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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 27. November 2013; 13:47
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Tunesien:

> Nationaler Dialog auf dem Ruecken der Revolution

Analyse des *ArbeiterInnen-Standpunkts*

In Tunesien ist immer was los - nach dem Sturz Ben Alis 2011 und den
darauffolgenden Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung kam es
immer wieder zu grossen Streiks und Demonstrationen - die Mehrheit
davon richtete sich gegen die islamistische Regierungspartei Ennahda.
Sie bekam bei der Wahl 2011 die meisten Stimmen und stellte somit die
Leitung der Versammlung. Jedoch ist sie dem Auftrag der
Tunesier*innen, eine neue Verfassung zu entwerfen und Neuwahlen zu
organisieren bis jetzt nicht nachgekommen.

Die wirtschaftliche Lage des Landes wird immer schlechter; fuer die
Armen werden grundlegende Lebensmittel immer schwerer erschwinglich -
zudem steigt der islamistische Terror gegen Linke und Oppositionelle,
was in den vergangenen Monaten spontane Massendemonstrationen
hervorrief. So im Februar, als Chokri Belaid ermordet wurde, und im
Juli dieses Jahres, als Mohammed Brahmi vor seiner Haustuer auf
dieselbe Art und Weise umkam - er wurde von bewaffneten Maennern auf
einem Motorrad erschossen. Beide Male wurde in der Oeffentlichkeit die
Ennahda dafuer verantwortlich gemacht.

Wohl um massiveren Druck von der Strasse und groessere Proteste zu
verhindern, einigten sich Regierung und Opposition nach monatelangen
Verhandlungen nun auf einen "nationalen Dialog" - unter Einbeziehung
aller politischen Lager. Der Fahrplan, der ausgehandelt wurde,
beinhaltet das Einsetzen einer Technokratenregierung, die
Fertigstellung eines Verfassungsentwurfs nach einer 4-woechigen Frist,
die Ausarbeitung des Wahlrechts und das Einsetzen einer
Wahlkommission.

Der nationale Dialog

Am 25. Oktober gab der Gewerkschaftsverband UGTT bekannt, dass der
lange angekuendigte "nationale Dialog" unter seiner Vermittlung
begonnen habe. Ministerpraesident Ali Larayedh hat versprochen, drei
Wochen spaeter zurueckzutreten (Anm. akin: was bisher nicht passiert
ist). Was sich fuer manche nach einer netten, friedlichen Loesung
anhoert, kann nichts Gutes bringen - zumindest nicht fuer die
tunesischen Arbeiter*innen. Ein "nationaler Dialog", der alle
politischen und wirtschaftlichen Kraefte der "Nation" einbezieht,
heisst faktisch, die Interessen des Proletariats denen der Bourgeoisie
unterzuordnen.

Weiters ist unklar, wie sich die Politik der islamistischen
Reaktionaere mit den Interessen der Saekularen vereinbaren laesst.

In dem Quartett, das sich um die Ernennung einer "neutralen Person"
zur Durchfuehrung des Fahrplans kuemmern soll, sitzen die UGTT, der
Arbeitgeberverband UTICA, die Menschenrechtsliga und die
Anwaltskammer -- sie vertreten die unterschiedlichsten
Klasseninteressen. Hoffnungen in diesen nationalen Dialog zu setzen,
ist ebenso weltfremd wie Illusionen ueber die kommenden Wahlen. Das
halbkoloniale Land hat noch nie eine buergerliche Demokratie nach
"europaeischem Vorbild" gehabt, daher sind Illusionen ueber deren
Charakter vorhanden.

Es stellt sich nur die Frage, warum sich auch die maechtige UGTT in
den Versoehnungskurs mit Ennahda einreiht. Die UGTT-Gewerkschaften
haben insgesamt etwa 700.000 Mitglieder - gemessen an der
Einwohner*innenzahl Tunesiens von etwa 10 Mio. und an dem niedrigen
Industrialisierungsniveau eine sehr hohe Zahl. Sie hat eine lange
Tradition als politisch kaempfende Gewerkschaftsbewegung - unter der
franzoesischen Besatzungsmacht ebenso wie unter dem Regime von Habib
Bourgiba von 1956 bis 1987. Gleichzeitig waren aber fuehrende
Gewerkschafter*innen mit dem buergerlichen Staatsapparat verbunden.
Besonders unter Ben Ali wurde die UGTT fuer die Regierung zum
Instrument, um die Arbeiter*innenklasse politisch zu kontrollieren.
Regionale Gewerkschaften rebellierten gegen diese Kontrolle, wie 2008
die Rebellion in Gafsa zeigte. 2011 hat die UGTT erst sehr spaet die
Proteste gegen Ben Ali unterstuetzt, als sein politisches Ende bereits
absehbar war. Sie hat selbst dann noch die letzten verzweifelten
Versuche unterstuetzt, das Regime mit einer "Uebergangsregierung" von
Ben Alis Anhaengern zu retten, in der drei UGTT-Vertreter u.a. als
Arbeitsminister vertreten waren.


Kampf gegen Islamismus

Auch wenn Ennahda einen grossen Teil ihrer Anhaenger*innenschaft
mittlerweile verloren hat, ist das noch laengst kein "Sieg ueber den
Islamismus" in Tunesien. Seit dem Sturz Ben Alis hat der islamistische
Terror massiv zugenommen. Anschlaege auf Gewerkschaften,
Frauenorganisationen sowie Linke und Oppositionelle wurden besonders
durch die "Liga zur Verteidigung der Revolution" zu einer
tagtaeglichen Bedrohung. Diese militaerischen Einheiten, die aus den
in der Revolution entstandenen Nachbarschaftsmilizen sind, stehen
Ennahda nahe und sind fuer einige Attacken verantwortlich. Viele
Tunesier*innen sehen in ihnen auch die Verantwortlichen fuer die Morde
an Chokri und Brahmi. Auch liefern sich seit einiger Zeit
islamistische Rebellengruppen, besonders an den Grenzen zu Algerien
und Libyen, Scharmuetzel mit dem Militaer, wobei immer wieder Soldaten
ums Leben kommen. Vor Kurzem gab es sogar einen Selbstmordanschlag,
vermutlich durch einen Anhaenger der Ansar Al-Scharia (eine der
Al-Qaida nahen Terrororganisation) in dem Urlaubsort Sousse. Kurz
darauf konnte gerade noch ein Anschlag in Monastir vor dem Mausoleum
Bourgibas verhindert werden.

Die Geschichte Nordafrikas und des Nahen Ostens hat uns gezeigt, dass
auch ein noch so "weltliches" bzw. "westliches" oder mit dem
Imperialismus kooperierendes Regime, das islamistische Organisationen
radikal unterdrueckte und ihre Fuehrungsmitglieder massenhaft
verhaften liess, es doch nie schaffte, ihren Einfluss zu brechen,
sondern zum Teil genau das Gegenteil erreichte. Sie fuehrten den
Widerstand gegen das Regime an oder waren zumindest ein wichtiges
Element darin.

Die Verbote islamistischer Kraefte bedeuteten auch immer Verbote
fortschrittlicher revolutionaerer und linker Parteien. Der
buergerliche Staat kann so einen Kampf gegen den Islamismus mit einem
Kampf gegen den Kommunismus verbinden und Demonstrationen der
Arbeiter*innen und Revolutionaer*innen mit derselben Legitimation
niederschlagen.
(stark gek.)

Quelle: http://arbeiterinnenstandpunkt.net/?p=970



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