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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 7. November 2012; 04:44
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Lateinamerika:

> Zum Umgang mit Geschichte

Ein Vergleich der Geschichtsaufarbeitung der Diktaturen in Brasilien
und Argentinien

Die brasilianische Historikerin *Caroline Bauer* (Jahrgang 1983)
erklaert in einem Interview, warum Brasilien sich schwerer tut als
Argentinien, die Diktatur aufzuarbeiten. Die Mechanismen der
Aufarbeitung der Geschichte frueherer Regime sind wohl auch fuer
europaeische Verhaeltnisse nicht uninteressant.
*

Frage: Sie forschen ueber die Militaerdiktaturen in Brasilien (1964
bis 1985) und Argentinien (1976 bis 1983). Was laesst sich in beiden
Faellen ueber die Praxis des Verschwindenlassens von Oppositionellen
zwecks Errichtung eines Terrorregimes sagen?

Bauer: Beide Diktaturen nutzten das Verschwindenlassen als eines der
wichtigsten Mittel, um in der Gesellschaft eine "Kultur der Angst" zu
foerdern. Es ging zum einen um Bestrafung, vor allem aber um eine
Warnung an andere, sich tunlichst nicht mit der Diktatur anzulegen.
Natuerlich waren auch die Angehoerigen und das soziale Umfeld der
Opfer betroffen. Dies hatte einen Vervielfachungseffekt zur Folge
hinsichtlich Angst und Terror.

Frage: Wie gingen Brasilien und Argentinien mit der Frage der
Desaparecidos in der Uebergangsphase zur wiederhergestellten
Demokratie um?

Bauer: Wir muessen zunaechst einmal definieren, ueber welchen Zeitraum
wir reden. In den Uebergangsjahren beispielsweise, als noch immer die
Diktaturen ueber das Geschehen wachten, wurden die Desaparecidos wie
zuvor behandelt: Man bestritt schlicht ihre Existenz. Und als dann
doch zugegeben wurde, dass Menschen verschwunden waren, wurden falsche
und verdreht Darstellungen in der Oeffentlichkeit verbreitet. Nachdem
schliesslich die Amnestiegesetze verkuendet wurden, betrieben die
Uebergangsregierungen eine "Politik des Vergessens": So wurden
Dokumente zerstoert, TaeterInnen erhielten Straffreiheit und es gab
ein regelrechtes "Verbot der Vergangenheit" - in dem Sinn, dass
bestimmte Debatten einfach untersagt wurden, "zum Wohle der kuenftigen
Demokratie".

In Argentinien jedoch aendert sich die Situation waehrend der ersten
zivilen Regierung nach der Diktatur einschneidend. Ab der Regierung
von Raúl Alfonsín gilt die "Herrschaft des Gesetzes", und die
Befehlshaber der Militaerjuntas werden vor Gericht gestellt. Ausserdem
wird die Nationale Kommission fuer das Verschwinden von Personen
Conadep (Comisión Nacional sobre la Desaparición de las Personas) ins
Leben gerufen. Sie soll Faelle von Verschwundenen untersuchen: die
Umstaende, die verwickelten Personen usw. Die Rueckkehr Argentiniens
zur Demokratie vollzieht sich also in Gestalt eines Bruchs mit der
diktatorischen Vergangenheit. Das Recht auf Erinnerung wird ebenso
garantiert wie das Recht auf Wahrheit und jenes auf Gerechtigkeit. Das
neue politische Regime arbeitet unter neuen ethischen und moralischen
Parametern.

In Brasilien hingegen, wo sich der politische Uebergang in vielerlei
Hinsicht staerker im Zeichen der Kontinuitaet vollzog, gab es unter
der ersten Zivilregierung keine Veraenderungen der Politik
hinsichtlich der Diktatur. Praesident José Sarney war mit dem alten
Regime verbunden. Ausserdem wurde die brasilianische Verfassung erst
1988 veraendert. In einigen Bundesstaaten dauerte es sogar bis Anfang
der 1990er Jahre bis der Geheimdienst der Diktatur, der Nationale
Informationsdienst SNI (Serviço Nacional de Informações) und die
Abteilungen fuer politische und soziale Ordnung DOPS (Departamentos de
Ordem Política e Social) aufgeloest wurden. Wie ist unter diesen
Umstaenden an eine Politik der Erinnerung und Wiedergutmachung fuer
die Desaparecidos der brasilianischen Diktatur zu denken?

Frage: Wie sehen Sie die Wiederaufnahme der Diskussionen ueber die
Diktatur unter den Regierungen Lula und Kirchner? Wodurch wurde ihr
jeweiliges politisches Handeln bestimmt?

