Entwürfe: Theoretische Konzepte, Werte,
Lebensziele.« (5)
Fehlende Adressaten auf EU-Ebene
Eine europäische Öffentlichkeit ist hingegen nicht vorhanden, für sie fehlen
alle Voraussetzungen. Es gibt in der EU - trotz der Verbreitung des
Englischen - weder eine von allen verstandene und gesprochene Sprache, noch
existieren die für die Bildung einer europäischen Öffentlichkeit
unverzichtbaren Elemente wie europaweite Medien, europäische Gewerkschaften
oder Parteien. Die bestehenden europäischen Parteien sind
lediglich »Parteienparteien«, bloße Zusammenfassungen von jeweils nationalen
Organisationen auf Funktionärsebene ohne jedes eigenständige Parteileben.
Nicht anders sieht es bei den europäischen Gewerkschaftsverbänden aus.
Wenn es im Aufruf »Europa neu begründen« nun heißt: »In einer europäischen
Öffentlichkeit müssen sich die Akteure über eine Leitidee für ein soziales
und demokratisches Europa verständigen«, und »wir plädieren für eine
europäische soziale Bürgerbewegung, die gegen die desaströse Krisenpolitik
und für einen radikalen Politik- und Pfadwechsel antritt«, so sind diese
Forderungen bloßer Voluntarismus, da ohne jeden Ansprechpartner, denn es
gibt eine »europäische soziale Bürgerbewegung« so wenig wie
eine »europäische Öffentlichkeit«.
Dem Aufruf fehlt es aber nicht nur an einem Adressaten. Mit der Benennung
der Europäischen Union als entscheidender Kampfboden wird zugleich eine
Aussage über die sozialen Kämpfe auf nationaler Ebene getroffen. Und sie
lautet: Dort ist der Kampf um grundlegende Änderungen vergebens. In
demagogischer Form hat dies Franz Müntefering auf dem Parteitag der SPD 2004
ausgesprochen, um die Delegierten auf die »Hartz IV«-Gesetzgebung
einzuschwören: »Wir müssen uns ehrlich machen, was die Situation des
Sozialstaates angeht. Der deutsche Sozialstaat ist über Jahrzehnte und
Jahrhunderte erkämpft worden, und zwar in Antwort auf den nationalen
Kapitalismus. Diesen nationalen Kapitalismus gibt es aber nicht mehr.« (6)
Die Behauptung, dass es einen »nationalen Kapitalismus« nicht mehr gäbe, ist
natürlich absurd, dies zeigen allein schon die tiefen Gegensätze zwischen
den kapitalistischen Gesellschaften, die sich in der Euro-Krise zwischen
Deutschland und Frankreich, Italien, Portugal und Griechenland aufgetan
haben. Innerhalb der EU nimmt der deutsche Kapitalismus sogar eine
Hegemonialstellung ein.
Die von Müntefering aufgestellte Behauptung eignet sich aber dafür, die
angebliche Alternativlosigkeit des Sozialabbaus in Deutschland zu begründen,
schließlich kann man einen nicht mehr vorhandenen Gegner auch nicht mehr
bekämpfen. In der soziologischen Literatur wird dies von der These
einer »postnationalen Konstellation« begleitet, wie sie der Soziologe Jürgen
Habermas aufgestellt hat. (7)
Das Kampffeld »Nationalstaat« wird aufgegeben, ohne dass ein adäquates neues
benannt werden kann. Die Ausgebeuteten und sozial Benachteiligten werden
sich selbst überlassen, bieten ihnen doch ihre traditionellen
Organisationen, Gewerkschaften und linke Parteien, keine Perspektive mehr.
Im wortwörtlichen Sinne werden ihnen Steine statt Brot geboten.
Rechte füllen Leerstellen aus
Resignation und Passivität und daraus folgende Wahlenthaltung sind die
Folgen. Schlimmer noch: Rechten Parteien gelingt es immer besser, diese
Leerstelle zu besetzen und sich als die neuen Verfechter des Sozialstaats
aufzuspielen. Dabei knüpfen sie geschickt an Erinnerungen an bessere Zeiten
an. Sie nutzen berechtigte Sehnsüchte nach Wiederherstellung staatlichen
Schutzes, nach Heimat für ihre trüben Zwecke. Dabei entstellen sie die auf
Herstellung von Gleichheit zielende Ideen vom Sozialstaat, indem sie seine
Leistungen auf die angestammte Bevölkerung und oft sogar nur auf ihren
männlichen Teil beschränkt sehen wollen. Die jüngsten Erfolge des Front
National in Frankreich, der Dänischen Volkspartei, der Schwedendemokraten,
der Basisfinnen, der österreichischen FPÖ, der niederländischen Partij voor
de Vrijheid, der belgischen Nieuw-Vlaamse Alliantie und auch der deutschen
AfD beruhen auf diesem Konzept.
