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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 7. November 2012; 04:35
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Asyl/Migration/Initiativen:
> Das Boot ist toll
Der Aufbruch aus dem Sueden und die neue transmediterrane Solidaritaet
Mit der Boats4People Kampagne (B4P) ist es in diesem Sommer gelungen, 
ein weiteres transnationales Netzwerk ueber das westliche Mittelmeer 
hinweg aufzubauen. Die Westafrika-Karawane von Bamako nach Dakar hatte 
letztes Jahr den ersten Schritt getan. Nun also das Mittelmeer: das 
erste Ziel ist die Installierung eines alternativen Notrufsystems fuer 
boat people. Langfristig geht es um den Zusammenschluss der sozialen 
Kaempfe rund ums Mittelmeer. Das Aufbegehren gegen die Verarmung, wie 
in Griechenland und Spanien, findet weiter suedlich schon seit 
mehreren Jahrzehnten statt. Das ist der Hintergrund der EU-Abschottung 
gegen den Sueden.
1981 hiess es "Berlin, Zuerich, Brixton!" Eine Welle von 
Hausbesetzungen und Stadtteilunruhen erfasste die europaeische 
Metropolen. Als 1983/1984 die sogenannten Brotrevolten in Nordafrika 
begannen und nach wenigen Tagen mit Zugestaendnissen und Repression 
niedergeschlagen wurden - in Tunesien gab es mehr als 150 Tote! - , 
war das der Start fuer einen neuen Internationalismus in Europa. Der 
Bezug auf nationale Befreiungsbewegungen war obsolet geworden. Die 
Staaten, die gegen den europaeischen Kolonialismus ihre 
Unabhaengigkeit erlangt hatten, hatten auf Kosten der Landbevoelkerung 
die nachholende Entwicklung forciert und waren damit wirtschaftlich 
gescheitert. Sie akzeptierten die Strukturanpassungsprogramme des 
Internationalen Waehrungsfonds (IWF) und strichen die 
Lebensmittelsubventionen. Das war der Ausloeser der Brotrevolten.
Doch dem metropolitanen neuen Internationalismus gelang es nicht, 
Bruecken ueber das Mittelmeer zu schlagen. Es gelang nicht einmal, die 
Kontinuitaet der sozialen Kaempfe im Maghreb nachzuzeichnen und tiefer 
zu verstehen. Erst in diesen Jahren erscheinen in Europa hervorragende 
Interviews mit geflohenen AktivistInnen aus dem Maghreb, mit genauen 
Bildern dieses anhaltenden, so oft unterdrueckten Kampfzyklus, siehe 
z.B. das Interview mit Khaled Garbi Ben Ammar. Er studierte Ende der 
1970er Jahre in Tunesien, wurde dann verbannt und floh schliesslich 
1990 nach Europa (http://uninomade.org/). 
Ben Ammar spricht davon, wie 
mobil die Studierenden, Arbeitenden und Arbeitslosen in den 1980er 
Jahren waren, staendig unterwegs, um bei Streiks und Demonstrationen 
mitzumachen, auszuhelfen und um gemeinsam zu diskutieren. Davon drang 
kaum etwas nach Europa. Und das lag, soviel ist sicher, bereits damals 
an der verdrehten Wahrnehmung in Europa: Nordafrika wurde mit 
Islamismus gleichgesetzt.
Seit Ende der 1970er Jahre hatten die arabischen Staaten einen 
bequemen Feind "erfunden", die IslamistInnen. Zahlreiche 
Querverbindungen existieren zwischen dem laizistischen Regierungs- und 
dem oppositionellem Islamismus-Lager. Erst beteiligten sich die 
Islamisten an der Zerschlagung der Sozialrevolten, dann wurden einige 
Fraktionen von ihnen selbst blutig unterdrueckt.
Das lange Schweigen der europaeischen Linken
1988 fand in Bremen der Kongress zum neuen Internationalismus und in 
West-Berlin der Anti-IWF-Kongress statt. Abertausende beteiligten 
sich. Kurz danach, im Oktober 1988, ging die Jugend in Algerien 
landesweit zum Aufstand ueber. Die Armutsbevoelkerung war rundum 
dabei. Es waren Jugendliche wie in Berlin, mit aehnlichen Ideen - nur 
viel aermer und ausgehungert von den IWF-Auflagen. Polizei und 
Militaer schlugen den Aufstand nieder. Es gab ca. 500 Tote. Das 
Schweigen der metropolitanen Linken war beschaemend. Den Rest des 
Aufstands sammelten die Islamisten ein und gewannen die Wahlen. 
