**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 19. Juni 2013; 02:33
**********************************************************

Portugal:

> Anatomie eines Protestes

Portugal wehrt sich gegen seine Regierung

Im Laufe der beiden letzten Jahre hat sich die internationale
Wahrnehmung Portugals stark veraendert. 2011 war ein Generalstreik der
beiden grosser Gewerkschaftsverbaende nicht nur im Ausland kaum
bemerkt worden, ganz anders beim iberischen Warn-Generalstreik vom
November 2012.

Fast 40 Jahre nach der Aprilrevolution ist Portugal wieder ein Land
geworden, auf das man schaut -- es wird wieder das Lied von Grandola,
der dunkelhaeutigen Stadt gesungen, wie immer, wenn mensch in Portugal
zornig und aktiv wird.

Und aktiv sind so viele wie selten in den letzten 35 Jahren. Waren es
im Zeitraum 1973 bis 1978 die Belegschaften der grossen Werften, der
Metall- und Textilindustrie, die Betriebe besetzten, Fabrikraete
organisierten, Stadtteilkomitees bildeten, so sind es heute immer
wieder die "Prekaeren", sich ruehren. Der Maerz 2011 hatte eine echte
Signalwirkung. Ohne dass irgendwelche grossen Organisationen dazu
aufgerufen haetten, demonstrierten etwa 300.000 Menschen quer durchs
Land, selbst in einer Provinzstadt wie Faro waren es noch 5.000. Auch
in Portugal ist "prekaere Arbeit" schon lange in allen Branchen
verbreitet: Diverse Aktionen -- beispielsweise der
Metro-Beschaeftigten von Porto - waren eben Aktionen von prekaer
beschaeftigten Menschen, deren massive Beteiligung auch einen
wesentlichen Teil des Erfolgs des Streiks vom vergangenen November
ausmachte, ein Erfolg, der im Wesentlichen aus zwei
Entwicklungsschritten besteht: Seit dem Streik ist klar, dass eine
Mehrheit der Menschen die Austeritaetspolitik ablehnt und dass die
Situation der Regierung zusehends komplizierter wird.

Unabhaengig Abhaengige

Nach offiziellen Statistiken sind ab dem zweiten Halbjahr 2012
erstmals ueber 50 % der Arbeitenden (rund 5,5 Millionen Menschen)
entweder prekaer beschaeftigt oder erwerbslos, bei den unter
24-jaehrigen sind 40 % erwerbslos. Rund 750.000 "unabhaengige
ArbeiterInnen" (also rund 15 % aller arbeitsfaehigen Menschen des
Landes) sind Scheinselbstaendige, z.B. nahezu alle Beschaeftigten der
Gastronomie. Unabhaengig heisst nichts anderes als dass sie ihre
Sozialversicherung selbst bezahlen muessen und natuerlich keinerlei
Kuendigungsschutz oder Aehnliches haben. Jeweils ueber 600.000
Menschen sind darueber hinaus entweder Teilzeitbeschaeftigte oder
LeiharbeiterInnen.

Aus dieser Situation heraus haben sich zahlreiche Organisationen und
Gruppierungen gebildet, die bei der Organisation von Protesten und
Widerstand eine bedeutende Rolle spielen, ohne direkt "politische
Organisationen" zu sein. Eher sind das dann gewerkschaftsaehnliche
Vereinigungen zum einen, wie etwa die Unflexiblen Prekaeren oder der
Euromayday Lisboa; zum anderen -- insbesondere im von Kuerzungen
besonders betroffenen Bildungswesen -- Zusammenschluesse von Menschen
verschiedener gesellschaftlicher Sektoren, wie LehrerInnen mit Eltern
und AktivistInnen aus dem jeweiligen Stadtteil. Zum Teil sind darin
gewerkschaftliche Organisationen, vor allem aus der CGTP-Intersindical
beteiligt (auch einige des kleineren UGT Verbandes -- in Opposition
zum eigenen Vorstand), zum Teil wird auch bewusst Distanz gehalten --
zu sehr ist die CGTP an der KP Portugals orientiert (auch wenn sie,
aehnlich wie der DGB mit CDU-Leuten, immer eine "katholische Fraktion"
im Bundesvorstand haben).

Ihre politischen Aktivitaeten sehen diese Gruppierungen oft weniger
bei den Parteien oder Wahlen, mehr in solchen Aktionen wie einer
"Volksinitiative fuer ein Gesetz gegen Prekaritaet". Mit anderen
zusammen hat die Vereinigung zur Bekaempfung der Prekarisierung in der
vorgegebenen kurzen Frist mehr als die noetigen 40.000 Unterschriften
gesammelt und somit muss der Entwurf des "Gesetzes gegen die
Prekarisierung", das den groessten sozialen Missstaenden einen Riegel
vorschieben wuerde, im Parlament diskutiert werden. Man kann lange
ueber die Sinnhaftigkeit dieser Initiative diskutieren -- aber
zunaechst einmal zeigt sie die politische Wirksamkeit dieser
Aktivitaeten (inklusive der zahlreichen Manoever insbesondere der
Mehrheitsparteien).

