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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 12. Juni 2013; 01:27
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Tuerkei/Analyse:

> Heterogene Zivilgesellschaft gegen staatlichen Autoritarismus

(Anm.: Nachfolgender Kommentar entstand vor den juengsten
Entwicklungen in der Tuerkei, also der Raeumung des Taksimplatzes und
der Festnahme der Rechtsanwaelte)
*

Was sich in der Tuerkei seit letzter Woche abspielt ist komplexer als
es auf den ersten Blick aussieht. Hier findet weder einfach eine
Neuauflage des Konfliktes zwischen Kemalismus und Politischem Islam
statt, noch zwischen "weissen" und "schwarzen" Tuerken oder zwischen
rechts und links. Vielmehr haben sich hier fuer einen kurzen Moment
sehr heterogene, ja in vielfacher Hinsicht antagonistische Kraefte
gegen Premierminister Recep Tayyip Erdogan und seine zunehmend
autokratischere Politik zusammengefunden, die ohne den brutalen und
rechtsstaatlich durch nichts zu rechtfertigenden Polizeieinsatz gegen
protestierende UmweltschuetzerInnen sich nie auf der gleichen Seite
der Barrikade wiedergefunden haetten.

Ein brutaler gemeinsamer Feind, der Rechte und Linke,
GewerkschafterInnen und Mittelstand, Fussballfans und
BildungsbuergerInnen, LBGT-AktivistInnen und homophobe
NationalistInnen, KurdInnen, TuerkInnen und ArmenierInnen gemeinsam
mit Traenengas, Schlagstoecken, Wasserwerfern und mittlerweile auch
scharfer Munition eindeckt, kann jedoch fuer kurze Zeit die
unterschiedlichsten Kraefte zusammenschweissen, v.a. aber auch
Menschen auf die Strassen bringen, die sonst nicht zu den "ueblichen
Verdaechtigen" zaehlen, die sich bisher selbst als unpolitisch
wahrgenommen haben und von denen einige sogar die AKP als geringeres
Uebel gewaehlt haben, von dieser aber eine Demokratisierung und keinen
neuen Autoritarismus unter anderem Vorzeichen erwartet hatten. Unter
die DemonstrantInnen mischten sich sogar Gruppen wie die Devrimci
Muesluemanlar (Revolutionaere Muslime), die Antikapitalist
Muesluemanlar (Antikapitalistische Muslime) oder die Anarchist
Mueslueman (Anarchistische Muslime), die sich teilweise bereits in den
letzten Jahren an Maidemonstrationen der Linken beteiligt hatten.

Das zentrale Problem der Tuerkei war nie der Politische Islam und auch
nicht der Kemalismus, sondern der Autoritarismus, der die
unterschiedlichsten politischen Lager - leider auch weite Teile der
tuerkischen und kurdischen Linken - durchzieht. Seit es der AKP
gelungen ist, die demokratisch durch nichts legitimierten
kemalistischen Militaers von der Macht zu verdraengen, zeigt sich
dieser Autoritarismus auch immer deutlicher in der AKP, ganz besonders
bei ihrem Premierminister Recep Tayyip Erdogan, der immer
autokratischere Zuege annimmt und sich von seinen
Reproduktionsaufforderungen ("jede Tuerkin drei Kinder") ueber die
Einschraenkungen beim Alkoholverkauf bis zur Islamisierung des
Bildungswesens immer staerker in das Privatleben der BuergerInnen
einmischt. Dem gegenueber stehen zwar zweifelsohne positive
Entwicklungen in Bezug auf Menschenrechte und den zuletzt initiierten
Friedensprozess mit der PKK. Der Versuch, die Proteste von
Umweltschuetzern, die mit dem Gezi-Park eine der allerletzten
Gruenflaechen im Zentrum Istanbuls vor einem Einkaufszentrum retten
wollten, mit aller Gewalt zu unterdruecken, zeigt jedoch wie wenig
substantiell diese Veraenderungen waren. Das AKP-Regime hat nicht nur
den Polizeiapparat vom kemalistischen Regime geerbt, sondern setzt
diesen nach einer politischen Umfaerbung in den Fuehrungsebenen nun
ganz aehnlich gegen eine Opposition ein, zu der auch Teile der
frueheren Eliten zaehlen.

Fuer die PKK, die sich erst seit Maerz in einem hoffnungsvollen
Friedensprozess mit der tuerkischen Regierung befindet und am 8. Mai
mit dem Rueckzug ihrer Guerilla aus der Tuerkei begonnen hatte, ergibt
sich in der aktuellen Situation ein Dilemma. Einerseits herrscht an
der Basis, v.a. unter den KurdInnen in Istanbul und anderen
tuerkischen Staedten, eine aehnliche Unzufriedenheit mit Erdogans
autokratischem Fuehrungsstil, wie unter den tuerkischen BewohnerInnen
dieser Staedte. Solidaritaetskundgebungen mit den Protesten in
Istanbul fanden auch in Diyarbakır (kurdisch: Amed) statt. Zugleich
greifen andere PKK-AnhaengerInnen die Proteste als nationalistisch und
kemalistisch an. Auch auf Solidaritaetskundgebungen in Europa kam es
bereits zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen
PKK-Anhaengern und Grauen Woelfen, die sich ploetzlich auf einer
gemeinsamen Demonstration wiederfanden.

Leider versuchen nun auch schon wieder jene autoritaeren Kraefte, die
mit den autoritaeren Kraeften an der Macht rivalisieren, die Situation
zu nuetzen. Dass sich die kemalistische CHP und Anhaenger der
rechtsextremen MHP (Graue Woelfe) auch an den Protesten zu beteiligen
ist wenig verwunderlich. Spontane Massenbewegungen ziehen immer
unterschiedlichste Kraefte an. Das ist kein tuerkisches Spezifikum.
Die Frage ist, wie stark und interventionsfaehig die tuerkische und
kurdische Linke in dieser Situation ist.