Daraufhin putschten 1992 die Militaers mit stillem westlichen Segen, 
und es begann ein furchtbarer Buergerkrieg, dessen Aufarbeitung bis 
heute in Algerien strafrechtlich verboten ist.
Wer damals ueber das Mittelmeer fluechtete, traf noch nicht auf 
Frontex. Viele suedeuropaeische Laender hatten gegenueber den 
MaghrebinerInnen noch keine Visapflicht verhaengt. Schengen und die 
Festung Europa funktionierten am Mittelmeer noch nicht. Das einzige 
grosse Hindernis war die Ausreise aus dem Maghreb, denn man bekam nur 
schwer einen Pass; die heimliche Ausreise war aber damals 
strafrechtlich nicht verboten. In allen westeuropaeischen Laendern 
liefen von den 1960er bis in die 1980er Jahre die Legalisierungen 
individuell, unter der Hand, als Massnahme zur Integration in den 
"Gastarbeiter"-Fabrikarbeitsmarkt.
Mit den 1990er Jahren und erst recht nach dem 9/11 (2001) gingen die 
nordafrikanischen Regimes entsprechend dem US-Antiterrorismus zu einem 
ausgefeilten System praeventiver Repression in ihren eigenen Laendern 
ueber. Verhaftung und Folter drohten bereits, wenn man in Verdacht 
geriet, nicht denunziert zu haben. Verdaechtig war jede Art von 
Versammlung, nicht nur die von IslamistInnen. Unter Ben Ali 
(1987-2011) gab es ueber 30.000 politische Gefangene - bei einer 
tunesischen Bevoelkerung von 9 Mio. Menschen. Schliesslich waren die 
Organisationen zerschlagen. Der Widerstand gegen die Verarmung 
verlegte sich auf alltaegliche und informelle Zusammenhaenge.
Gleichzeitig begann die EU, nach Sueden auszugreifen. Libyen wurde 
2003 aus der internationalen Isolierung entlassen und erhielt Geld 
durch die Privatisierung der Erdoelfoerderung. Tunesien und Marokko 
wurde eine groessere wirtschaftliche Foerdernaehe zur EU versprochen. 
Anders als die EU-Osterweiterung, die eine allmaehliche Angleichung 
der Lebensverhaeltnisse brachte, kam es gegenueber dem maghrebinischen 
Sueden zu einer sozialgeographischen Frontbildung bei wachsendem 
EU-Einfluss. Der Wohlstands-/Armutsgraben am Mittelmeer erreichte 
einen Einkommensunterschied von bis zu 1:10. In der Jahrtausende alten 
Mittelmeergeschichte befoerderte das eine nie gekannte soziale 
Spaltung zwischen Nord und Sued.
Das Containment gegenueber den "gefaehrlichen Klassen" in Nordafrika 
bildete die Grundlage der ersten EU-Sicherheitsdoktrin und 
EU-Nachbarschaftspolitik (beide 2003). Die Migrationsabwehr stieg zum 
gemeinsamen politischen Mantra auf. Mit neuen Gesetzen zu Aufenthalt 
und Grenzueberschreitung gingen die nordafrikanischen Staaten ab 
2003/2004 daran, die freie Ausreise unter Strafe zu stellen, die 
"Auslaender" staerker zu ueberwachen und Razzien durchzufuehren. Die 
nordafrikanische Kuesten- und Meeresueberwachung wurde mit Suedeuropa 
und der entstehenden Frontex-Agentur koordiniert.
Das war der Kontext, in dem Blair, Schily und Berlusconi zum Aufbau 
von EU-Fluechtlingslagern in Nordafrika draengten. Die dortigen 
Staaten nahmen die EU-Lager-Gelder und ruesteten unter eigener Regie 
ihre Gefaengnisse und Lager zu Abschiebe-Einrichtungen um. 2005 riefen 
wir - die Forschungsgesellschaft Flucht und Migration mit dem Komitee 
fuer Grundrechte - zu Protesten gegen diese Exterritorialisierung auf, 
zeitgleich mit dem franzoesischsprachigen Netzwerk migreurop. 
(http://www.ffm-berlin.de/aufrufdeutsch.pdf, 
2005) Aber es gelang uns 
nicht, einen transnationalen Austausch zum Thema aufzubauen.
Nachdem die Meerenge von Gibraltar auf das Schaerfste ueberwacht 
wurde, verlegten sich immer mehr boat people seit 2003/2004 auf die 
Ueberquerung des Kanals von Sizilien. Die italienische Regierung rief 
auf Lampedusa den Notstand aus. Die EU begann mithilfe von Frontex, 
militaerische Ueberwachungstechnik ueber dem Meer einzusetzen.