Kein Vertrauen in Parteien

Bei den letzten Parlamentswahlen beteiligten sich 58,7 % der
Stimmberechtigten, wovon 2,5 % leere Wahlzettel abgaben: die
Kommunistische Partei erhielt 7,9 %, der Linksblock 5,1 % und die
Kommunistische Arbeiterpartei verfehlte mit 1,2 % den Einzug ins
Parlament. Offensichtlich ist ein bedeutender Teil der kritisch bis
widerstaendig eingestellten Bevoelkerung der Wahl eher fern geblieben,
und ueberhaupt hat die parlamentarische Volksvertretung einiges an
Prestige eingebuesst. Dass gerade eben zum zweiten Mal ein
verabschiedeter und vom Staatspraesidenten unterzeichneter Haushalt
vom Obersten Gericht als in mehreren Punkten nicht verfassungsgemaess
beurteilt wurde, wird diesen Prozess sicher nicht bremsen.

Dass sich in dieser Situation staatstragende Einrichtungen wie das
Oberste Gericht direkt in Widerspruch zur Regierung setzen, oder auch,
dass der Rektor der wichtigsten Universitaet des Landes die Regierung
heftig kritisiert, hat auch etwas mit Erscheinungen der Aufloesung und
vielleicht einer Neuzusammensetzung des buergerlichen
Gesellschaftsblocks zu tun.

Militaer sieht Gefahr fuer die Souveraenitaet

Gerade vor dem Hintergrund der portugiesischen Geschichte wurden die
kritischen Stellungnahmen aus Militaerkreisen mit besonderer
Aufmerksamkeit verfolgt. Die Vereinigungen Associação de Oficiais das
Forças Armadas (AOFA), Associação Nacional de Sargentos (ANS) e
Associação de Praças (AP) sahen im Maerz 2013 einen "Pfeiler des
Staates" in Gefahr -- sich selbst. Die Reduzierung um 8.000 (Berufs-)
Soldaten, die zur Debatte stand, sei eine Gefahr fuer die nationale
Souveraenitaet.

Dass diese Kritik auch von Teilen der Linken insofern positiv
aufgenommen wurde, als sie faelschlicherweise verglichen wurde mit der
historischen Rolle der Bewegung der Streitkraefte (MFA) im Jahre 1974,
zeigt, dass in all den Laendern, die unter dem Austeritaetsdiktat der
EU zu leiden haben, immer auch nationalistische Stroemungen vorhanden
sind, die von der Rechten naheliegenderweise leicht besetzt werden
koennen. Denn der "konservative Portugiese" sieht es besonders
ungerne, wenn bei Privatisierungsprojekten brasilianisches Kapital
erfolgreich mitbietet.

Protest und Tradition

Was damals anders war: Die Mehrheitsfraktion der MFA war 1974 der
Sammelpunkt all jener Stroemungen gewesen, die sich nicht von Parteien
vereinnahmen lassen wollten. Dies betraf auch die KP Portugals, deren
Bestreben es damals war, gegen radikalere Kraefte zu mobilisieren. Wer
bei den Praesidentschaftswahlen 2011 die KP-Argumentation gegen den
vom Linksblock unterstuetzten unabhaengigen Kandidaten Alegre
verfolgte -- der als Zweitplatzierter knapp unter 20 % der
Waehlerstimmen hatte, allerdings gerade einmal runde 800.000 -- sah
sich uebrigens durchaus an jene Zeiten erinnert. Damals war das
Militaer, neben der Geheimpolizei, von vielen als die einzige noch
funktionierende staatliche Einrichtung betrachtet worden - alles dies
ist heute ziemlich anders.

Die Auseinandersetzungen um solche historischen Rollen haben, ausser
bei recht kleinen Gruppierungen, keine Kontinuitaet. Der Traum vom
Wohlstand im einstigen Armenhaus Europas hat vieles eine Generation
lang zugeschuettet. Wenn jetzt wieder "Grandola" gesungen wird, ist
dies auch eine Besinnung auf Traditionen, die vielfaeltig sind. Und
auch die damalige Parole "pobres nos querem, rebeldes nos terão" (Sie
wollen uns arm, sie werden uns als Rebellen haben) ist wieder
aufgetaucht -- mit "prekaer" statt "arm".
(Helmut Weiss, LabourNet Germany/bearb.)


Quelle: http://www.direkteaktion.org/217/anatomie-eines-protestes



***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der
nichtkommerziellen Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd
muessen aber nicht wortidentisch mit den in der Papierausgabe
veroeffentlichten sein. Nachdruck von Eigenbeitraegen mit
Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete Beitraege stehen in der
Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von Texten mit anderem
Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine anderweitige
Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als Abonnement
verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann den
akin-pd per formlosen Mail an akin.buero{AT}gmx.at abbestellen.

*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1170 wien, Lobenhauerngasse 35/2
vox: ++43/1/535-62-00
(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
http://akin.mediaweb.at
akin.redaktion{AT}gmx.at
Bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976-00, Zweck: akin