Im Kern gingen die Proteste von linken und liberalen Kraeften aus und
nicht von der CHP oder der MHP. Zwar solidarisierte sich
CHP-Parteichef Kemal Kilicdaroglu "als Privatperson" mit den
Protesten. CHP-Funktionaere, die bei den Demonstrationen versuchten
Ansprachen zu halten, wurden jedoch so ausgepfiffen, dass sie rasch
das Weite suchten. Bis jetzt ist es keiner der Oppositionsparteien
gelungen die Demonstrationen fuer sich zu vereinnahmen. Allerdings ist
die staerkere Praesenz von tuerkischen Fahnen und Atatuerk-Bildern in
den letzten Tagen auffallend. Doch was hat dies zu bedeuten? Der
Kemalismus selbst ist in der Tuerkei eine ideologisch
widerspruechliche Stroemung, die linkskemalistische wie
rechtskemalistische ("atatuerkistische") Kraefte umfasst und auch
immer wieder zu Fluegelkaempfen in der CHP gefuehrt hat. Zudem sind
viele relativ unpolitische TuerkInnen allein schon aufgrund der
jahrzehntelangen kemalistischen Propaganda so auf den
allgegenwaertigen Republiksgruender fixiert, dass man nicht unbedingt
KemalistIn zu sein braucht um in Mustafa Kemal (Atatuerk) ein Symbol
des Laizismus zu sehen und diesen gegen die AKP in Stellung zu
fuehren.

Zugleich wirkt dies notwendigerweise abschreckend auf die Beteiligung
von KurdInnen (und anderen Minderheiten) an den Protesten. Istanbuler
ArmenierInnen, die meist genau jener Klasse an BildungsbuergerInnen
angehoeren, die zu einem wesentlichen Teil die Proteste tragen,
Aleviten aus Dêrsim oder Alawiten aus Hatay - wo zuletzt ein
zweiundzwanzigjaehriger junger Demonstrant aus der Stadt Samandag
erschossen wurde - haben als Angehoerige religioeser Minderheiten
ohnehin eine starke Skepsis gegenueber dem sunnitischen Politischen
Islam der AKP. Bei sunnitischen KurdInnen ist dies jedoch nicht
notwendigerweise der Fall. Konservative KurdInnen gehoerten in der
Vergangenheit immer wieder zu den WaehlerInnen der AKP und die PKK
befindet sich eben mit dieser AKP in einem Friedensprozess. Der zivile
Arm der kurdischen Nationalbewegung, die BDP (Baris ve Demokrasi
Partisi, Partei des Friedens und der Demokratie), hat sich zwar von
Anfang an an den Protesten fuer den Erhalt des Gezi-Parks beteiligt,
allerdings ist mittlerweile das Unbehagen angesichts einer moeglichen
Gefaehrdung des Friedensprozesses und der kemalistischen Beteiligung
an den Protesten unuebersehbar.

Die Arroganz Recep Tayyip Erdogans, der von seinem Staatsbesuch in
Marokko ausrichten liess, er erwarte sich, dass sich das Problem bis
zu seiner Rueckkehr erledigt haette, haelt diese prekaere
Protestkoalition derzeit noch zusammen. Dass sich daraus dauerhafte
neue Allianzen ergeben, ist jedoch eher unwahrscheinlich. Die Proteste
bieten aber trotz der Gefahr eines kemalistisch-nationalistischen
Backlashs auch Chancen fuer Politisierungen nach links und neue Formen
des Dialogs. Bis jetzt dominieren linke und linksliberale Kraefte die
Proteste. Mit der starken Beteiligung von Gewerkschaften und dem
jetzigen Streik des Gewerkschaftsbundes KESK (Kamu Emekcileri
Sendikaları Konfederasyonu, Konfoederation der im oeffentlichen Dienst
beschaeftigten Arbeiter) mit ihren fast 250.000 Mitgliedern, wird der
fortschrittliche Teil dieser Bewegung jedenfalls weiterhin eine
wichtige Rolle spielen. Wenn "weisse" Tuerken aus der Oberschicht,
relativ unpolitische Gefuehlskemalisten aus den urbanen
Mittelschichten und vielleicht sogar sich als revolutionaere Muslime
verstehende Religioese ploetzlich mit PKK-AnhaengerInnen auf einer
Demonstration ins Gespraech kommen und bemerken, dass die anderen auch
nur Menschen mit eigenen Interessenskonstellationen sind und gemeinsam
mit dem brutalen Autoritarismus des Staates konfrontiert sind, dann
koennen sich daraus auch durchaus spannende neue Debatten ergeben.

Was auf Dauer allerdings wichtiger sein duerfte als der unmittelbare
Erfolg der Proteste ist die Veraenderung in der politischen Kultur der
Tuerkei. Erstmals weist hier nicht das Militaer, sondern die
Zivilgesellschaft die Regierung in die Schranken. Die Proteste
koennten damit die Demokratisierung der Tuerkei weiter vorantreiben
als alle bisherigen Reformen der AKP, egal ob sich Erdogan letztlich
an der Macht halten kann, oder nicht.
*Thomas Schmidinger*

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Weitere Berichte und Analysen aus den letzten zwei Wochen zum Thema
bietet der Blog: https://akinmagazin.wordpress.com/tag/turkei/

akin-Radio: http://cba.fro.at/111018 - Reportage der Wiener
Tuerkeidemo am 1.Juni



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