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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 1. April 2015; 09:44
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Wiener Wahlen / Rotgrüne Wickel:

> Politisches Spiel, moralisches Spiel

Es sind alle sehr empört -- durch den Übertritt eines Mandatars hat sich die
Wiener SPÖ das bisherige Wahlrecht gesichert. Doch die Affäre hat
mannigfaltige Aspekte.

Von *Bernhard Redl*

"Eine Partei ist eine Partei ist eine Partei." Das hat mal Günther Nenning
geschrieben, zu Zeiten, als er noch so einigermassen als Linker
durchgegangen ist. Und eine Koalition ist eine Koalition ist eine Koalition.
"Indem die SPÖ Senol Akkilic aktiv abgeworben hat, um ein faires Wahlrecht
zu verhindern, hat sie den Geist von Rotgrün begraben. Das
partnerschaftliche an dieser Koalition, der Spirit, ist vorbei", meinte
Maria Vassilakou dazu. Nun, das ist genau der Irrtum. Eine Koalition ist
keine Liebesehe, sondern eine Politlebensabschnittspartnerschaft aus
Vernunftgründen. Und daß die SPÖ in Wien ihre Koalitionspartner genauso mies
behandelt wie die ÖVP das im Bund tut, nach dem Motto "Wer kann, der kann",
ist nun auch nicht wirklich neu. Im Gegenteil, es ist sogar erstaunlich,
wieviel Luft die SPÖ den Grünen gelassen hat. Die "Enttäuschung" der Grünen
ist entweder naiv oder gespielt, quasi schon ein Teil des Vorwahlkampfes.

Parteien

Zurück zum Nenning-Zitat: Auch eine Parteimitgliedschaft sollte man nicht
als Herzensangelegenheit sehen, sondern nur als Mitgliedschaft in einem
Zweckbündnis. Man muß genauso wie in einer Koalition Kompromisse eingehen,
wenn man gemeinsam mit Anderen etwas erreichen will. Für Akkilic erfüllte
die Partei ganz offensichtlich nicht mehr den Zweck -- egal, ob man ihm
jetzt Sesselkleberei vorwerfen will oder es ihm wirklich um die Dinge geht,
die er als Gemeinderat vorangetrieben hat.

Berufspolitiker

Wenn den Grünen jemand an eine andere Partei verloren geht, jammern sie
meistens darüber. Frühere Beispiele: Kenesei (der allerdings zur ÖVP ging),
Schennach, Kaizar und nicht zu vergessen Ulli Sima, die immer wieder
versucht hat, irgendwas bei den Grünen zu werden, und dann von Häupl zur
Stadträtin gemacht wurde. Aber wieso passiert das den Grünen (und der FPÖ
mitsamt Derivaten) so häufig und der SPÖ so selten? Nun, die SPÖ ist eine
autoritäre und in Wien sehr große Partei, die entsprechende Angebote machen
kann -- und das betrifft nicht nur Mandate. Dieter Schrage -- der als
Anarchist nicht gerade ein libidinöses Verhältnis zu irgendeiner Partei
hatte -- meinte einmal zu mir: "Weißt du, in der Sozialdemokratie ist das
anders, da gibt es mehr Wärme". Das heißt: Man läßt einen Genossen nicht im
Regen stehen. Und da geht es natürlich auch um die vielgescholtetenen
Versorgungsposten und das Berufspolitikertum.

Wer kann es sich leisten, Politiker zu werden? Parteiangestellte, Beamte,
Gewerkschaftsfunktionäre mit Rückkehrrecht. Oder man bleibt ewig
Hinterbänkler bei einer Großpartei, wo man zumindest eingeschränkt auch
weiterhin seinem Beruf nachgehen kann. Aber bei kleinen Fraktionen ist das
üblicherweise ein Fulltimejob -- und danach hat man wenig Perspektiven. Die
Sesselkleberei ist da nur zu verständlich. Auch wenn es den Grünen nicht
gefallen mag: Ab einer gewissen Stufe in der Polithierarchie ist Politik ein
Beruf und kein Nebenjob. Im Gegenteil: Wer Politik als Nebenjob betreibt,
wird seine Sache nicht gut machen, weil ihm die Zeit dazu fehlt. In der
Schweiz gilt offiziell immer noch das Diktum: Wir wollen keine
Berufspolitiker, sondern das "Milizsystem", wo jeder Mandatar gleichzeitig
einen anderen Beruf ausübt -- doch die Realität sieht auch dort längst
anders aus, die komplexen Anforderungen haben den meisten Abgeordneten die
reguläre Werktätigkeit nebenbei unmöglich gemacht.

