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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 26. November 2014; 10:31
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Prinzipielles:

> Kritik und Gefahren der Utopie

Warum heute über Utopie(n) sprechen? Vielleicht weil die Zeiten längst
vergangen sind, wo man eine rosige Zukunft erwartet hat oder gar aktiv auf
sie zugegangen ist. Wenn es denn wieder einmal Zeit wäre, die Welt zu
verändern, hier und jetzt, so lohnt es sich, dem Begriff der Utopie auf den
Grund zu gehen.

Die erste Annäherung ist historischer Art und ergibt sich aus der Kritik von
Karl Marx und Friedrich Engels an den von ihnen so genannten «Utopisten»
ihrer Zeit wie Charles Fourrier mit seiner Idee der «Phalansterien» (1),
Saint Simon und Robert Owen mit ihren Ideen der Produktionsgenossenschaften
und vielen anderen, weniger bekannten. Laut Marx und Engels waren diese
Ideen nichts als unrealistische Träume, welche die Arbeiter vom Klassenkampf
ablenkten, dem einzigen tauglichen Mittel, um eine neue Gesellschaft
aufzubauen. Die Begriffe «Utopisten» und «Utopie» hatten bei Marx und Engels
also eine eindeutig negative Färbung.

Was die Sozialisten vor Marx letztlich vom «wissenschaftlichen Sozialismus»
unterscheidet, ist die Tatsache, dass letzterer den politischen und
ökonomischen Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus als Folge des Kampfes
der proletarischen Klasse beschreibt, eines Kampfes, der zunächst ganz
bewusst die politische und ökonomische Übergangsphase des unbedeutenderen
Sozialismus in Kauf nimmt, bevor er zum gemeinsamen Ziel führt, wie es auch
von den «Utopisten» (ich verwende hier den Begriff von Marx, der so die
ersten Sozialisten bezeichnet) angestrebt wird: der Beseitigung des Marktes,
des Geldes, des Lohnes, der Klassen und des Staates. Das ist der ideale
kommunistische Staat, der sich übrigens - daran sei erinnert - in nichts vom
Ideal der Anarchisten unterscheidet. Auch hier besteht der Unterschied
darin, wie denn diese ideale Gesellschaft erreicht werden kann. Die
Utopisten wie Fourrier, Owen und Saint-Simon wollten ihre Gemeinschaften
unmittelbar an den jeweiligen Orten ihres Wirkens errichten und zählten
dabei auf die finanzielle und moralische Unterstützung reicher
Philanthropen. (2) Marx und Engels meinen, die utopistischen Sozialisten und
Kommunisten konnten sich - als kleine Sekte, die keinen Zugang zur
arbeitenden Bevölkerung fand - nur «Systeme ausdenken» und eine
«phantastische Lösung erdenken», aber jetzt (zu Marx' Zeiten) sei es
möglich, die Tendenz zum Kommunismus im historischen Prozess selbst zu
erkennen und ihn durch wissenschaftliche Analyse voran zu treiben. «In
unseren Augen sind diejenigen Utopisten, die politische Formen von ihrer
gesellschaftlichen Unterlage trennen und sie als allgemeine abstrakte Dogmen
hinstellen.»

Totalitäre Utopie

Die zweite Schwierigkeit in Bezug auf den Begriff der Utopie ergibt sich aus
der Idee selbst. Denn die Ideen der Utopisten neigen dazu, auf die gesamte
Gesellschaft abzuzielen und das Funktionieren einer perfekten Gesellschaft
bis in alle Details steuern zu wollen, so wie es Thomas More in seinem
berühmten Buch Utopia (3) vorgeschlagen hat, seinerseits inspiriert von
Platons Buch Politeia. Nun gibt es da aber, da die Gesellschaft perfekt ist,
weder für Anfechtungen noch für Veränderungen Raum. Und eine solche
Gesellschaft wäre von der Tendenz her totalitär, weil sie das Leben der
Menschen bis in ihr Privates bestimmen würde. Die Denker Richard Saage und
Karl Popper gehören zu den eifrigsten Kritikern, insbesondere von Platons
Politeia. Eines der Prinzipien des idealen Staates von Platon ist dessen
Unveränderbarkeit und die Abwesenheit von Konflikten, denn «Veränderungen
sind schlecht, die Ruhe wäre göttlich» (4). Zudem sind diese Utopien
normativ, das heißt, sie schreiben vor, welche Moral in diesen
Gesellschaften herrschen soll, damit das allgemeine Wohl erreicht werden
kann. Das Individuum ist also der Gemeinschaft untergeordnet. Dass man auf
ein Ziel fixiert ist, das es zu erreichen gilt, führt notgedrungen über kurz
oder lang zur Anwendung von Gewalt. Denn das Ziel würde die Mittel heiligen.
Und weil es sehr wohl möglich ist, dass in Krisenzeiten, also in Zeiten der
Veränderung, die Ideen, nach denen eine ideale Gesellschaft anzustreben ist,
sich ändern, ist die Idee der Utopie als solche bald in Gefahr. Denn es ist
sehr wohl möglich, dass die Schritte, die angebracht erschienen, um ein
bestimmtes Ideal zu erreichen, nun, da die Ideen über die anzustrebenden
Ideale sich verändern, in eine falsche Richtung und vom angestrebten Ziel
wegführen. In diesem Fall kann sich die Anwendung von Gewalt als einzige
Möglichkeit erweisen, um eine Neuausrichtung des angestrebten Ziels zu
verhindern. Und diese Gewalt wäre begleitet von Propaganda und der
Unterdrückung jeglicher Kritik und Opposition.