Bauer: Beide Praesidenten nahmen die Debatte wieder auf, zunaechst
einmal aufgrund der persoenlichen Verbindung Lulas und Kirchners zur
Thematik: Beide befanden sich in der Opposition gegen die Diktatur.
Die Erinnerungsveranstaltungen zum 30. Jahrestag des Putsches in
Argentinien 2006 und zum 40. Jahrestag des Beginns der
Militaerdiktatur in Brasilien 2004 waren von grundlegender Bedeutung
dafuer, dass die Gesellschaft von der Regierung eine echte
Erinnerungspolitik bezueglich der Desaparecidos einfordern konnte.

Es kam zu einem sehr wichtigen Wechsel der Generationen, der dafuer
sorgte, dass neue Zweifel angemeldet wurden und ueber die Richtung
nachgedacht wurde, die Argentinien und Brasilien bei der Foerderung
der Menschenrechte einschlagen sollten. Und erneut unterschieden sich
die Massnahmen ziemlich deutlich, die beide Laender in diesem
Zusammenhang ergriffen. Waehrend Praesident Kirchner die Eroeffnung
von Prozessen gegen Zivilisten und Militaers anordnete, die in die
Finanzierung und die Repression der Diktatur verwickelt waren, nahm
Praesident Lula gegenueber den brasilianischen Streitkraeften eine
versoehnlichere Haltung ein. Die Archive der Diktatur wurden
geoeffnet, eine Amnestiekommission und eine Sonderkommission fuer
Desaparecidos und aus politischen Gruenden ums Leben Gekommene
eingerichtet.

Frage: Ueber welches politische und historische Gewicht verfuegen die
Militaers in Argentinien und Brasilien bei der Diskussion ueber die
Diktatur?

Bauer: Der grosse Unterschied zwischen Argentinien und Brasilien
hinsichtlich der Diktatur-Darstellungen ihrer jeweiligen Militaers
besteht in der gesellschaftlichen Legitimitaet, die ihre Diskurse
aufweisen. In Argentinien ist es ein Verbrechen, die Diktatur zu
rechtfertigen, zu leugnen oder einem Revisionismus zu froenen. In
Brasilien hingegen geniessen die repressiven Handlungen der Diktatur
eine grosse Akzeptanz bei einem nicht unbetraechtlichen Teil der
Bevoelkerung. Diesem Verstaendnis nach waren die autoritaeren
Praktiken und die Verletzung der Menschenrechte um einer "groesseren
Sache" willen gerechtfertigt. Diese Sache traegt den Namen
"Bekaempfung der Subversion" - demnach ging es darum, Brasilien von
der "kommunistischen Bedrohung" zu befreien.

Frage: In welchem Masse konnte die Erinnerungspolitik dieses Zeitraums
dazu beitragen, das Geschehen waehrend der Diktatur aufzuklaeren?

Bauer: Ein Beispiel macht die Unterschiede zwischen Argentinien und
Brasilien sehr deutlich. In Argentinien wurde die Wahrheitskommission
bereits wenige Tage nach Ende der Diktatur in ihre Arbeit eingesetzt.
In Brasilien dagegen dauerte es - trotz der Arbeit der erwaehnten
Kommissionen - geschlagene 26 Jahre, bis eine Wahrheitskommission die
Untersuchungen aufnahm. Und selbst hierfuer musste erst einmal der
Widerstand der konservativsten Kreise der brasilianischen Politik
ueberwunden werden.

Frage: Wie sehen Sie die Einrichtung der Wahrheitskommission in
Brasilien? Gibt es wirklich den Versuch, die Diktatur aufzuarbeiten?

Bauer: Eine Wahrheitskommission hat nur dann Nutzen fuer eine
Gesellschaft, wenn ihre Arbeit unter einer guten Fuehrung steht, und
ihre Empfehlungen von der Politik auch befolgt werden. Der
Gesetzestext ist auf jeden Fall sehr eindeutig, was die Vorgabe
betrifft, die vom Staat waehrend der Diktatur begangenen Verbrechen
aufzuklaeren. Von dieser Seite her unterliegt die Arbeit der
Wahrheitskommission daher keinen Begrenzungen. Aus meiner Sicht
bemuehen sich die Mitglieder der Kommission, dass es bei der
Aufarbeitung und der Klaerung der Verantwortlichkeiten zu keinen
anders gearteten Behinderungen kommt.

Interview: Instituto Humanitas Unisinos

Quelle: adital/poonal:
http://www.npla.de/index.php?option=com_acymailing&ctrl=url&urlid=1233&mailid=122&subid=226



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