**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 5. November 2014; 17:38
**********************************************************

Glosse:

> Gedanken zum Gedenken

Zur Kundgebung zur Erinnerung an die Novemberpogrome am ehemaligen
Aspangbahnhof

(Kundgebungsankündigung im Nachspann)
*

Seit vielen Jahren organisiert die Initiative Aspangbahnhof mit
unermüdlichem Engagement eine Mahn- und Gedenkkundgebung anlässlich des
Jahrestages des Novemberpogroms 1938. Jährlich rufen viele Organisationen,
aber auch Privatpersonen zu dieser Veranstaltung auf und einige sind
ebenfalls mit Redebeiträgen vor Ort vertreten. Die Bedeutung der Arbeit der
Initiative Aspangbahnhof ist vor dem Hintergrund, dass der 9. November kein
offizieller Gedenktag in Österreich ist, umso größer. Es gilt die Frage zu
stellen, warum nicht auch das offizielle Österreich diesen Tag mit einer
Gedenkfeier an die Opfer des Novemberpogroms begeht? Ein offizieller
Gedenktag würde verlangen, dass an den in der österreichischen Gesellschaft
tief verwurzelten Antisemitismus erinnert und dass die heutigen
antisemitischen Tendenzen thematisiert werden.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten die
Nationalsozialisten zahlreiche Synagogen in ganz Wien nieder. Viele
Geschäfte und Wohnungen, die im Besitz von Menschen waren, die von den
Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten als Jüdinnen und Juden
definiert wurden, wurden geplündert und zerstört. 6547 Juden wurden in Wien
verhaftet, 3700 davon in das Konzentrationslager Dachau deportiert.

Es gibt mehrere Gründe, den 9. November als Gedenktag an die Opfer des
Nationalsozialismus stärker im Stadtgedächtnis zu verankern. Der
ausschlaggebendste Grund ist wohl, dass das Novemberpogrom kein Verbrechen
war, das an einem weit entfernten Ort, wie etwa Auschwitz, begangen wurde.
Diese Verbrechen fanden hier in Wien statt. Niemand kann behaupten, nichts
davon gewusst oder gesehen zu haben. Die damalige Gesellschaft hat in den
meisten Fällen widerstandslos den Verbrechen an ihren jüdischen Nachbarinnen
und Nachbarn zugesehen. Viele haben auch bereitwillig an den Schikanen,
Plünderungen und Zerstörungen mitgewirkt. Gleichgültigkeit gegenüber ihren
jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern sowie das bewusste Wegschauen waren
ebenso gängige Reaktionen.

Antisemitismus war und ist in der österreichischen Gesellschaft stark
verwurzelt. Ressentiments, Ablehnung und Hass gegenüber der jüdischen
Bevölkerung gab es lange vor dem Nationalsozialismus. Unmittelbar nach dem
"Anschluss" 1938 wurde die Gewaltbereitschaft der nicht-jüdischen
Bevölkerung gegenüber ihren jüdischen NachbarInnen sichtbar. Stille Zeugen
davon sind die Fotoaufnahmen ,straßenwaschender' Jüdinnen und Juden in den
Märztagen 1938. Diese niederträchtige Demütigung, die vielerorts in Wien zu
sehen war, ging in den meisten Fällen auf die Initiative von eifrigen
österreichischen Nazis zurück, die dazu nicht erst von der Parteiführung
aufgefordert werden mussten.

Die Auseinandersetzung mit der Ermordung von über 65.000 österreichischen
Juden und Jüdinnen darf dementsprechend nicht erst mit Auschwitz beginnen,
sondern muss an Erinnerungsorten in unserem heutigen Lebensumfeld anknüpfen.
Einer dieser für die Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung
zentralen Schauplätze in Wien ist der ehemalige Aspangbahnhof. Von hier
wurden in den Jahren 1939 bis 1942 zehntausende Menschen, die von den
Nationalsozialisten als Jüdinnen und Juden definiert wurden, in die
Vernichtungslager im besetzten Polen und im heutigen Weißrussland deportiert
und dort in den meisten Fällen unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet. Der
Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden ging eine schrittweise
Entrechtung und Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung voraus. Diese
Radikalisierung geschah inmitten der damaligen Gesellschaft.

Zudem ist es von zentraler Bedeutung, die nationalsozialistischen Verbrechen
nicht als ,Naturkatastrophe' erscheinen zu lassen, sondern als Verbrechen,
die Menschen an anderen Menschen verübt haben. Die Geschichte der Opfer kann
nicht erzählt werden ohne ihre MörderInnen zu benennen und die Umstände
ihres Todes zu beleuchten. Es gilt, die Motive und Ideologien, die hinter
den Taten der TäterInnen standen, zu verstehen, um diesen, wann immer sie
heute auftauchen, entschieden entgegentreten zu können.

Ideologische und weltanschauliche Konzepte des Faschismus, Antisemitismus,
Antiziganismus und Rassismus sind nach der Befreiung Österreichs durch die
Alliierten keineswegs aus den Köpfen der Bevölkerung verschwunden. Nicht nur
in Österreich, sondern auch in vielen anderen europäischen Staaten, war
insbesondere in den letzten Jahren ein Erstarken der extremen Rechten zu
beobachten. Besonders in Zeiten wirtschaftlicher Krisen und steigender Armut
ist unseres Erachtens die Gefahr besonders groß, dass rechtsextreme Parteien
wieder an Zulauf gewinnen. Umso dringlicher scheint es daher, dieser
Entwicklung offen und entschieden entgegenzutreten.

Die Aufforderung "Niemals vergessen!" muss stetig mit der Verpflichtung
einhergehen, die aktuellen politischen Geschehnisse und Entscheidungen
kritisch zu betrachten und zu hinterfragen. Wir sind verpflichtet - wann
immer es nötig ist - ein starkes zivilgesellschaftliches Zeichen gegen
Rassismus, Antisemitismus und andere Formen der Ausgrenzung zu setzen. Ein
friedlicher antifaschistischer Protest aus der Zivilgesellschaft ist vor
allem dann notwendig, wenn das offizielle Österreich nicht entschieden gegen
das Erstarken von rechtsextremen Tendenzen auftritt.

*Isabella Riedl, Geschäftsführerin Verein GEDENKDIENST*
(Text zur Verfügung gestellt von der Initiative Aspangbahnhof)

*

Mahnwache und Kundgebung
NIEMALS VERGESSEN!
Nie wieder Faschismus!
"In den Jahren 1939 - 1942 wurden vom ehemaligen Aspangbahnhof zehntausende
österreichische Juden in Vernichtungslager transportiert und kehrten nicht
mehr zurück"
Sonntag, 9. November 2014, 15 Uhr
Gedenkstein vor dem ehemaligen Aspangbahnhof
Platz der Opfer der Deportation (bei Ecke A.-Blamauerg./Aspangstr.),
1030 Wien



***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der nichtkommerziellen
Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd muessen aber nicht
wortidentisch mit den in der Papierausgabe veroeffentlichten sein. Nachdruck
von Eigenbeitraegen mit Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete
Beitraege stehen in der Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von
Texten mit anderem Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine
anderweitige Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als
Abonnement verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann
den akin-pd per formlosen Mail an akin.buero{AT}gmx.at abbestellen.

*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1170 wien, Lobenhauerngasse 35/2
vox: ++43/1/535-62-00
(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
http://akin.mediaweb.at
Blog: https://akinmagazin.wordpress.com/
Facebook: https://www.facebook.com/akin.magazin
Mail: akin.redaktion{AT}gmx.at
Bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976-00, Zweck: akin
IBAN AT041200022310297600
BIC: BKAUATWW