**********************************************************
akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 19. Juni 2013; 02:34
**********************************************************

Glosse:

> Der Vergleich macht unsicher

Die politischen Systeme in der EU und jenes in der Tuerkei sind sich
viel naeher, als die hiesigen Eliten es uns weis machen wollen.
*

Das sonntaegliche "Im Zentrum" mit dem eher nicht so stilsicheren
Titel "Aufstand auf Tuerkisch - Erdogans Abschied von Europa?" war
nicht sonderlich mitreissend und informativ. Nur ein kleines,
eigentlich sehr leises Scharmuetzelchen war die Aufmerksamkeit in
dieser ORF-Diskussion wert. Der Wiener Politologe Ilker Atac verglich
die Rebellion mit der Occupy-Bewegung. Daraufhin warf Andreas Moelzer
ein, er wuerde doch lieber einen Vergleich mit dem "Arabischen
Fruehling" ziehen.

Diese Frage der Vergleichbarkeit ist aber weder eine Spitzfindigkeit
noch eine Geschmackssache, sondern tatsaechlich eine hoechst
gefaehrliche. Denn hier geht es um Fundamentales. Aeusserlich wie
strukturell aehnelten sich Occupy und der arabische Fruehling in ihrer
Buntheit und vagen Zielgerichtetheit, doch es gibt einen gravierenden
Unterschied: Der arabische Fruehling passierte in allgemein als
autoritaer eingeschaetzten Regimen ohne echte demokratische
Wahlmoeglichkeiten, Occupy war hingegen eine Bewegung in
buergerlich-demokratischen Systemen. Wenn Moelzer den
Fruehlingsvergleich vorzieht, will er sagen, die Tuerkei sei eben kein
demokratisches System europaeischer Praegung. Einmal abgesehen davon,
dass Moelzer ansonsten zugeben muesste, dass die Tuerkei weitaus
"europaeischer" ist, als es dem vehementen EU-Beitrittsgegner lieb
sein kann, kann einem Verfechter des repraesentativ-demokratischen
Systems die Vergleichbarkeit der tuerkischen Innenpolitik mit der von
EU-Staaten gerade angesichts der derzeitigen Auseinandersetzungen
nicht gefallen.

Was ist ein europaeischer Staat?

Tatsaechlich ist die AKP eine ganz normale Regierungspartei wie wir
sie auch aus der EU kennen. Bei den Wahlen 2011 erreichte sie knapp
50% der abgegebenen Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 87% (in der
Tuerkei gibt es formal Wahlpflicht). Das ist zwar keine Mehrheit aller
Wahlberechtigten, reicht aber fuer eine klare Mehrheit im Parlament
und ist eine Legitimation einer einzelnen Partei, von der die meisten
Regierungschefs in Europa nur traeumen koennen. Von grossartigen
Wahlfaelschungen wurde auch nicht berichtet, also kann Erdogan mit Fug
und Recht behaupten, demokratisch zum Premierminister gemacht worden
zu sein.

Damit ist aber die Niederschlagung der Proteste in einem autoritaeren
Verstaendnis repraesentativer Demokratie durchaus legitim -- erst
recht die einer Blockade einer rechtlich einwandfrei von den dafuer
zustaendigen Instanzen beschlossen wordenen Abholzung eines Parks.
Schliesslich ist ein Staat ja verpflichtet, das Recht auch
durchzusetzen.

Aehnliches koennte man aber auch ueber die Polizeiaktionen in Hainburg
anno dazumal sagen -- oder eben aktuell die Wasserwerfer in Frankfurt.
Schliesslich ging es bei Blockupy erklaertermassen um die zeitweilige
Behinderung der Arbeitsfaehigkeit der Europaeischen Zentralbank, also
einer staatlicherseits und suprastaatlicherseits und damit formal
demokratisch legitimierten Institution.

Deutschland, Oesterreich und die Tuerkei sind letztendlich
Kreuzerlmachdemokratien -- direktdemokratische Elemente, ein
weitergehendes Informationsrecht oder die Demokratisierung grosser
gesellschaftlicher Bereiche von der Schule bis zum Betrieb sind in
diesen politischen Systemen zwar in unterschiedlichem Ausmass, aber
letztendlich hueben wie drueben nur rudimentaer vorhanden. Die
autoritaere Idealvorstellung repraesentativer Demokratie besteht in
einem Zweiparteiensystem, wo im Abstand von mehreren Jahren die
Wahlberechtigten abstimmen duerfen, ob sie zufrieden sind mit der
Regierung oder nicht. Sind sie unzufrieden, kommt die andere Partei an
die Regierung. Sind sie mehrheitlich mit dieser auch unzufrieden,
tauschen die Parteien wieder die Plaetze und alles ist wieder so wie
vorher. Das Volk als selten zu befragende Kontrollinstanz, welche der
beiden Fraktionen der Elite faehiger sei, ein Land zu fuehren -- das
ist die Vorstellung eben dieser Eliten von Demokratie. Man lausche nur
den Sprechern der Thinktanks dieser Eliten, die immer wieder darueber
jammern, dass mehrere Parteien in einem Land es leicht in die
"Unregierbarkeit" fuehren koennten.

