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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 8. Jänner 2014; 09:42
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Staatsgewalt/BRD:

> Hanseatische Demokratie

Die deutsche Polizei fürchtet sich vor ihren Bürgern. Einstweilen
wandelt die Hamburger SPD zaghaft auf Ronald Schills Spuren.
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Jetzt wird in Deutschland schon über Schußwaffengebrauch in der
politischen Auseinandersetzung gesprochen. Von beiden Seiten: Sowohl
ein Polizeigewerkschafter läßt verlautbaren, daß die Beamten bei der
nächsten Auseinandersetzung vielleicht schießen müßten, als auch ist
beinahe wortgleich derlei auf Indymedia als Statement linker
Aktivisten nachzulesen. Der einzige Unterschied: Die Urheberschaft des
Polizeistatements ist belegt, der Eintrag auf Indymedia könnte von
irgendjemand stammen.

Der Hintergrund sind gewalttätige Auseinandersetzungen auf Hamburgs
Straßen. Politisch ging es ursprünglich um eine Gruppe Flüchtlinge,
die abgeschoben werden sollen, sowie die geplanten Räumungen von
Spekulationsobjekten namens "Esso-Häuser" und des autonomen
Kulturzentrums "Rote Flora" -- das offiziell in Privateigentum, aber
seit 1989 besetzt ist.

Am 20.Dezember hätte eine große Demo zu diesen drei Themen stattfinden
sollen. Doch die Polizei machte im Vorfeld Bürgerkriegsstimmungen,
verbreitete Hysterie und verhängte Sperrzonen im traditionellen
Rebellenviertel zwischen St.Pauli und Altona. Ein bisserl Randale
bekam sie dann auch schon am Abend vor der Demo: Nach einem
Fußballspiel von St.Pauli mischte die Polizei die traditionell
linksorientierten Fans des Klubs auf, worauf Steine auf das zentrale
Kommissariat Davidwache flogen. Am Demotag selbst wurde die Demo
gleich mal am Abmarschieren gehindert -- und die Situation eskalierte
derart, daß auch in Österreich darüber breit berichtet wurde.

Am 28.Dezember kam es angeblich bei einem weiteren Angriff auf die
Davidwache zur Verletzung eines Polizisten. Allerdings gibt es für
diese Geschichte außer Polizeiaussagen genau gar keinen Beleg. Nachdem
massive Zweifel an diesen Behauptungen aufgetaucht sind, hat die
Polizei mittlerweile ein Stück zurückgerudert: Nein, der Polizist sei
anderswo verletzt worden, aber passiert sei es doch, und den Angriff
auf die Polizeistation hätte es auch gegeben. Was aber nichts daran
ändert, daß alle Behauptungen nach wie vor nur Polizeistellungnahmen
sind.

Nichtsdestotrotz nahm die Hamburger Polizei dies zum Anlaß ein
großräumiges Gebiet am Hafen jetzt neuerlich, aber nun auf unbestimmte
Zeit zur "Gefahrenzone" zu erklären. In einer solchen gelten
Bürgerrechte nach der Gesetzgebung noch aus der Zeit der CDU-Regierung
nicht sehr viel. Dort darf die Polizei verdachtsunabhängig und völlig
willkürlich Menschen durchsuchen, Platzverweise aussprechen und
Menschen in Gewahrsam nehmen. Und sie nutzt diese Rechte intensiv:
Seit Samstag gilt die Sonderzone. Eine völlig friedliche Demo am
Sonntag gegen deren Verhängung wurde sofort unterbunden und mit 270
Personenkontrollen, 70 Platzverweisen und 40 Festnahmen beantwortet.


Erinnerungen an Ronald Schill

Währenddessen tut die Hamburger Regierungspolitik ein wenig so, als
ginge sie das alles gar nichts an. Hamburg hat seit 2011 eine
SPD-Alleinregierung und in Deutschland ist die Polizei Ländersache.
Spätestens 2015 sind wieder Bürgerschaftswahlen. Die Berichterstattung
erwähnt nur eher selten den politisch verantwortlichen Innensenator
Michael Neumann, hauptsächlich werden Polizeistellen zitiert Und
während in Berlin der neue Bundesjustizminister von der SPD sich
vollmundig im Zusammenhang mit der Vorratsdatenspeicherung um
Bürgerrechte sorgt, läßt sein Parteikollege in der Hansestadt von der
Polizei über ein Wohngebiet von 50.000 Menschen eine Art
Ausnahmzustand light verhängen -- und muß sich nun u.a. von der
"Süddeutschen" Vergleiche mit Ronald Schill gefallen lassen. Schill
hatte in einer Koalition aus CDU, FDP und seiner eigenen "Partei
Rechtsstaatlicher Offensive" das Amt des Innensenators innegehabt und
sogar international für Aufsehen für seine rassistische und
Law-and-Order-orientierte Politik gesorgt. Die Pointe dabei: Schills
wichtigster Gegenspieler auf Seiten der damals oppositionellen
Hamburger SPD war eben Neumann gewesen. Der Unterschied zwischen den
beiden Politikern ist allerdings immer noch deutlich zu sehen: Während
Schill die Polizei zu Eskalationen trieb, scheint zumindest in der
öffentlichen Darstellung Neumann eher ein von der Polizei Getriebener
zu sein.

