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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 11. Juni 2014; 15:29
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PISA/Initiativen:

> Offener Brief an Andreas Schleicher

(Nachfolgender Brief ist auch als Petition an die Verantwortlichen für den
Test und die sie unterstützenden Regierungen gedacht. Er kann weiterhin
unterzeichnet werden auf http://oecdpisaletter.org)

*

Sehr geehrter Herr Dr. Schleicher,
wir wenden uns an Sie in Ihrer Funktion als verantwortlicher Direktor der
OECD für das "Programme of International Student Assessment" (PISA). Im
dreizehnten Jahr nach seiner Einführung ist PISA heute weltweit als
Instrument bekannt, um Ranglisten von OECD-Mitgliedsländern und
Nicht-OECD-Staaten (mehr als 60 in der letzten Zählung) zu erstellen und
zwar aufgrund der Bewertung von Testleistungen von 15jährigen Schülerinnen
und Schülern in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen. Die
PISA-Ergebnisse werden regelmäßig von Regierungen, Bildungsministern sowie
den Herausgebern von Tageszeitungen ängstlich erwartet und werden in
zahllosen politischen Dokumenten unhinterfragbare Autorität zitiert. PISA
hat die Bildungspraxis in vielen Ländern inzwischen tiefgreifend
beeinflusst. Als Folge der PISA-Tests reformieren Staaten ihre
Bildungssysteme in der Hoffnung, ihr Abschneiden im PISA-Ranking zu
verbessern. In vielen Ländern führte der mangelnde Fortschritt bei den
PISA-Tests dazu, eine "Bildungskatastrophe" oder einen "PISA-Schock"
auszurufen, gefolgt von Rücktrittsforderungen und weitreichenden Reformen
gemäß PISA-Maßstäben.

Wir sind offen gestanden tief besorgt über die negativen Folgen der
PISA-Rankings. Nachfolgend einige unserer Bedenken:

- Obwohl standardisierte Tests schon länger in vielen Ländern (trotz
gravierender Vorbehalte gegenüber deren Validität und Zuverlässigkeit)
gebraucht werden, hat PISA zu einer Eskalation solcher Tests beigetragen und
zu einem dramatischen Anstieg in Gebrauch und Bedeutung quantitativer
Messungen geführt. So berief man sich beispielsweise in den USA jüngst auf
PISA als maßgebliche Rechtfertigung für das "RacetotheTop" Programm. Dieses
Programm hat die Bedeutung standardisierter Tests in der Evaluation von
Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern und Schulleitern weiter
verstärkt. Mit solchen Tests wird die Arbeit von Schülern, Lehrern und
Schulleitern aufgrund von Testergebnissen bewertet und klassifiziert, die
weithin als ungenau bekannt sind. (vgl. etwa den unerklärten Abstieg
Finnlands vom ersten Platz der PISA-Rangliste).

- In der Bildungspolitik hat der dreijährige Testzyklus von PISA die
Aufmerksamkeit auf kurzfristige Maßnahmen verlagert in der Absicht, schnell
im Ranking aufzuholen, obwohl die Forschung zeigt, dass nachhaltige
Veränderungen in der Bildungspraxis nicht Jahre, sondern Jahrzehnte
benötigen, um fruchtbar zu werden. So wissen wir zum Beispiel, dass der
Status von Lehrern und das Ansehen des Lehrerberufs einen starken Einfluss
auf die Unterrichtspraxis haben. Dieser Status ist aber von Kultur zu Kultur
sehr verschieden und nicht leicht durch kurzfristige politische Maßnahmen
veränderbar.

- Da PISA nur einen engen Ausschnitt messbarer Aspekte von Bildung betont,
lenken die Tests die Aufmerksamkeit von den weniger messbaren oder nicht
messbaren Bildungs- und Erziehungszielen wie z.B. der körperlichen,
moralischen, staatsbürgerlichen und künstlerischen Entwicklung ab. Dadurch
wird die öffentliche Vorstellung von dem, was Bildung ist und sein soll, in
gefährlicher Weise verengt.

