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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 25. September 2013; 14:22
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Soziales:

Im Dschungel der Sozialbuerokratie

> Zu gesund fuer die Pension - zu krank fuer die Ausbildung

Es gibt Menschen, die in Oesterreich von einer Institution zur anderen
herumgereicht werden, ohne dass sich wer ihrer Probleme annimmt. Herr
L. ist so einer. Seit mehr als 10 Jahren wird er zwischen
Krankenkasse, AMS und Pensionsversicherung hin- und hergeschoben, ohne
dass sein eigentlich recht leicht zu loesendes Problem angegangen
wird. Alle Institutionen haben nur eines im Sinn: sie wollen nicht
fuer Herrn L. zustaendig sein...

Keine einzige dieser Stellen hat sich je die Frage gestellt, was
dieses Herumgeschiebe mit Herrn L. - und mit ihm uebrigens 39.000
Menschen in Oesterreich, denen es genauso geht - macht. Wie es ihm
damit geht... wie er seine Zukunft sieht... und wie er sich um die letzten
10 Jahre seines Lebens beraubt sieht....

Nach einem schweren Unfall im Jahr 2001 musste sich Herr L.
zahlreichen Operationen und zwei Rehabilitationen unterziehen. In
dieser Zeit fiel er, ein ausgebildeter Glasblaeser mit jahrelanger
Arbeitspraxis, der sich schliesslich im Handel in eine leitende
Position hinaufgearbeitet hat, wegen der langen Behandlungsdauer erst
aus dem Krankengeldbezug, dann aus seinem Job. Zu den Schmerzen und
koerperlichen Einschraenkungen kamen erhebliche psychische Probleme.

Kein Krankengeld, kein Job, und - weil er ja nicht arbeitsfaehig war -
auch kein Arbeitslosengeld: Herr L. stellte einen Antrag auf
voruebergehende Invaliditaetspension. Die Geschichte der Gutachten,
die in diesem Pensionsverfahren erstellt wurde, waere einen eigenen
Beitrag wert. Das Ergebnis: Mehrere Antraege wurden aus
unterschiedlichsten - oft nicht-medizinischen - Gruenden abgelehnt.
Aber das ist eben eine andere Geschichte...

In den Gerichtsverfahren wurde absurderweise festgestellt, dass Herr
L., der nichts heben kann, der nicht mehr im Kundenkontakt eingesetzt
werden und seinen erlernten Beruf sowieso nicht mehr ausueben kann,
ausreichend arbeitsfaehig sei, um so den Pensionsantrag abzulehnen.
Daher war dann wieder das AMS fuer ihn zustaendig, das aber
logischerweise keinen Job fuer ihn hatte. Es gibt halt nur wenige Jobs
in Oesterreich fuer Menschen, die nur maessig belastbar sind, nur
leichte Sachen heben koennen und keine Bueroausbildung haben.

Zuletzt wurde dies bei Herrn L. im Oktober 2012 festgestellt. Zurueck
beim AMS versuchte Herr L. den BetreuerInnen klarzumachen, dass er
ohne Bueroausbildung nicht die geringste Chance haette, je wieder
einen Job zu bekommen. Nach einigem Hin und Her sah man das beim AMS
auch ein... und schickte Herrn L. neuerlich zur PVA, damit er dort in
die berufliche Rehabilitation aufgenommen werde. Herr L. wurde von der
PVA zum wiederholten Mal zu einer Gutachtenserstellung geschickt. Und
da passierte das Unfassbare...: Die gleiche
Pensionsversicherungsanstalt, die im Mai 2012 feststellte, dass Herr
L. "arbeitsfaehig" sei, kam im Maerz 2013 zur Erkenntnis, "dass unter
Bedachtnahme auf Ihren Gesundheitszustand die Durchfuehrung einer
beruflichen Rehabilitationsmassnahme derzeit nicht zielfuehrend
erscheint". Herr L. moege sich - so in einem Gespraech - an das AMS
wenden, das ihm ja eine Ausbildung finanzieren koenne.

Heisst: Herr L. ist zu gesund, um in Pension zu gehen, und zu krank,
um eine Ausbildung zu machen. Die Katze beisst sich in den Schwanz:
Ohne Ausbildung hat Herr L. nicht den Funken einer Chance, je wieder
einen Job zu finden. Die PVA putzt sich ab, wenn es um die
Invaliditaetspension geht. Und sie putzt sich ab, wenn es um eine
Berufsausbildung geht. Das AMS wiederum tut so, als ob es fuer nichts
anderes zustaendig sei als fuer die monatliche Ueberweisung der
Notstandshilfe....

