**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 17. Dezember 2014; 01:39
**********************************************************

Bücher:

> Beim Lesen alter Romane

Michail Bulgakow
Die Weiße Garde
Globus Verlag Wien o.J. , 318 Seiten
(das russische Original stammt aus dem Jahr 1924)

In manchen Fällen sagt ein Roman mehr aus als ein wissenschaftliches Buch.
Auf Sizilien etwa hört man/frau immer wieder:" Wenn Sie die (jüngere)
Geschichte des Landes verstehen wollen, dann lesen Sie am besten den
"gattopardo" ("Der Leopard") von Lampedusa(1). Und Marx läßt bekanntlich an
Schlüsselstellen des "Kapitals" die Literatur zu Wort kommen - u.a.
Shakespeare.

Um die aktuellen Konflikte, ja den Krieg in der Ukraine zu verstehen, bedarf
es zweifelsohne vieler Hintergrund-Infos. Aber auch ein Roman wie Bulgakows
"Die weiße Garde" vermittelt tiefe Einblicke in deren historische und
kulturelle Dimension.

Bulgakow, der Autor des legendären Romans "Meister und Margarita" (der in
der Stalin-Ära der Sowjetunion nicht veröffentlicht werden durfte) wurde in
Kiew geboren, als Sohn eines russischen Kirchenhistorikers (2). Bulgakow und
seine bürgerliche Familie erlebten voll die Revolutions-Jahre 1917 und
danach in der "herrlichen Stadt am Dnepr". "Die weiße Garde" ist die
literarische Aufarbeitung dieser Erlebnisse.

Der Roman schildert in komprimierter Form (aus dem Stoff wurde auch ein
Bühnenstück: "Die Turbins") den oftmaligen Wechsel der Herrschaft in der
Stadt: das von den Deutschen abhängige Hetman-Regime, die
ukrainisch-nationalistische Petljura-Bewegung, die Winkelzüge der
konterrevolutionären "weißen" Generäle etc. und die revolutionären
Bolschewiki.

Es bietet sich ein wüster, fast unauflöslicher politischer Knäuel dar. Total
unterschiedliche Schichten und Klassen bzw. deren jeweilige ProtagonistInnen
stoßen aufeinander. All das mit - durchaus gegensätzlichen - ausländischen,
sprich imperialistischen Interessen - von Polen über das (zusammenbrechende)
Deutsche Reich bis hin zur Entente. Kommt einem doch auch in der Gegenwart
irgendwie bekannt vor...

Die Ereignisse und ihre AkteurInnen werden via erstklassiger !Literatur!
präsentiert - die Figuren sind NICHT bloße "Sprachrohre des Zeitgeistes" -
wie Engels es in seiner Kritik an Lassalles "Sickingen" formulierte (3).
Auch die "STADT" (gemeint ist Kiew und bei Bulgakow im Roman immer groß
geschrieben) wird differenziert, ja liebevoll geschildert (und erinnert
etwas an den New York-Roman von Dos Passos).

Durch die Lektüre des dichten, spannenden Buchs bekommt man /frau ein Gespür
für die Verwickelheit der Probleme, die nationalen Hader, die diametral
entgegengesetzten (Klassen)interessen.

Auch wenn es sich bei Bulgakow um KEINEN "linken" Schriftsteller handelt und
er einiges verzerrt durch die "russische Brille" schildert, sollte man/ frau
sich das Buch (erneut) zu Gemüte führen- auch als wunderbares Palliativ
gegen einseitige, Schwarz-Weiß- oder "Lager"sichtweisen bezüglich der
Ukraine heute.
*Hermann Dworczak*

1) Tomasi di Lampedusa Der Leopard . Band 447 der Bibliothek Suhrkamp,
Frankfurt am Main 1975

2) Siehe die sehr informative RoRoRo Monographie "Michael Bulgakow" von
Elsbeth Wolffheim. Reinbeck bei Hamburg 1966

3) Sickingen-Debatte. Ein Beitrag zur materialistischen Literaturtheorie,
Hrsg. von Walter Hinderer. Luchterhand Verlag. Darmstadt und Neuwied 1974



***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der nichtkommerziellen
Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd muessen aber nicht
wortidentisch mit den in der Papierausgabe veroeffentlichten sein. Nachdruck
von Eigenbeitraegen mit Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete
Beitraege stehen in der Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von
Texten mit anderem Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine
anderweitige Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als
Abonnement verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann
den akin-pd per formlosen Mail an akin.buero{AT}gmx.at abbestellen.

*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1170 wien, Lobenhauerngasse 35/2
vox: ++43/1/535-62-00
(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
http://akin.mediaweb.at
Blog: https://akinmagazin.wordpress.com/
Facebook: https://www.facebook.com/akin.magazin
Mail: akin.redaktion{AT}gmx.at
Bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976-00, Zweck: akin
IBAN AT041200022310297600
BIC: BKAUATWW