- Als Organisation für wirtschaftliche Entwicklung ist die OECD naturgemäß
auf die ökonomische Rolle der öffentlichen Schulen fokussiert. Aber die
Vorbereitung auf einträgliche Arbeit kann nicht das einzige, ja nicht einmal
das Hauptziel öffentlicher Bildung und Erziehung sein. Unser Schulwesen muss
Schülerinnen und Schüler auch auf die Mitwirkung an der demokratischen
Selbstbestimmung, auf moralisches Handeln und auf ein Leben in persönlicher
Entwicklung, Reifung und Wohlbefinden vorbereiten.

- Im Gegensatz zu Organisationen der Vereinten Nationen (UN) wie UNESCO oder
UNICEF, die ein klares und legitimes Mandat im Bildungsbereich haben,
verfügt die OECD nicht über ein solches Mandat. Auch gibt es derzeit keine
Mechanismen, die eine wirkungsvolle demokratische Teilhabe an deren
Entscheidungsprozessen zu Bildungsfragen ermöglichen.

- Um PISA und eine große Zahl daran anschließender Maßnahmen durchzuführen,
ist die OECD "Public Private Partnerships" und Allianzen mit
multinationalen, profitorientierten Unternehmen eingegangen, die
bereitstehen, um aus jedem von PISA identifizierten - realen oder
vermeintlichen - Bildungsdefizit Profit zu schlagen. Einige dieser Firmen
verdienen an den Bildungsdienstleistungen die sie für öffentliche Schulen
und Schulbezirke bereitstellen. Diese Firmen verfolgen u.a. auch Pläne, eine
profitorientierte Grundschulbildung in Afrika zu entwickeln, wo die OECD
derzeit plant, PISA einzuführen.

- Schließlich und am wichtigsten: Das neue PISA-Regime mit seinen
kontinuierlichen globalen Testzyklen schadet unseren Kindern und macht
unsere Klassenzimmer bildungsärmer durch gehäufte Anwendung von
MultipleChoiceTestbatterien, vorgefertigten (und von Privatfirmen
konzipierten) Unterrichtsmodulen, während sich die Autonomie unserer Lehrer
weiter verringert. Auf diese Weise hat PISA den ohnehin schon hohen Grad an
Stress an unseren Schulen weiter erhöht und gefährdet das Wohlbefinden von
Schülern und Lehrern.

Diese Entwicklungen stehen in offenem Widerspruch zu weithin anerkannten
Prinzipien guter Bildungspolitik und demokratischer Praxis:

- Keine tiefgreifende Reform sollte auf nur einem einzigen, beschränkten
Qualitätsmaßstab beruhen.

- Keine tiefgreifende Reform sollte die wichtige Rolle von außerschulischen
Faktoren ignorieren, wozu insbesondere die sozioökonomische Ungleichheit
einer Gesellschaft gehört. In vielen Ländern hat die soziale Ungleichheit
über die letzten 15 Jahre dramatisch zugenommen, was die sich ausweitende
Bildungskluft zwischen Reich und Arm erklärt. Diesem sozialpolitischen
Problem kommen auch die ausgeklügeltsten Bildungsreformen nicht bei.

- Eine Organisation wie die OECD- wie jede Organisation, die das Leben
unserer Ge sellschaften tiefgreifend beeinflusst- sollte von den Mitgliedern
dieser Gesellschaften demokratisch zur Rechenschaft gezogen werden können.

Doch wir schreiben nicht nur, um Mängel und Probleme aufzuzeigen. Wir
möchten ebenso konstruktive Ideen und Vorschläge anbieten, die dazu
beitragen können, die oben angeführten Probleme zu verringern. Ohne Anspruch
auf Vollständigkeit nennen wir die Folgenden:

- Alternativen zu Ranglisten: Es sind aussagekräftigere und weniger
sensationsheischende Wege für Bildungsvergleiche zu finden. Es macht zum
Beispiel weder pädagogischen noch politischen Sinn, Entwicklungsländer, in
denen 15Jährige regelmäßig zur Kinderarbeit verpflichtet werden, mit Ländern
der Ersten Welt zu vergleichen. Zudem setzt dies die OECD dem Vorwurf des
Bildungskolonialismus aus;

