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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 4. Juni 2014; 03:14
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International:

> Reminiszenzen und Wirklichkeiten

Vietnam-Tagebuch von Hermann Dworczak

Wie jedes Jahr nehme ich an der Jahreskonferenz der "World Association for
Political Economy" (WAPE) teil. Heuer findet sie in Hanoi statt. Eine
Gelegenheit endlich das Land kennenzulernen, dessen Befreiungskampf für
meine politische Prägung enorm wichtig war.

Das Thema der WAPE-Konferenz (24./25.Mai) ist "Growth, Development and
Social Justice". Ich werde am Sonntag darüber referieren, dass der
(neoliberale) Kapitalismus nicht imstande ist, nachhaltiges Wachstum zu
schaffen - geschweige denn "soziale Gerechtigkeit", und welche
Schlussfolgerungen die Linke daraus ziehen sollte. Josef Baum wird ebenfalls
referieren. Da es erst in einigen Tagen losgeht, benütze ich die Zeit, um
mich mit dem Leben der Menschen hier vertraut zu machen.

Mythen, dass Hanoi eine "graue" Stadt wäre, entpuppen sich bald als purer
Unsinn. Im Gegenteil: das viele Grün fällt auf - zumindest in den zentralen
Stadtteilen. Die sprichwörtliche Freundlichkeit der VietnamesInnen erlebe
ich bereits am ersten Tag: schon im Flugzeug erklärt man/frau mir genau, wie
ich zur Vietnamesischen Akademie der Sozialwissenschaften (VASS), dem
Tagungsort komme. Als sich herausstellt, dass ich am Flughafen zu wenig Geld
gewechselt habe, um zu einem Freund zu fahren, nehmen mich StudentInnen der
VASS mit ihrem Taxi ein Stück mit und ich brauche nur die Reststrecke
bezahlen...

Was in Hanoi auffällt, ist das Verkehrs-Tohuwabohu: Kolonnen von
MopedfahrerInnen sind unterwegs - nicht wenige mit Atemschutz! RadfahreInnen
sehe ich hingegen kaum. Hanoi hat bis jetzt keine Metro - an einer
Schnellbahn auf Stelzen wird gebaut. Ich sehe bislang keine Bim, recht wenig
öffentliche Busse und die vorhandenen sind ziemlich veraltet. Bei der
enormen Hitze (tagsüber 35 Grad und mehr) sind sie ein wahrer Backofen.
FussgängerInnen sind nahezu Freiwild. Nur wer zügig die Strassen überquert,
kommt heil davon. Obwohl Hanoi von den Amis stark bombardiert wurde, ist von
den Zerstörungen nichts mehr zu sehen, die Vielzahl renovierter Häuser aus
der - französischen - Kolonialzeit sticht ins Auge.

Das Leben ist nach den "Wirtschaftsreformen" von 1986 ("doi moi",
"Erneuerung") extrem kommerzialisiert. Der Befreiungskampf ist passé. Was
heute zählt ist "Konsum". Ein kleines Beispiel: ich versuche mit einem
Taxler zu plaudern - das Einzige, was ihn wirklich interessiert, ist der
Preis des Ringes an meiner Hand.

Die Konferenz wird von der Vietnamesischen und der Chinesischen Akademie der
Wissenschaften veranstaltet. Angesichts der aktuellen "Spannungen" zwischen
den beiden Ländern dachte ich, dass es eine "diplomatische Ausblendung" der
Konflikte auf der Tagung geben würde. Aber nein: sie werden Thema sein, das
kann spannend werden!

Die Stadt Hanoi

Wie in vielen Städten müssen auch hier alte Bauten, intakte und schöne,
neuen weichen. Ich wohne im Gästehaus der Vietnamesischen Akademie der
Sozialwissenschaften (VASS) im Stadteil Ba Dinh. Direkt vor meiner Nase
entsteht ein Luxustempel für Büros, Geschäfte und Wohnungen für die
"Oberen". Um 17h erlebe ich wie die ArbeiterInnen die Baustelle verlassen.
Fast alle sind extrem jung, darunter viele Frauen. Der Lohn der
"durchschnittlichen Arbeitenden" liegt bei rund 3 Millionen Dong, das sind
etwa 100 Euro.