In Schweden haben sich die Rechtspopulisten der einstmals von
Sozialdemokraten und Gewerkschaftern propagierten Idee des »Volksheims«
bemächtigt. Der französische Front National hat weite Teile der von der
Linken aufgegebenen wirtschafts- und sozialpolitischen Forderungen in sein
Programm übernommen. Verlierer sind überall die Sozialdemokraten, deren
Einfluss in der Arbeiterklasse dahinschmilzt. Links von ihr stehende
Parteien können von deren Niedergang kaum profitieren. Mit ihren
proeuropäischen Forderungen werden auch die in der Europäischen Linkspartei
zusammengeschlossenen Parteien zu Recht als Teil des Elitenprojekts Europa
angesehen, das für die Ausgebeuteten nichts Gutes bereithält. Dass die
Linken aber ein »anderes Europa« wollen, spielt keine Rolle, entscheidend
ist, dass auch sie den antinationalstaatlichen Diskurs bedienen.
Die Aufgabe des nationalstaatlichen Kampffeldes stellt für die
Arbeiterbewegung einen großen Rückschritt dar. Noch in der Nachkriegszeit
war es ihr gelungen, überall in Europa im Rahmen des eignen Landes
grundlegende soziale Reformen durchzusetzen. In den neuen Verfassungen
wurden Sozialisierungsartikel und die Sozialpflichtigkeit des Eigentums
verankert. Im deutschen Grundgesetz konnte in Artikel 20 Absatz 1 die
normative Bestimmung durchgesetzt werden, wonach die BRD ein »demokratischer
und sozialer Bundesstaat« ist. Artikel 15 enthält sogar die Ermächtigung zu
Sozialisierungen. All dies war nur aufgrund einer für die Arbeiterbewegung
günstigen Konstellation möglich: dem noch gegenwärtigen Bewusstsein der Nähe
von Kapitalismus und Faschismus, der überragenden Rolle der Sowjetunion bei
der Niederringung der Naziherrschaft und der aktiven Rolle von Kommunisten
und Sozialisten im antifaschistischen Kampf.
In Italien konnte der zuvor von Gramsci theoretisch formulierte Anspruch der
Arbeiterklasse auf die Hegemonie bei der Führung der Nation in der Realität
erhoben werden. 1948 erklärte der Vorsitzende der Kommunistischen Partei
Italiens, Palmiro Togliatti: »Die große Masse der Ausgebeuteten, die unter
Bedingungen lebte, die denen ähnelten, unter denen Tiere leben, hatte kein
Vaterland, hatte nicht das Gefühl, ein Vaterland zu besitzen. Heute liegen
die Dinge anders. Heute sind diese Massen erwacht, haben sie einen höheren
Lebensstandard erreicht, haben sie politische Rechte durchgesetzt und haben
sie sich zugleich das Recht erkämpft, ein Vaterland zu haben. Heute ist die
Nation ihr Gut. Diese Massen jedoch, die leiden, die ausgebeutet sind, die
das Ende ihrer Leiden und ihrer Ausbeutung anstreben, wissen, dass dies nur
mit der Errichtung einer sozialistischen Ordnung Realität wird, das heißt,
nur wenn der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ein Ende gesetzt
wird. Somit stehen Nation und Sozialismus nicht mehr im Gegensatz
zueinander.« (8)
Erst national, dann international
Die heutige Situation in Europa ist gewiss eine andere. Die seit Jahrzehnten
anhaltende neoliberale Offensive, die Kapitulation der Sozialdemokratie vor
ihr, die Schwäche der Gewerkschaften sowie das weitgehende Verschwinden
klassenbewusster Kräfte nach der Niederlage des realen Sozialismus haben die
europäischen Arbeiterbewegungen in die Defensive gebracht. Wir haben es
heute überall mit gefestigten Systemen des staatsmonopolistischen
Kapitalismus zu tun. Aber dennoch gilt, dass sich die Arbeiterbewegungen nur
dann aus dieser Lage befreien können, wenn sie überall den Kampf um die
Hegemonie in ihren Nationen wieder aufnehmen und an ihre Erfolge aus der
Nachkriegszeit anknüpfen. Einen ersten Erfolg stellte die Ablehnung des
europäischen Verfassungsvertrags in Volksabstimmungen in Frankreich und in
den Niederlanden 2005 dar, sollte doch mit der Europäischen Verfassung
zumindest ideologisch ein endgültiger Schlussstrich unter die
antifaschistischen und sozialstaatlichen Verfassungen vieler Mitgliedsländer
aus der Nachkriegszeit gezogen werden. Dies misslang aufgrund des Einspruchs
der beiden Landesbevölkerungen.