- Partizipation aller relevanten Akteure: Bis jetzt haben Psychometriker,
Statistiker und Ökonomen den größten Einfluss auf Testkonzeption und
durchführung. Ihnen steht sicher ein Platz am Tisch zu. Dies gilt aber auch
für Eltern, Pädagogen, Vertreter der Bildungsverwaltung, Studenten und
Schüler ebenso wie für Wissenschaftler aus Disziplinen wie der
Anthropologie, Soziologie, Geschichte, Philosophie, Linguistik wie auch der
Kunst und den Geisteswissenschaften. Woran und wie wir die Bildung von
15jährigen Schülern bemessen, sollte Gegenstand von Diskussionen sein, bei
denen alle diese Gruppen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene
einbezogen sind.

- Einbeziehung der vollen Bandbreite nationaler und internationaler
Organisationen: Insbesondere Organisationen, deren Auftrag über den
ökonomischen Aspekt öffentlicher Bildung hinausgeht und die sich mit
Gesundheit, umfassender Entwicklung, Wohlbefinden und Glück der Schüler und
Lehrer beschäftigen. Das würde sowohl die oben erwähnten Organisationen der
Vereinten Nationen als auch - um nur einige zu nennen - Verbände von
Lehrern, Eltern und Schulverwaltungen miteinschließen.

- Kostentransparenz: Die direkten und indirekten Kosten der Durchführung von
PISA sollten veröffentlicht werden, so dass die Steuerzahler der
Mitgliedstaaten alternative Verwendungen der Millionenausgaben für diese
Tests erwägen und bestimmen können, ob sie weiterhin an diesen Tests
teilnehmen wollen.

- Unabhängige Aufsicht und Überwachung: Unabhängige internationale
Beobachterteams sollten die Durchführung von PISA von der Konzeption bis zur
Umsetzung überwachen, so dass häufig geäußerte Kritik bezüglich Testformat,
Statistikund Auswertungsmethoden angemessen diskutiert werden kann und
Vorwürfe von Einseitigkeit und unfairen Vergleichen geprüft werden können.

- Rechenschaftslegung und Interessenkonflikte: Es sollte detailliert
Rechenschaft über die Rolle privater, profitorientierter Unternehmen in der
Vorbereitung, Ausführung und Nachfolge von PISA abgelegt werden, um
scheinbare oder tatsächliche Interessenkonflikte zu vermeiden.

- Besinnungspause: Die OECDTestmaschinerie sollte heruntergefahren werden.
Um Zeit für die Diskussion der hier erwähnten Aspekte auf lokaler,
nationaler und internationaler Ebene zu gewinnen, wäre es nützlich, den
nächsten PISA-Zyklus auszusetzen. Das würde Zeit verschaffen, um das
Gelernte, das aus den vorgeschlagenen Überlegungen hervorgeht, zu
verarbeiten.

Wir zweifeln nicht, dass die PISA-Experten der OECD den aufrichtigen Wunsch
haben, Bildung zu verbessern. Aber wir können nicht verstehen, wie die OECD
zum globalen Schiedsrichter über Mittel und Ziele von Bildung in der ganzen
Welt werden konnte. Die enge Ausrichtung der OECD auf standardisierte Tests
droht Lernen in Pedanterie zu verwandeln und Freude am Lernen zu beenden.
Durch den von PISA stimulierten internationalen Wettlauf um Testergebnisse
hat die OECD die Macht erhalten, weltweit Bildungspolitik zu bestimmen, ohne
jede Debatte über die Notwendigkeit oder Begrenztheit der OECD-Ziele. Durch
das Messen einer großen Vielfalt von Bildungstraditionen und -kulturen mit
einem engen und einseitigen Maßstab kann am Ende unseren Schulen und unseren
Schülern irreparabler Schaden zugefügt werden.

Erstunterzeichnende:

Heinz-Dieter Meyer, State University of New York

Katie Zahedi, Schulleiterin, Linden Avenue Middle School, Red Hook, New York

*

Dies ist eine autorisierte Fassung von "Open Letter to Andreas Schleicher";
Übersetzung: Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V.





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