Die krassen sozialen Gegensätze zeigen sich bald: Luxusburgen auf der einen
Seite und die triste Lage von vor allem älteren Menschen, die zum Teil noch
den traditionellen Strohhut tragen. Sie haben etwa am Strassenrand kleine
Verpflegungs-Standln oder sammeln Dosen und Papier ein. Mir fällt auf, dass
kleine private Geschäfte oft personell überbesetzt sind oder Leute einfach
"herumstehen".

Die Konferenz

Unter großer Hitze begann die WAPE-Konferenz. Das Generalthema lautet
"Wachstum, Entwicklung, soziale Gerechtigkeit" mit rund 120 TeilnehmerInnen:
40 aus Vietnam, 80 aus anderen Ländern.

Prof. Cheng Enfu von der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften und
Präsident der WAPE leitete mit einem Vortrag zu einer genaueren,
qualitativen Bewertung des Gesellschaftsprodukts ein - also eine
weitergehende Definition als das traditionelle BIP. Michael Lebowitz aus
Kanada analysierte den widersprüchlichen Charakter der Entwicklung der
Produktivkräfte unter kapitalistischen Bedingungen: Hand in Hand erfolgt die
"Hervorbringung und Destruktion menschlicher Fähigkeiten". Patrick Bond aus
Südafrika warnte vor eine Idealisierung der ökonomischen Fortschritte der
BRIC-Staaten und optierte für weltweiten "rot-grünen Widerstand gegen das
drohende globale Apartheid-System".

V.K. Ramchandran aus Indien lieferte ein erschütterndes Bild der Lage der
Bauernschaft in seinem Land. 100 Millionen Menschen leben in extremster
Armut und das bei sinkenden Einkommen! Radhika Desai (Kanada) verwies in
ihrem Beitrag auf die bahnbrechende Rolle von Ernest Mandels Buch
"Spätkapitalismus".

Von den Arbeitskreisen am Nachmittag besuchte ich den über "Klimawandel und
nachhaltige Entwicklung". Mehrere RednerInnen unterstrichen die kritische
Haltung von Marx in Umweltfragen - nicht nur in den "Frühschriften", sondern
ebenso und fundierter im "Kapital". Josef Baum aus Österreich lieferte einen
dichten Beitrag zu "Reindustrialisierung und Energie in Europa und USA: Sind
billige fossile Brennstoffe komparative Vorteile?".

Auch der 2. und letzte Konferenztag brachte spannende Beiträge und Debatten.
Am Vormittag referierte ich selbst im Arbeitskreis "Entwicklung des
gegenwärtigen Kapitalismus " zu dem Thema "Neoliberal capitalism cannot
produce sustainable growth - Not to speak of social justice. What answers of
the left are necessary?" Im Anschluss daran entwickelte sich eine lebendige
Diskussion, wie sich Linke gegenüber Bewegungen wie occupy, den
"Unzufriedenen " in Spanien etc. - angesichts ihrer offenkundigen
politischen Defizite - verhalten soll: nur von außen kritisieren oder aktiv
in ihnen zu wirken und so kritisch-solidarisch mitzuhelfen, ihre Schranken
zu überwinden? Logo, dass ich für die zweite Variante optierte.

Die Vietnam-China-Debatte fand doch anders statt. Es gab einen
Meinungsaustausch auf Vietnamesisch und Chinesisch und von chinesischer
Seite soll ein "Text" verfasst werden. Das wars.

In dem Arbeitskreis " Entwicklung des gegenwärtigen Sozialismus" referierte
David M. Kotz aus den USA über "Capitalism, economic crisis and socialism:
The prospects for a transition to socialism in the developed capitalist
countries". Er skizzierte 3 künftige Entwicklungmöglichkeiten: Fortsetzung
des aktuellen neoliberalen Modells; eine neokeynesianische /
"sozialdemokratische" Variante; unterschiedliche sozialistische Ansätze. Auf
die Frage, ob die Variante 2 zum gegenwärtigen Zeitpunkt Realität werden
könnte, gab er eine klare Nein-Antwort: "Aber wenn es starke
ArbeiterInnenkämpfe geben sollte, könnte eine "Kompromiss"-Variante für das
Kapital wieder von Interesse sein".