In Österreich funktioniert das lediglich bei den Hinterbänklern der ÖVP
wirklich gut -- die haben ihre Nebenjobs aber zumeist im Finanz- und
Beratungsbereich, was halt auch nicht gerade so toll ist, wenn man die
vitalen Interessen gegenüber der Politik speziell in diesen Branchen
bedenkt. Der Gedanke, man wolle als Abgeordnete Menschen aus dem "gemeinen
Volk", die dessen Interessen vertreten, weil sie auch in ihrer Zeit als
Mandatare selbst im vollen Ausmaß von diesen Gesetzen und Verordnungen
betroffen sind, ist wunderschön, aber in jenem System, das man so unter
"Demokratie" versteht, kaum lebbar. Will man aber wenigstens Politiker, die
aus einem politfernen Beruf stammen und bereit sind, diesen für eine
unsichere Karriere als Mandatar aufzugeben, muß man ihnen für das Nachher
etwas versprechen können, damit sie nicht in ein Loch fallen -- sicher auch
ökonomisch, aber wohl auch für die politischen Anliegen, für die sie sich in
ihrer Zeit als Mandatare engagieren. Denn gerade die engagierten Leute, die
man ja bei den Grünen so gerne hat, wollen ihr Engagement danach nicht den
Bach runtergehen lassen, nur weil sie nicht mehr gewählt wurden. Vor drei
Jahrzehnten, als die schiere Existenz der Grünen als politischer Faktor noch
unsicher war, konnten sie kaum für ihre künftigen Ex-Mandatare vorsorgen.
Heute jedoch sind sie etabliert und haben diese Möglichkeiten. Zugegeben,
das riecht nach Korruption und Parteifreunderlwirtschaft, aber unter den
gegebenen Bedingungen ist das die einzige Möglichkeit, fähige, verläßliche
und engagierte Mandatare zu bekommen.

Wahlrecht

Daß man Akillic zur SPÖ geholt hat, um eine Änderung des Wahlrechts zu
verhindern, ist natürlich ganz böse. Ist es das? Die SPÖ wollte das
Wahlrecht beibehalten, weil es ihr hilfreich ist. Akillic wollte sein Mandat
behalten. Die Grünen und die ÖVP -- der FPÖ kann es bei ihrem derzeitigen
Wählerbestand egal sein -- wollten ein Wahlrecht, das ihnen nützt. Die SPÖ
hat sich durchgesetzt, that's it. Moralisches Gejammer ist da eher
lächerlich.

Wenn man von Fairness redet, muß man das anders tun. Haben die Grünen
gefordert, endlich die Mindestklausel aufzuheben, um ein faireres Wahlrecht
zu bekommen, so eines, wie es in allen anderen Gemeinden Österreichs
vorhanden ist? Nein, haben sie nicht. (Der grüne Klubchef Ellensohn hat
einmal gemeint, daß er prinzipiell schon dafür wäre. Aber prinzipielle
Ansichten sind etwas Anderes als eine dezitierte politische Forderung.)

Das übliche Argument ist ja, daß der Gemeinderat auch Landtag sei und eine
Zersplitterung der Parteien wäre in einem Landtag nicht opportun. Warum
nicht? Nun, das macht die Koalitionsbildung, sprich: das Regieren, so
umständlich. Und wie soll man da erst die Ausschüsse besetzen? Stimmt schon,
weniger Fraktionen machen vieles einfacher, aber mit dem selben Argument hat
die SPÖ das mehrheitsfördernden Wahlrecht in Wien verteidigt und genau damit
fordert auch die ÖVP im Bund jetzt ein Mehrheitswahlrecht.

Sicher, Mini-Fraktionen hätten es besonders schwer in solchen Gremien,
weil -- siehe oben -- dann noch mehr Arbeit auf noch weniger Leute verteilt
würde. Aber mit diesem Argument müßten die Grünen auch ein
Mehrheitswahlrecht fordern, um möglichst wenige große Fraktionen zu haben.
Aber dann gäbe es halt auch keine Grünen mehr.

Wahlrechtsreformen gehen selten in die Richtung mehr Authentizität des
Wählerwillens. Das liegt daran, daß die Mandatare der Mehrheit eines
National- oder Provinzparlaments selbst über den Modus bestimmen können, wie
sie selbst wiederbestellt werden. Die jeweils großen Parteien wollen ihre
Mehrheiten schützen, die kleinen sich vor der Konkurrenz durch momentan noch
kleinere Parteien. So läuft das Spiel. Und alle Fraktionen fordern ein
"faires" oder "demokratisches" Wahlrecht (oder verwenden irgendein anderes
gut klingendes Attribut). Interessanterweise sind das dann immer genau
Modelle, die ihnen bei den gerade vorherrschenden Wahlverhältnissen selbst
nutzen. Wobei das natürlich auch recht kurzsichtig ist: ND und PASOK in
Griechenland wünschen sich jetzt wahrscheinlich, das dortige extrem
mehrheitsfördernde Wahlrecht geändert zu haben, als sie es noch konnten.

Resumee

Die Empörung, daß sich die SPÖ einen Mandatar "gekauft" habe, ist
unangebracht. Unter den herrschenden systemischen Bedingungen war das nur
logisch und nicht mal sonderlich verwerflich. Will man so etwas verhindern,
muß man fundamentale Fragen zur "Volksvertretung" stellen. Aber das will in
der classe politique halt niemand.
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