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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Dienstag, 6. August 2013; 22:18
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Pensionsdebatte/EU:

"Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan..."

Das Pensionsantrittsalter soll nach dem Willen der EU-Kommission immer
weiter erhoeht werden, weil "wir alle" ja immer aelter werden. Doch
ein Blick auf Studien zeigt: Die Lebenserwartung der unteren sozialen
Schichten sinkt, die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen arm
und reich gehen immer weiter auseinander. Je nach sozialen Status bei
der Geburt differiert die Lebenserwartung zwischen dem oberen und
unteren Einkommensfuenftel um bis zu 11 Jahren bei Maennern und um
mehr als 8 Jahre bei Frauen.
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Am 21.09.2012 treibt der EU-Kommissar Laszlo Andor in einem
Interview(1) die Europaeische Sau durch Oesterreich. Die
Lohnabhaengigen wuerden viel zu kurz arbeiten, die im Durchschnitt
steigende Lebenserwartung der Menschen soll einem noch laengeren
Ausbeutungsprozess unterworfen werden. Er schwadroniert oeffentlich,
dass in Ungarn Hochschulprofessoren erst mit 70 Jahren in Pension
gehen, was fuer Ihn sehr in Ordnung sei. Auch meint er, "dass die
Wahrscheinlichkeit der heute Arbeitenden Generation und Ihrer Kinder,
das 100. Lebensjahr zu erreichen, stetig steigt. Immer mehr Menschen
haben also 40 Jahre Pension vor sich." Ja, da muss Ihm als
EU-Sozialkommissar die Galle hoch steigen. Dazu resuemiert der
"Sozial"-Kommissar: "Entweder werden die Pensionen kuenftig sehr
niedrig ausfallen und wird die Altersarmut steigen... oder die
Beitragszahlungen werden angehoben, was moeglich ist, aber dem
Wettbewerb schadet. Die dritte Option, die wir unterstuetzen, ist es,
laenger zu arbeiten".

So wird nicht nur auf europaeischer Ebene eine Anhebung des
gesetzlichen Pensionsalters um 5 bis 7 Jahre diskutiert, die Forderung
nach Pension fruehestens ab 70 oder 72 ist fixer Bestandteil des
Sprachgebrauches von selbsternannten "Experten" und sonstiger
politischer Mitlaeufer innerhalb und ausserhalb der Wirtschaft in der
Europaeischen Union.

Soziale Selektion

Dass die durchschnittliche Lebenserwartung seit Jahrzehnten ansteigt,
hat nichts mit der Finanzierbarkeit unseres Pensionssystems zu tun und
ist fuer alle Menschen eine erfreuliche Tatsache. Was aber vollkommen
ausgeblendet wird, ist, dass sich eine immer groessere Kluft
hinsichtlich Lebenserwartung in Abhaengigkeit von ihrer sozialen Lage
auftut. Der Saabruecker Zeitung vom Dezember 2011 berichtet mit
Verweis auf einschlaegige Untersuchungsergebnisse, dass die
Lebenserwartung bei geringverdienenden Maennern in Deutschland seit
2001 von 77,5 Jahren auf 75,5 Jahre gesunken ist (2). Und somit auch
die Dauer des Bezuges einer Pension. Nach den Berechnungen des
Deutschen Sozialoekonomischen Paneel ist die hochbeschworene
Gleichheit aller Menschen nicht das Papier wert auf dem das
geschrieben steht. Je nach sozialem Status bei der Geburt differiert
die Lebenserwartung zwischen dem oberen und unteren Einkommensfuenftel
um bis zu elf Jahren bei Maennern und um mehr als acht Jahre bei
Frauen.

Eine Studie des Deutschen Instituts fuer Wirtschaftsforschung (DIW)
zusammen mit dem Robert Koch-Institut (RKI) auf Basis von Daten des
"Soziooekonomischen Panels" (SOEP) bestaetigt diese soziale Selektion.
Wer ein koerperlich arbeitsreiches Leben in Entbehrung zubringen
musste, hat als Frau ab den 65 Lebensjahr eine dreieinhalb Jahre
geringere fernere Lebenserwartung als Ihre wohlhabende
besserverdienende Geschlechtsgenossin. Diese verringerte
Lebenserwartung wird durch die psychische Belastung der
Armutsgefaehrdung und mit daraus resultierenden schwachen sozialen
Netzwerken begruendet.

Bei Maennern aus armutsgefaehrdeten Haushalten und
unterdurchschnittlichem Einkommen verringert sich die Lebenserwartung
ab den 65 Lebensjahr um durchschnittlich fuenf Jahre, gegenueber den
besser verdienenden Geschlechtsgenossen. Hier wird die geringe Bildung
und koerperliche Belastung durch Arbeit als Begruendung angefuehrt.