Kotz berichtete auch von einem gewissen Umdenkprozess in den USA - v.a.
unter jungen Menschen unter 30. "Nach dem Ausbruch der Krise 2008 zeigen
Meinungsumfragen, dass bei den Jüngeren der Sozialismus wieder attraktiv zu
werden beginnt. 30 und mehr Prozent sehen in ihm eine positive Alternative
zum Kapitalismus". Mit dem Singen der "Internationale" endete die Tagung.
Die nächste WAPE-Konferenz wird im Juni 2015 in Durban, Südafrika
stattfinden.

Museums- und andere Eindrücke

Es ist unmöglich als Linker in Vietnam zu sein und sich nicht eingehend mit
seiner Geschichte zu beschäftigen. Auch für viele TagungsteilnehmerInnen war
die Solidarität mit dem Befreiungskampf der VietnamesInnen ein zentrales
Element in ihrem Leben.

Das Ho Chi Minh Museum überrascht durch seine moderne Gestaltung: Das Wirken
des grossen Revolutionärs (geboren 1890) ist eingebettet in den
internationalen Freiheitskampf des Proletariats und aller "Verdammten dieser
Erde". Ho Chi Minh war nach dem Verlassen Vietnams Mitglied der
Sozialistischen Partei Frankreichs, und gehörte zu jenen, die sich nach dem
Parteitag in Tours 1920 für den kommunistischen Weg entschliessen. Er sprach
mehrere Spachen fliessend- darunter Chinesisch, Russisch, Englisch und
Französisch, und besuchte etliche Länder Afrikas, die USA, Grossbritannien,
die Sowjetunion, China und, und, und..

Die Ausstellung informiert über die verschiedenen Etappen des Kampfes gegen
die Kolonialmacht Frankreich (Ho Chi Minh kehrte 1941 nach Vietnam zurück)
bzw. die USA. Die Ausstellung gibt der internationalen Solidarität breiten
Raum: Ich sehe Bilder, die mich an den Vietnam-Kongress 1967 in Berlin oder
an die Demos in Wien und Innsbruck ("Sieg dem Vietcong!") erinnern.

Da die vietnamesischen OrganisatorInnen der Konferenz in Arbeit untergehen,
hatte ich wenig Möglichkeit ein "wissenschaftliches" Gespräch über die
soziale, ökonomische und politische Situation im Land zu führen. Ich bin
nach wie vor auf persönliche Eindrücke und diverse Gespräche angewiesen.

Hanoi ist eine aufstrebende, "sich entwickelnde" Stadt. Hochhäuser schiessen
in die Höhe. Das kulturelle Angebot ist breit: von Rock bis Klassik -
derzeit etwa spielt die Vietnamesische Philharmonie Tschaikowskis
Violinkonzert und Mahlers 1.Symphonie. Wie es mit einem nachhaltigen
städtischen Entwicklungskonzept ausssieht, kann ich nicht beurteilen. Von
den enormen Problemen mit dem Individualverkehr profitieren Multis wie
Honda. Der starke Zuzug vom Land und die damit verbundenen Probleme fallen
auf. Aber auch im Kernbereich Hanois gibt es echte Armutszonen. Gleich in
der Nähe der VASS, wo sich auch die festungsartige japanische Botschaft
befindet, ist die Van Phuc Strasse. Ich gehe drei, vier Häuserblocks
entlang - ein schickes Cafehaus nach dem anderen. Plötzlich reisst der
"Fortschritt" ab und ich glaube mich in eine lateinamerikanische favela
versetzt zu sehen: Häuser, fast Hütten in erbärmlichem Zustand, dazwischen
ein offener übelriechender Kanal.

