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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 19. März 2014; 16:19
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Justiz/Fremd:

> Zugfahren als Straftat

Am Montag begann der "Schlepperei-Prozeß" im Landesgericht Wiener
Neustadt
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"(1) Wer die rechtswidrige Einreise oder Durchreise eines Fremden in
oder durch einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder
Nachbarstaat Österreichs mit dem Vorsatz fördert, sich ... zu
bereichern, ist vom Gericht mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren zu
bestrafen. ...
(4) Wer die Tat nach Abs. 1 als Mitglied einer kriminellen Vereinigung
... begeht, ist vom Gericht mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn
Jahren zu bestrafen."
(§114 Fremdenpolizeigesetz)
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Seit Sommer 2013 sind 8 Personen von einem Gerichtsverfahren bedroht,
bei dem ihnen vorgeworfen werden soll, 278 Menschen zur illegalen
Einreise nach Österreich verholfen zu haben. Die Mithilfe der
Angeklagten bestand laut Gericht unter anderem darin, die Personen bei
einer Zugfahrt von Budapest nach Österreich begleitet zu haben.

Am 17. März 2014 wurde in Wiener Neustadt der erste Tag des
sogenannten "Fluchthilfeprozesses" beschritten. Wieder einmal versucht
Österreichs Justiz eine kriminelle Vereinigung zu konstruieren und
wieder sind dabei Angeklagte Protagonisten einer Protestbewegung.
Diesmal handelt es sich teilweise um Flüchtlinge, die im Dezember 2012
die Votivkirche besetzt hatten. Im Sommer 2013 waren die jetzt acht
Beschuldigten verhaftet worden. Nur zwei von ihnen wurden Anfang 2014
aus der U-Haft entlassen, die anderen sechs sind immer noch in Haft.

Der Verhandlungstag beginnt mit dem üblichen Prozedere: Auf dem Podium
über dem ein riesiger "Bundesadler" prangt, nehmen die Richterin, die
Schöff'innen, Protokollant'innen und Dolmetscher'innen Platz. Mit am
Podium ist das obligatorische Kruzifix. Ein Blitzlichtgewitter
empfängt die Angeklagten, die in Handschellen und Polizeispalier in
den Saal gebracht werden. Sie versuchen ihr Gesicht zu verbergen, doch
erst nach der Aufforderung der Richterin verlassen die Kameraleute den
Saal.

Die Publikumsreihen sind voll. Zahlreiche Unterstützer'innen befinden
sich im Gerichtssaal um den Prozess solidarisch zu beobachten. Auch
draußen vor dem Gerichtsgebäude findet eine Kundgebung statt, deren
solidarische Botschaften auch immer wieder im Saal zu hören sind.

Bereits zu Beginn des Prozesses ist zu hören, dass der einzige
beeidete Punjabi-Dolmetscher am Verhandlungstag verhindert war,
weshalb ein anderer Dolmetscher hinzugezogen werden musste.

Die Anklage

Dann beginnt die Staatsanwältin mit dem Verlesen der Anklageschrift.
Im Zuge ihres Plädoyers behauptet sie, dass das hier ein Prozess gegen
"Schlepper" sei, nicht pauschal gegen Flüchtlinge. Schutzzweck des
"Schlepperei"-Paragraphen 114 Fremdenpolizeigesetz sei es, Flüchtlinge
vor den Machenschaften der "Schlepper" zu schützen. Sie behauptet,
"dass sich Flüchtlinge den Schleppern vollkommen ausliefern und ihr
ganzes Geld den Schleppern geben müssen." Außerdem spricht sie von
einer angeblich "durchgeplanten Tatbegehung" der von ihr behaupteten
"kriminellen Vereinigung". Ihr Gerede vom "Schutzzweck" des §114 FPG
und die Pauschalaussagen über die angebliche Boshaftigkeit von
"Schleppern" wird von entrüsten Zwischenrufe aus dem Publikuum
begleitet (z.B.: "Die Grenzen sind das Problem"). Die Richterin
reagiert mit der Drohung, die Verhandlung unter Ausschluss der
Öffentlichkeit weiterzuführen, sollte nicht Ruhe einkehren.

Aus der Erstvernehmung der Angeklagten ging hervor, dass viele ihren
Lebensunterhalt mit Zeitungszustellung oder Zeitungsverkauf bestritten
haben. Um nach Österreich zu kommen, mussten sie das Vermögen in ihrem
Heimatland aufgeben.

Der Vorwurf der nun im Raum steht, ist, dass sich die Angeklagten
durch Schlepperei einen fortlaufenden Lebensunterhalt verschafft und
zu diesem Zweck eine kriminelle Vereinigung bebildet hätten. Konkret
wird den Angeklagten dabei angelastet, dass sie illegale Flüchtlinge
mit dem Zug von Budapest abgeholt und nach Wien bzw Traiskirchen
begleitet hätten.