Selbst die bürgerlichen Medien sind sich nicht mehr so ganz sicher, ob
die Polizei noch so wirklich unter einer Kontrolle der offiziellen
Politik steht und ob die maßgeblichen Beamten noch alle Tassen im
Schrank haben. Lange Zeit beschränkte sich die "Hamburger Morgenpost"
auf die Wiedergabe der Polizeistellungnahmen, seit Verhängung der
Gefahrengebietszone kann man dort auch Stellungnahmen von Bewohnern
und Besuchern des Gebiets nachlesen, die sich fragen, ob es denn
wirklich notwendig sei, durchsucht zu werden, wenn man mal kurz einen
Kaffee trinken gehen möchte. Und während "Die Welt" am 6.Jänner einen
Kommentar mit dem Titel "Dieser linke Aktivismus ist kriminell"
herausbrachte, konnte man anderswo ganz andere Töne hören. In einem
Kommentar nach der Demo am 20.Dezember war zu lesen: "Zum besseren
Verständnis der Exzesse sei angemerkt, dass es nun einmal - und diese
schlichte Wahrheit traut sich so gut wie kein Politiker anzusprechen,
weil er sich dann die Gewerkschaften der Polizei zum Feind macht -
auch unter den Beamten Menschen gibt, die bewusst Gewalt suchen.
Hooligans in Uniform, wenn man so will. Jeder, der öfter als einmal im
Jahr auf eine Demonstration geht, weiß das. Es gibt
Einsatzhundertschaften, die berüchtigt sind für ihren dünnen
Geduldsfaden. Das ist kein Generalverdacht gegen die Polizei, sondern
eine nüchterne Feststellung, die zur Wahrheit dazu gehört. ... Zur
Wahrheit gehört auch, dass die Medien oft nur sehr einseitig
berichten. Der Polizeisprecher ist meist die erste und leider manchmal
sogar die einzige Quelle, wenn es darum geht, die Bilanz des Tages zu
ziehen. ... Zur Wahrheit gehört auch, dass die Polizei ein politischer
Akteur ist. Sie sollte das eigentlich nicht sein, es ist nicht so
vorgesehen in der deutschen Gewaltenteilung. Sie sollte bestehende
Gesetze sichern. Sie tut mehr. Sie verfügt über den Notstand. Im
Vorfeld der Demonstration hat sie ein 'Gefahrengebiet' erlassen. Die
Polizei darf in so einem Gebiet verdachtsunabhängig kontrollieren,
Platzverweise erteilen, Menschen in Gewahrsam nehmen. Nochmal: Die
Polizei selbst gibt sich diese Rechte. Kein Gericht. ... Indem die
Polizei in personam des notorischen Rainer Wendt, Vorsitzender der
Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), immer wieder Demonstranten --
sei es in Hamburg, sei es bei Protesten gegen Castor-Transporte -- als
Chaoten diffamiert, bringt sie sich automatisch in eine Gegenposition.
Politische Neutralität? Fehlanzeige. Das führt dazu, dass die linke
Bewegung die Polizei als einen Feind wahrnimmt." -- Das Bemerkenswerte
an dieser Analyse: Sie stammt nicht aus der "taz", der "jungen Welt"
oder dem "Neuen Deutschland", sondern von der Homepage des RTL-eigenen
Nachrichtensenders "N-TV".


Langzeitdebatte

Doch die jetzige Hamburger Aufregung über die arme Polizei, die sich
doch wehren müsse, ist die Eskalation einer Debatte, die in
Deutschland bundesweit schon seit Jahren läuft. Das große Wort führen
dabei die beiden Polizeigewerkschaften GdP und DPolG -- möglicherweise
auch, weil sie in Konkurrenz zueinanderstehen und sich in
mitgliederwerbenden Übertreibungen gegenseitig ausstechen wollen
wollen. Das vermutete zumindest ein Kommentator in der FAZ bereits im
Februar 2013 als Hintergrund: "Als der Leiter des Kriminologischen
Forschungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer, vor drei Jahren
mit einer bundesweit angelegten Studie über Gewalt gegen Polizisten
begann, merkte er bald, was Sache war. Er wollte im Auftrag der
Innenministerkonferenz die teilnehmenden Polizisten sorgfältig
befragen, in alle Richtungen. Offenbar eine Zumutung. Es gab Fragen
zur Selbsteinschätzung, nach dem Herkunftsland der Eltern und danach,
wie man Wut verarbeite. Diese Fragen gefielen der GdP nicht, die die
Studie mitfinanzierte. Doch richtig Ärger gab es erst, als DPolG-Chef
Wendt sich einschaltete. Selbst die von den Forschern entschärfte
Version des Fragebogens ähnele 'mehr einer Täter-Analyse als einer
Opfer-Analyse', klagte die DPolG in einem Rundschreiben. Die DPolG
Südhessen schlug vor, dass doch lieber die Polizei selbst -- in Form
der Hochschule der Polizei -- die Studie über Gewalt gegen sich
durchführen solle."