Wie es nach den "Wirtschaftsreformen" 1986 mit den Privatisierungen
aussieht, ist nicht klar. Von China weiss ich, dass dort der Staat
"strategische ökonomische Sektoren" und die 4 grössten Banken kontrolliert
und massiv reguliert. Auf meine Frage, ob das auch hier so sei, kommen
widersprüchliche Antworten: von "Hier ist fast alles privat" bis zu
differenzierter "mit ausländischen Beteiligungen" etwa beim 5 Sterne Hotel -
also joint ventures wie in Cuba.

Korruption ist weit verbreitet. Ausländische Firmen schmieren kräftig,
"damit etwas weitergeht". Das hängt auch damit zusammen, dass die Einkommen
der vietnamesischen PartnerInnen extrem niedrig sind. Ein Kenner der Lage
gibt ein Beispiel: "Mein vietnamesisches hochrangiges Gegenüber verdient
monatlich vielleicht 1000 Dollar - mein Assistant hingegen hat 3000".

Von Regierungsseite gibt es Kampagnen und einzelne abschreckende Massnahmen
gegen die Korruption (inklusive Todesurteile), die jedoch keine
grundsätzliche Veränderung bewirken: Korruption ist bekanntlich eine
Folgeerscheinung, sie kommt von oben, ist systeminhärent.

Resumee

Nach 2 gewonnen antiimperialistischen Kriegen hat Vietnam 1954 bzw. nach der
Wiedervereinigung 1975 mit einer sozialistischen Transformation begonnnen.
Was ist davon übriggeblieben?

Der Freiheitskampf hat gigantische Opfer gefordert an Menschen und
Sachgütern. Von der Sowjetunion wurde nach den militärischen Siegen ein
starres zentralistisches Modell übernommen. 1986 setzte doi moi ein, unter
bei Beibehaltung der straffen Einparteien-Herrschaft. Die Reformen haben
ohne Zweifel beträchtliche Erfolge gebracht: wesentliche Steigerung des
Bruttosozialprodukts, jährliche Wachstumsraten zwischen 5 und 9 Prozent,
Fortschreiten der Industrialisierung und Modernisierung, Entwicklung des
Tourismus, der heute Devisenbringer Nr.1 ist, etc.

Aber das Negative ist nicht zu übersehen:

- Das "individualistische" Konsummodell des Westens wurde unkritisch
übernommen, mit den bekannten sozialen und ökologischen Folgen. "Mehr
Konsum" gilt als zentraler Orientierungspunkt. Die Jugend ist extrem
entpolitisiert. Es war der uralte "Napoleon" Giap, der geniale Stratege von
Dien Bien Phu (er starb vor kurzem als 103jähriger), der vor diesen
Entwickungen und der überbordenden Korruption warnte.

- Staatliche Aufgaben wurden stark reduziert. Selbst bei Erziehung heisst es
oft: "Es ist kein Geld da". Lehrer bekommen monatlich nicht viel mehr als
umgerechnet 100 Euro; die öffentliche Ausbildung ist nicht durchgängig
gratis - immer wieder muss von den Eltern zugeschossen werden Eine Mutter
rechnet mir vor: "Eine Familie mit 2 Kindern und einem monatlichen Einkommen
von 5 Millionen Dong muss rund 2 Millionen Dong für die Erziehung der Kinder
ausgeben" (2 Millionen Dong sind grob gerechnet 70 Euro).

- Frauen sind trotz weitgehender rechtlicher Gleichstellung oft in einer
prekären Lage. Zusätzlich wirken jede Menge traditioneller Verhaltensmuster
und patriarchalischer Strukturen hemmend.

Auch ein erstes moderates Resumee einer 12tägigen Reise kommt um den
Tatbestand nicht herum, dass in Vietnam ähnlich wie in China die letzten
Marksteine einer Entwicklung in Richtung Sozialismus zu erodieren drohen.
Hoffnung ist nur "von unten" zu erwarten: wenn die latente Kritik öffentlich
wird und sich auf die revolutionären Traditionen des Landes besinnt. ###



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