Das Soziooekonomische Panel ist eine seit 1984 durchgefuehrte
repraesentative Wiederholungsbefragung von Haushalten in West- und
seit 1990 auch in Ostdeutschland. Derzeit werden ueber 20.000 Personen
in mehr als 10.000 Haushalten pro Erhebungsjahr befragt. Mit
SOEP-Daten wurde bereits eine Vielzahl von Analysen zu Unterschieden
in der Lebenserwartung nach Einkommensgruppen durchgefuehrt. So
berichtet Reil-Held (2000) (3) anhand der SOEP-Daten aus den Jahren
1984 bis 1997, dass Maenner mit niedrigem Einkommen (unterstes Quartil
der Einkommensverteilung) gegenueber denen mit hohem Einkommen
(oberstes Quartil) eine um sechs Jahre verringerte mittlere
Lebenserwartung bei der Geburt haben. Bei Frauen betraegt die
Differenz vier Jahre. Nach Lampert et al. (2007) koennten sich diese
Unterschiede in den nachfolgenden Jahren noch ausgeweitet haben. Auf
Basis der SOEP-Daten aus den Jahren 1995 bis 2005 ermittelten sie in
Bezug auf die mittlere Lebenserwartung bei der Geburt eine Differenz
von elf Jahren bei Maennern und acht Jahren bei Frauen, beim Vergleich
der niedrigsten mit der hoechsten Einkommensgruppe (weniger als 60
Prozent gegenueber 150 Prozent und mehr des mittleren
Netto-Aequivalenzeinkommens). Fuer die fernere Lebenserwartung ab dem
65. Lebensjahr ermittelten Lampert et al. eine Differenz von sieben
Jahren fuer Maenner und von fuenf Jahren fuer Frauen(4).

Eine weitere Studie von Groh-Samsberg und Voges (5) bestaetigt die
Zusammenhaenge des Arbeitseinkommens mit weiteren Aspekten der
individuellen Lebenslage. Die Summierung prekaerer sozialer
Bedingungen betreffen die Wohnsituation, finanzielle Ruecklagen und
Arbeitslosigkeitserfahrung sowie die Dauer von Armutslagen. Nicht nur
dauerhafte oder verfestigte Armut, sondern auch temporaere
Armutssituationen gehen mit einem erhoehten Mortalitaetsrisiko oder
anders ausgedrueckt mit einer verringerten Lebenserwartung einher.

In dieser Kluft bei der Lebenserwartung manifestiert sich die reale
Elitenpolitik. Diese zielt auf Teilung und Spaltung der Gesellschaft,
wo Gemeinsamkeiten und Solidaritaet fuer den Wachstumsdrang und das
Profitstreben der Konzerne einen Hemmschuh bilden.

Die anfangs erwaehnte Chancengleichheit aller Menschen ab der Geburt
stellt eine Herausforderung an jede Gesellschaft dar. Ein gesundes und
sozial abgesichertes Altern erfordert eine umfassende Sozial-,
Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Nicht der freie Markt darf
ueber Dauer und Qualitaet einer Pension oder ueberhaupt des gesamten
Lebens entscheiden, sondern es muss darum gerungen werden, dass jeder
Mensch von der Geburt bis zur Bahre die selben Chancen und Bedingungen
vorfindet. Das ist die Grundlage einer solidarischen Gesellschaft.

Es ist schon bemerkenswert, dass ansonsten gut informierte
Entscheidungstraeger, die bei TV-Interviews spontan die ganze Welt
erklaeren koennen, in dieser, die Einkommensschwachen und
Lohnabhaengigen betreffenden Materie fahrlaessige Wissens- und
Handlungsluecken vorweisen. Es entsteht hier der unappetitliche
Eindruck, dass fuer den neoliberalen Markt in Europa und die globale
Konkurrenzfaehigkeit der EU vorsaetzlich eine soziale Selektion durch
grob unterschiedliche Lebensbedingungen und somit grob
unterschiedliche Lebenserwartungen aller Einkommensbezieher betrieben
wird.
(Rudi Schober/Solidarwerkstatt)



Anmerkungen:
(1) 19.09.2012 Interview mit EU-Kommissar Laszlo Andor auf Seite 23 im
"Der Standard"
(2) 13.Dezember 2011 Saarbruecker Zeitung
(3) Reil-Held (2000): Einkommen und Sterblichkeit in Deutschland:
Leben Reiche laenger? Sonderforschungsbereich 504, Discussion Paper
Nr. 14, DIW Berlin
(4) Deutsches Institut fuer Wirtschaftsforschung, DIW -Wochenbericht
Nr. 38.2012
(5) Groh-Samberg, O. (2012): Arme sterben frueher. Zum Zusammenhang
von Einkommenslage und Lebenslage und dem Mortalitaetsrisiko.

Quelle:
http://www.werkstatt.or.at/index.php?option=com_content&task=view&id=902&Itemid=1



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