Doch selbst an dieser Polizeihochschule ist man sich nicht so ganz
sicher, ob die Polizisten wirklich immer die Opfer sind, als die sie
deren Vertreter immer darstellen. Das "Hamburger Abendblatt"
interviewte 2011 den Professor für Polizeiwissenschaften (und
Ex-Polizisten) Rafael Behr: "Ein großes Problem sieht Behr darin, dass
jungen Beamten von Kollegen von Anfang an eingetrichtert werde, dass
sie mit dem Rücken zur Wand stehen. Die Folge: Schon die
Berufsanfänger entwickeln Strategien, die im Fachjargon unter dem
Begriff 'defensive Solidarität' zusammengefasst werden. Der Polizist
stuft die Umgebung von vornherein als feindlich ein. Er kapselt sich
ab, traut nur noch seinen Kollegen, unterscheidet strikt zwischen 'wir',
die Polizisten, und 'sie' - also alle anderen. 'Die Wahrscheinlichkeit
ist hoch, dass der Schutzmann in Konfliktsituationen dann härter
reagiert, als er müsste', sagt Behr. Die Konsequenz: Der Bürger nimmt
den Beamten als unverhältnismäßig ruppig wahr. Es entstehe ein
Spirale, die sich immer weiter nach oben schraube, die Misstrauen
zwischen Beamten und Bürgern schüre." Behrs Resümee: "Die Polizei
jammert zu viel."

Nach Erscheinen des Interviews forderten die Gewerkschaften, Behr
solle an der Hochschule der Polizei nicht mehr unterrichten dürfen.


Polizei statt Politik

Ob mahnende Stimmen in der aufgeheizten Debatte überhaupt noch etwas
bewirken können ist fraglich. Von der neuen CDU-SPD-Bundesregierung
ist auch nicht viel zu hören -- die mischt sich schon wegen der
ausgeprägten Föderalkultur in Deuschland ungern in
Länderangelegenheiten ein und hätte momentan mit einer Einmischung
auch nicht viel zu gewinnen. Doch nach den Eskalationen bei Blockupy
in Frankfurt, den schon länger unerträglichen Entwicklungen in Sachsen
(Stichwort "Sächsische Demokratie") und den jetzigen in Hamburg
tendiert die Bundesrepublik immer mehr zu etwas, was man irgendwann
doch "Polizeistaat" nennen müßte. Noch beschränken sich diese
Tendenzen auf lokale Auseinandersetzungen. Doch je mehr Druck die
Polizei -- mit oder ohne Unterstützung von den zuständigen
Politikern -- aufbaut, desto höher wird auch der Gegendruck. Selbst
wenn man nicht annimmt, daß die Aktionen gegen die Polizei von
beamteten agents provokateurs stammt -- was angesichts der
NSU-Geschichten mittlerweile eine legitime Annahme zu sein scheint --,
wird einer größeren Öffentlichkeit nun klar, daß die Polizei hier ein
politischer Akteur ist und keine reine Sicherheitsbehörde. Ob
wildgewordene Behördenleiter in Zukunft einen demokratisch nicht mehr
kontrollierbaren Machtfaktor darstellen werden, anstatt wie bisher nur
hie und da die Menschenrechte zu ignorieren, bleibt abzuwarten.

Oder vielleicht besser nicht. Denn die Frage ist: Wie kann die
politische Reaktion aussehen? Der N-TV-Kommentar dazu: "Zur Wahrheit
gehört, dass wir vergessen haben -- oder vergessen wollen --, dass
politische Ziele eben oft nur auf der Straße erreicht werden.
Bewundernd beschreiben deutsche Zeitungen in diesen Tagen die
Barrikaden in Kiew, die von ihren Erbauern entschlossen gegen die
Einsatzkräfte verteidigt werden. Mit Gesängen allein geht das nicht.
Die USA und die EU haben übrigens den Polizeieinsatz in Kiew
verurteilt. Als ungerechtfertigt und übermäßig. Es wäre doch eine
schöne Pointe, wenn Wiktor Janukowitsch mal einige Worte zum
Polizeieinsatz an der Roten Flora verlieren würde."
*Bernhard Redl*



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