Auch "Schleppungen" innerhalb von Österreich, sowie die Unterbringung
von "Geschleppten" sind dabei teilweise Gegenstand der Verhandlungen.

Seltsamer Paragraph

Lennart Binder, Verteidiger des Erstangeklagten, bezeichnete die
Anklageschrift als "eine grandiose Themenverfehlung". Seinen
Einschätzungen zu Folge solle hier die Flüchtlingsbewegung, die von
Traiskirchen nach Wien marschiert ist um dort im Sigmund-Freud-Park zu
übernachten, kriminalisiert werden. Der "Schleppereiparagraph" sei für
ihn ein Fall für ein Gesetzesprüfungsverfahren.

Der Verteidiger des Zweitangeklagten, Stefan Traxler, sprach der
Polizei in diesem Akt sein vollstes Mißtrauen aus. Der Umsatz der
vermeintlich kriminellen Vereinigung wurde von den ermittelnden
Beamten lediglich aufgrund von Erfahrungen geschätzt. Da andere
Schlepper 150 bis 200 Euro bekommen haben sollen, werde dies auch bei
den Angeklagten angenommen. (So kam der von der Polizei kolportierte
Umsatz von "mindestens drei Millionen Euro" zu Stande.)

Josef Phillip Bischof, Verteidiger des Sechstangeklagten, der bei
Schleppereiprozessen schon Erfahrung hat, meinte, dieser Prozesse wäre
anders. Es sei erkennbar, dass hier umfangreiche Observationen auf
Grund der Flüchtlingsproteste vorgenommen worden seien, die zu der
Anklage nach §114, FPG führten. Er kritisierte, dass der fraglichen
Paragraf -- der in den letzten Jahren mehrfach verschärft wurde --
nicht eine Schädigung von Leib, Leben oder Vermögen unter Strafe
stellt, sondern vielmehr eine Hilfestellung.

Einen wichtigen Aspekt betonte der Verteidiger des Siebtangeklagten,
als er zu beachten gab, dass es sich bei der neuen Fassung des §114
FPG um ein relativ junges Gesetz handle, dass erst mit Leben gefüllt
werden müsse. Der Verteidiger des Sechstangeklagten dazu: "Was ist das
Fördern von illegaler Einreise? Das ist ein sehr weiter Begriff. Vor
15 Jahren war die Schlepperei eine Verwaltungsübertretung wie
Falschparken. Jetzt sitzen wir vor einem Schöffengericht und reden von
bis zu 10 Jahren Haft." (Judikatur ist noch wenig vorhanden. Die
jetzige Rechtssprechung wird zukünftig eine Richtlinie für die
zukünftige Urteilsfindung sein. Die Frage ist: Welches Ausmaß von
Hilfe und Entschädigung ist erlaubt und welches verboten.)

Deckname "Herr"

Nach der Mittagspause wurde damit begonnen, die einzelnen Protokolle
der Telefonüberwachung zu verlesen und teilweise den Originalton
vorzuspielen. Sie enthielten Gespräche über verschiedene
"Geschleppte", deren Ankunft und weitere Verbringung. Es handelt sich
dabei größtenteils um Landsleute der Angeklagten, ein besonderer
Organisationsgrad ist dabei nicht ersichtlich. Teilweise ist nicht
einmal klar, ob es sich in den Telefongesprächen immer um die selben
Personen handelt, wenn zB von Pathan oder Mitr die Rede ist. Als Mitr
(das bedeutet "Herr") bezeichnen Pakistanis Menschen, die aus Indien
stammen. Pathan ist die Bezeichnung für jene Menschen, die aus
Afghanistan sind. Die Staatsanwaltschaft hatte aus diesen
Bezeichnungen Decknamen für die verschiedenen Angeklagten
herbeiphantasiert.

Der Prozeß wurde auf Mittwoch vertagt.
(postcore/solidarityagainstrepression/akin)

*

Zur genaueren Lektüre des Inhalts der heutigen Verhandlung empfehlen
wir den Liveticker von Maria Sterkl auf
http://derstandard.at/1392688328980/

Auch http://solidarityagainstrepression.noblogs.org/ berichtet von den
einzelnen Prozeßtagen. Dort finden sich weiters laufend die neuen
Termine der jeweils bereits angesetzten Prozeßtage sowie von
Solidaritätsaktionen.

Termin: 22. März: Solidaritätsbrunch - organisiert vom Kollektiv
'solikatessen', 11-15 Uhr {AT} café gagarin, Garnisongasse 24, 1090 Wien



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