Wer aber ist der Staat?

Dass dieses politische System an sich wohl einer demokratischen
Weisheit letzter Schluss nicht sein kann, ist zwar eine
Binsenweisheit, wird aber kaum oeffentlich kritisiert. In der
repraesentativen Demokratie erscheint deren Apologeten die Revolution
denkunmoeglich. Denn schliesslich hat das Volk ja die Fuehrung des
Staates in demokratischen Wahlen legitimiert -- wer sich also gegen
den Staat erhebt, muss ein Putschist oder Terrorist sein, denn er
stellt sich gegen die Mehrheit des Volkes. Genau das ist die
Argumentation Erdogans und sie ist keineswegs so jenseits oder
realitaetsfremd oder propagandistisch, wie man nun in vielen der
hiesigen Kommentare hoert, sondern schlicht folgerichtig. Denn: "Der
Staat sind wir alle!" Dieser unsaeglich dumme Satz ist genau auf das
repraesentativ-demokratische System abgestellt: Wer den durch die
Allgemeinheit legitimierten Staat angreift, greift auch die
Allgemeinheit selbst an -- und ist notwendigerweise damit ein
Volksfeind.

Hingegen wird das Element des engagierten Buergers von
repraesentativ-demokratischen Systemen oft zwar einigermassen
geduldet, aber konstitutiv ist es gar nicht vorgesehen. Das ist kein
Webfehler der repraesentativen Demokratie, sondern einfach die
Ignoranz gegenueber dem Grundgedanken, dass staatliche Entscheidungen
generell eine Angelegenheit des Staatsvolkes sein sollten.

Genau das ist aber das eigentliche Thema derzeit in der Tuerkei. Neben
Kritik an Islamisierung, Korruption und Umweltzerstoerung geht es dort
gegen dieses Verstaendnis von Demokratie. Die Frage, die hier durch
die Existenz der Taksimbewegung gestellt wird, ist nicht, ob Erdogans
Regierung, sondern ob ueberhaupt das Regiertwerden legitim ist. Es
wird hier sicher mehrheitlich kein anarchistischer Gedanke postuliert,
aber man koennte sagen: Das Volk will eine waehlbare Verwaltung statt
eines Wahlmonarchen.

Nun war die Tuerkische Republik seit jeher autoritaer und das sicher
in einem Ausmass, das ueber das eines durchschnittlichen heutigen
EU-Staat weit hinausgeht. In ihrer heutigen Verfasstheit ist sie aber
nicht substantiell weniger repraesentativ-demokratisch, sondern im
Gegenteil die Absolutheit dieser Herrschaftsform.

Die politische Beteiligung dessen, was man in Europa mit dem seltsamen
Wort "Zivilgesellschaft" benennt, laeuft der reinen Lehre der
repraesentativen Demokratie als Staatsform eigentlich zuwider, da sich
da Gruppierungen in Gesetzgebung und Regierung einmischen, die dazu
nicht durch Wahlen legitimiert sind. Nicht umsonst wird ja auch in der
EU allerorten laut, man muesse Lobbyismus kontrollieren. Bei dieser
Forderung geht es naemlich nicht nur gegen Korruption, sondern einfach
auch um sonstigen Einfluss auf Abgeordnete und Regierungspolitiker --
was natuerlich auch jene NGOs betrifft, die nicht profitorientiert
sind. Wie sehr dieser Gedankengang durchaus auch in Oesterreich
verfolgt wird, zeigt das jetzige Instanzurteil im Tierrechtlerprozess:
Wenn eine Drohung mit dem Boykott einer Firma bereits als Noetigung
qualifizierbar ist, dann muss man davon ausgehen, dass auch NGOs, die
den Staat kritisieren und deswegen von der Wahl einer Regierungspartei
abraten oder gar zum Wahlbokott aufrufen, Gefahr laufen, der Noetigung
bezichtigt zu werden. Das klingt jetzt noch ungeheuerlich, ist aber
nur die konsequente Fortsetzung des Gedankens.