Kriterien einer gerechten Gesellschaft

Neben den Philosophen, die nach einer idealen Gesellschaft suchen, gibt es
solche, die dafür einstehen, die Kriterien festzulegen, nach denen eine
gerechte Gesellschaft funktionieren soll, und nicht das anzustrebende
Gesellschaftsprojekt als solches. Einer der wichtigsten Philosophen dieser
Schule war Immanuel Kant. Und der kategorische Imperativ ist einer seiner
wichtigsten Gedanken. Es geht um einen Imperativ, also um eine Pflicht, die
all unserem Handeln zugrunde liegen soll: «Handle so, als ob die Maxime [das
Motiv] deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze
werden sollte.» (5)

Die philosophische Disziplin der Ontologie tritt den Utopisten entgegen.
Denn diese versuchen das Ziel festzulegen, das zu erreichen ist, während
Philosophen wie Kant Prinzipien herauszuarbeiten versuchen, nach denen eine
gerechte Gesellschaft funktionieren sollte. Vielleicht brauchen wir Ideen
von diesen beiden Denkströmungen. Bleibt noch die äußerst wichtige Frage,
gestellt von Karl Mannheim, nach dem Verhältnis zwischen Utopie und
Geschichtsverständnis des Menschen: «Die Utopie kann auch als Methode und
nicht bloß als Ziel oder Zweck einer Handlung betrachtet werden. Sie soll in
die Zukunft weisen und den Weg beschreiben, den man beschreiten kann und
will. Entscheidend ist zu akzeptieren, dass dieses Kann oder dieses Will
sich nicht in ein Soll verwandelt. Sonst fallen die Politik und die
Wissenschaft ins Moralische. Und Utopismus ist immer moralistisch.» (6)
(Caroline Meijers, in Archipel 11/2014 / gek.)
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Vorliegender Text ist der dritte Teil einer Serie über das Thema Utopie. In
der nächsten Ausgabe des Archipel erscheint der vierte Teil, in dem es um
die Notwendigkeit utopischer Ideen geht.
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1. Organische Anordnung von Elementen, die für das harmonische Leben einer
Gemeinschaft als notwendig betrachtet werden. Phalansterien wurden im 19.
Jahrhundert in Frankreich und den Vereinigten Staaten in unzähligen
Umsetzungsversuchen angestrebt.

2. «Vergeblich fragte Fourrier nach und nach alle Regierungen an, die an der
Macht waren, ungeachtet ihrer politischen Ausrichtung: Empire, Restauration,
Ultras, Liberale. Vergeblich trug er eine Liste von möglichen reichen
Kandidaten zusammen. Am Schluss waren es 4000. Ein einziger ließe sich
bestimmt dazu bringen!» Gian Mario Bravo, Les socialistes avant Marx, Paris
1970

3. Utopia, übersetzt von Gerhard Ritter, Reclam, Stuttgart 1964

4. Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 2, 7.
Auflage, Tübingen 1992, in Arno Waschkuhn, Politische Utopien, München 2003

5. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Prolegomena, Ausgabe der
Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff

6. Karl Mannheim, Ideologie und Utopie (1929)
*

Quelle: http://www.forumcivique.org/de/artikel/estern-heute-morgen-utopie-0



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