Herr L. ist heute 55 Jahre alt und wird seit 10 Jahren im Kreis
geschickt. Wenn es nach den oesterreichischen Sozialbuerokraten geht,
rennt er noch weitere 10 Jahre bis zur Pension weiter im Kreis. Das
ist unverstaendlich, zynisch, boesartig, menschenverachtend... und
betrifft nicht nur Herrn L., sondern 39.000 Menschen in Oesterreich!

Wie PVA und AMS 39.000 Menschen an der Nase herumfuehren...

In Invaliditaetspension darf nur gehen, wer hoechstens die Haelfte des
Entgeltes erwerben kann, das ein koerperlich und geistig gesunder
Versicherter ueblicherweise verdient (§255 ASVG). Hat ein Mensch einen
so genannten Berufsschutz (also wenn er zumindest 10 Jahre in einem
bestimmten Beruf gearbeitet hat, fuer den eine Ausbildung notwendig
ist), ist das relativ leicht zu erreichen. Wer diesen Berufsschutz
jedoch nicht hat, kann auch Jahrzehnte schwerste Arbeit geleistet
haben... um in Invaliditaetspension gehen zu koennen, muss dieser Mensch
so kaputt sein, dass er oder sie nicht einmal 50% des niedrigst
denkbaren Einkommens erreichen kann (das derzeit bei unter € 600,-
brutto im Monat liegt). Dieser Mensch wird auf den so genannten
"fiktiven Arbeitsmarkt" verwiesen.

Und der ist tatsaechlich im wahrsten Sinne des Wortes "fiktiv": 39.000
Menschen koennen in Oesterreich trotz schwerster Erkrankungen nicht in
Invaliditaetspension gehen, weil sie rein theoretisch noch als Portier
arbeiten koennten. In der Praxis gibt es selbstverstaendlich keine
39.000 freien Portiersstellen in Oesterreich, sodass diese Menschen
ohne auch nur theoretische Chance auf einen Job in der
Arbeitslosenversicherung festgehalten werden: mit voellig sinnlosen,
aber regelmaessigen Terminen beim AMS, mit Kurszuweisungen,
Strafmassnahmen und Schikanen.

Doch damit nicht genug: Der Zugang zur Invaliditaetspension ist auch
Voraussetzung fuer eine medizinische oder berufliche Rehabilitation.
Diese 39.000 Menschen werden also nicht nur unsinnigerweise in der
Arbeitslosenversicherung festgehalten, sie werden damit auch um die
dringend notwendige medizinische und berufliche Rehabilitation
gebracht.

Sie haben also weder die Chance, gesund zu werden und wieder
eigenstaendig eine Arbeit zu suchen, noch eine Chance, zumindest von
der Buerokratie, der Entwertung und den Sanktionen in Ruhe gelassen zu
werden.

Zur fehlenden Sicherheit und Unterstuetzung kommt auch noch die enorme
gesundheitliche und emotionale Belastung der Betroffenen und ihres
sozialen Umfelds wie PartnerInnen, Familienmitglieder und FreundInnen.

So geht's besser: Existenzminimum als Eintrittsschwelle zu
Rehabilitation oder Invaliditaetspension

Statt auf eine unrealistische fiktive Arbeitsfaehigkeit abzustellen,
muss der Zugang zu Rehabilitation und Invaliditaetspension mit einer
fixen Einkommensgrenze versehen werden: Wer aus gesundheitlichen
Gruenden nicht in der Lage ist, zumindest das Existenzminimum zu
verdienen, hat Anspruch auf gesundheitliche und berufliche
Rehabilitation, oder - falls dies als sinnlos erscheint - auf die
Invaliditaetspension

Es geht gar nicht um sehr viel Geld, da die Pension dieser Menschen
nicht sehr viel hoeher sein wird, als ihre Notstandshilfe. Worum es
aber geht, ist der Zugang zu Gesundheitsleistung, zu Bildung, und... zu
einem Leben in Wuerde.

All das wird diesen 39.000 Menschen in Oesterreich vorenthalten!
(Karl Oellinger auf seinem Blog/gek.)

Quelle:
http://oellingersozial.net/2013/09/12/zu-gesund-fur-die-pension-zu-krank-fur-die-ausbildung/



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