Der Staat ist leicht beleidigt

Wie sehr dieser Gedanke im tuerkischen Staat verankert ist, zeigt der
beruechtigte Paragraph 301 des Strafgesetzbuches, die "Herabsetzung
der tuerkischen Nation, des Staats der Republik Tuerkei, der
Institutionen des Staates und seiner Organe", wegen diesem immer
wieder Regierungskritiker ins Gefaengnis kommen. Doch prinzipiell ist
der Grundgedanke des autoritaeren Staates bei uns kein anderer; das
oesterreichische StGB kennt den §248: "Herabwuerdigung des Staates und
seiner Symbole" -- der Unterschied ist nur, dass dieser Paragraph bei
uns beinahe "totes Recht" ist. Doch so tot kann ein Paragraph gar
nicht sein, dass ihn nicht eines Tages ein Gericht wiederbeleben
koennte, wenn es die politische Situation verlangt.

Dieses Grundverstaendnis von Demokratie wurde in der Tuerkei nicht
erst in den letzten drei Wochen deutlich sichtbar. In den EU-Staaten
ist es aber genauso vorhanden, verbraemt mit ein wenig mehr Rede- und
Demonstrationsfreiheit. Doch dieses Demokratieverstaendnis kommt
irgendwann an ein Ende -- dann naemlich, wenn die Untertanen keine
Lust mehr haben, lediglich unter einer begrenzten Anzahl an moeglichen
Oberindianern auswaehlen zu duerfen; dann, wenn die Untertanen sagen,
wir wollen Meinungsfreiheit, Zugang zu relevanten Informationen und
echte Partizipation an gesellschaftlich relevanten Entscheidungen
anstatt scheindemokratischer Fernsehdiskussionen und aehnlichem
Blendwerk.

Dann ist die Revolution ploetzlich nicht mehr denkunmoeglich. Und
vielleicht ist die tuerkische Zivilgesellschaft da schon um einiges
weiter als die oesterreichische.
*Bernhard Redl*

*

Nachbemerkung aus aktuellem Anlass

> Die Ruhe ist der Sturm

Waehrend die tuerkische Polizei die Bueros linker Parteien und Medien
stuermt, schweigen die Demonstranten. Sie stehen jetzt am Taksimplatz
und schweigen. Sie stehen einfach nur. Und es werden mehr, die da
einfach nur stehen.
Diese Protestform ist nun wirklich eine Bedrohung fuer Erdogan. Wer
nur steht und schweigt, den kann man nicht als Verbrecher hinstellen.
Wer nur steht und schweigt, hat keine Lust auf Adrenalinschuebe,
sondern zeigt, dass es ihm todernst ist. Wer nur steht und schweigt,
verweigert sich gegen jenes Prinzip der Aufmerksamkeitsoekonomie, dem
Strassenschlachten gehorchen. Es ist die totale Verweigerung.
Wenn diese massenhaft passiert und anhaelt, ist die Tuerkei in wenigen
Tagen nicht nur den Premier los, sondern ein anderes politisches
System. "Ne mutlu tuerkuem diyene!" ("Sei gluecklich, dich Tuerke zu
nennen") - Dieser Satz Atatuerks wird dann etwas ganz anderes
bedeuten.
-br-



***************************************************
Der akin-pd ist die elektronische Teilwiedergabe der
nichtkommerziellen Wiener Wochenzeitung 'akin'. Texte im akin-pd
muessen aber nicht wortidentisch mit den in der Papierausgabe
veroeffentlichten sein. Nachdruck von Eigenbeitraegen mit
Quellenangabe erbeten. Namentlich gezeichnete Beitraege stehen in der
Verantwortung der VerfasserInnen. Ein Nachdruck von Texten mit anderem
Copyright als dem unseren sagt nichts ueber eine anderweitige
Verfuegungsberechtigung aus. Der akin-pd wird nur als Abonnement
verschickt. Wer versehentlich in den Verteiler geraten ist, kann den
akin-pd per formlosen Mail an akin.buero{AT}gmx.at abbestellen.

*************************************************
'akin - aktuelle informationen'
a-1170 wien, Lobenhauerngasse 35/2
vox: ++43/1/535-62-00
(anrufbeantworter, unberechenbare buerozeiten)
http://akin.mediaweb.at
akin.redaktion{AT}gmx.at
Bankverbindung lautend auf: föj/BfS,
Bank Austria, BLZ 12000,
223-102-976-00, Zweck: akin