Der Kampf um die Hegemonie bei der Führung der Nation und der Kampf um den
Sozialismus weltweit dürfen dabei nicht als Gegensatz begriffen werden.
Gramsci schrieb darüber: »Gewiss treibt die Entwicklung auf den
Internationalismus zu, aber der Ausgangspunkt ist national.« (9) Er bestand
auf der historischen Abfolge, die man nicht negieren darf. Nur wenn man sich
dessen bewusst ist, kann vermieden werden, dass die Strategie
illusionistisch wird, indem das Ziel mit der Wirklichkeit verwechselt wird.
Um eine solche Illusion handelt es sich aber bei der unter Linken
verbreiteten Vorstellung, den kapitalistischen bzw. imperialistischen
Staaten der EU eine sozial gerechte und demokratische Union quasi
überstülpen zu können.
Käme es aber in europäischen Ländern zu grundlegenden antikapitalistischen
Veränderungen der Produktionsverhältnisse, so wälzte sich anschließend der
gesamte Überbau um. Zu diesem Überbau gehört selbstverständlich auch die
Europäische Union, die dann nicht weiter existieren wird, da sie nun einmal
dem Grundsatz einer »offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb
verpflichtet« ist. (10)
Ein neu zu schaffender europäischer Zusammenschluss wird als regionale
Organisation für eine immer engere Koordination und Zusammenarbeit der auf
gesellschaftlichem Eigentum an den Produktionsmitteln beruhenden
europäischen Staaten zu sorgen haben. Bereits Gramsci sah solche
Zusammenschlüsse als Zwischenetappe vor: »Bevor die Voraussetzungen für eine
Planwirtschaft auf weltweiter Ebene geschaffen sind, bedarf es vieler
Phasen, in denen die regionalen Kombinationen (die von Nationalgruppen) sich
voneinander unterscheiden können.« (11) Eine solche regionale Kombination
auf sozialistischer Grundlage war der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe
(RGW) und stellt heute in Lateinamerika, zumindest in ersten Ansätzen, die
Bolivarische Allianz für die Völker unseres Amerikas (ALBA) dar. Auch eine
von sozialistischen europäischen Ländern neu gegründete Europäische Union
wäre ein solcher Zusammenschluss. ###
Quelle: http://www.andreas-wehr.eu/kampffeld-nationalstaat.html
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Erstveröffntlichung in der Tageszeitung "junge Welt"
*
Anmerkungen
1 http://wp.europa-neu-begruenden.de/
2 Ebenda
3 Insbesondere durch die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs in den
Angelegenheiten Viking, Laval und Rueffert, in denen es um die
gewerkschaftlichen Rechte in einem »freien« Binnenmarkt ging.
4 Hans Heinz Holz: Theorie als materielle Gewalt. Aufhebung und
Verwirklichung der Philosophie. Berlin 2011, Band 2, S. 131
5 Ebenda, S. 69
6 Franz Müntefering: Rede auf dem außerordentlichen Parteitag der SPD am
21.3.2004, zitiert nach: www.franz-muentefering.de/reden/23.03.04.html
7 Vgl. hierzu Andreas Wehr: Der europäische Traum und die Wirklichkeit. Über
Habermas, Rifkin, Cohn-Bendit, Beck und die anderen. Köln 2013, S. 41 ff.
8 Palmiro Togliatti: Ausgewählte Reden und Aufsätze. Frankfurt am Main 1977,
S. 357 f.
9 Antonio Gramsci: Philosophie der Praxis. Frankfurt am Main 1967, S. 358
10 Artikel 119 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union
(AEUV)
11 Antonio Gramsci: Philosophie der Praxis, a. a. O., S. 358 f.
*
Zum Autor:
Andreas Wehr, Jg. 1954. Von 1971 bis 1998 Mitglied der SPD. In den siebziger
und achtziger Jahren aktiv in der Berliner Friedensbewegung. Heute Mitglied
der Partei "Die Linke". Mehrmals Kandidat für den Bundestag und das EP,
zuerst für die SPD dann für PDS/Linke. Mitglied in der Gewerkschaft ver.di.
Bis 1999 Mitherausgeber der "Zeitschrift für Sozialistische Politik und
Wirtschaft - spw". 1999 bis Ende 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der
Konföderalen "Fraktion der Vereinten Europäischen Linken / Nordische Grüne
Linke" des Europäischen Parlaments in Brüssel.
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