Boat people im Mittelmeer gab es, seitdem die EU um 1990/91 die 
Visapflicht fuer alle Menschen aus den suedlichen 
Mittelmeer-Anrainerstaaten eingefuehrt hatte. Seitdem hat sich das 
Mittelmeer in den groessten Friedhof Westeuropas in der Nachkriegszeit 
verwandelt. Mit der neuen High-Tech-Blockade und den zunehmenden 
Abschiebungen auf Hoher See Richtung Libyen (ab 2004/2005) stieg dann 
die Zahl toter Boat-people nochmals enorm an.
2004 rettete das Frachtschiff Cap Anamur der gleichnamigen 
Hilfsorganisation 37 Fluechtlinge im Kanal von Sizilien. Das war das 
erste Signal, dass der Widerstand gegen die Festung Europa mit dem 
Aufbau eines Rettungssystems im Mittelmeer neu beginnen muesste. Der 
Versuch wurde damals polizeilich-juristisch zerschlagen, von der 
europaeischen Linken nicht verstanden (denunziert als "humanitaere 
Show") und blieb ohne transnationalen oder gar transmediterranen 
Rueckhalt.
Neue Solidaritaetsnetzwerke
Schon die transnationale Karawane in Westafrika 2011 kuendigte an, 
dass der neue Internationalismus nun doch praktisch Fuss fassen 
wuerde. Eine zentrale Rolle spielen MigrantInnen, Fremdsprachenkundige 
und mobile Jugendliche, die ihr soziales Dorf der Freundschaften und 
des Austauschs ueber tausende Kilometer zu spannen wissen.
Als die EU auf die Rebellion mit Militarisierung, Schiffsblockade und 
Frontex-Einsatz im Kanal von Sizilien antwortete, kam es 2011 zu einem 
zweiten Hoehepunkt der Zahl toter Boat-people. Erstmals dokumentierbar 
war die unterlassene Hilfeleistung. Unter den High-Tech-Augen der EU 
und der Nato verdursteten und ertranken die Fluechtlinge auf See. 
Inzwischen gibt es aktive soziale wie politische Kontakte quer ueber 
das westliche Mittelmeer. Und die billige High-Tech befindet sich 
inzwischen auch in der Hand von Fluechtlingen, MigrantInnen, 
Rebellierenden und noborder-AktivistInnen. Daraus entstand die 
Kampagne Boats4People, Wochen der reisenden Begegnung und 
Diskussionen - und damit auch der Aufbau eines alternativen 
Notrufsystems: WatchTheMed.
Bleibt am Schluss zu resuemieren: Die alte Fluechtlingshilfe mit 
Wurzeln im juedischen Widerstand gegen nationalsozialistische 
Verfolgung, weiter entwickelt im Algerienkrieg und in den 
Unabhaengigkeitskaempfen als Menschen auf der Flucht wie auch 
AktivistInnen unterstuetzt wurden; neu definiert als GI-Deserteure 
waehrend des Vietnamkriegs versteckt werden mussten - sie bleibt 
Vorbild. Aber Boats4People vermeidet manche Fehler aus den 1970er 
Jahren: Zwar bezieht sich B4P auch auf alternative Organisationen wie 
attac in Nordafrika, aber verengt den Blick nicht auf die Suche nach 
politischen Bruder- oder Schwesterorganisationen. Die Fluchthilfe 
bietet die breiter angelegte Chance, eine Bruecke zwischen den 
sozialen Kaempfen uebers Mittelmeer zu schlagen.
(Helmut Dietrich in: ak 574 vom 17.8.2012)
Aus Analyse und Kritik, Nr.574, August 2012. http://www.akweb.de
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Ein Beispiel:
> Faehren-Assamblea zwischen den Welten
"Wenn wir nicht genug Boote fuer die AktivistInnen haben, nehmen wir 
die Faehre von Palermo nach Tunis." Der Vorschlag hatte zunaechst 
einen pragmatischen Hintergrund, den Mangel an ausreichend Booten, 
zudem waren auch schon bei frueheren Noborder-Aktivitaeten - wie 2009 
auf Lesbos - Faehrschiffe fuer Proteste genutzt worden.
Nette Transparentaktionen beim Auslaufen aus Palermo und der Ankunft 
in Tunis gab es dann auch dieses Mal, doch dass die 10-Stunden-Faehre 
zu einer der interessantesten B4P-Stationen wurde, lag an einem 
Zusammentreffen der besonderen Art. Einerseits waren da die Passagiere 
zu ueber 90% tunesische MigrantInnen, die vor allem aus Italien, aber 
auch aus anderen europaeischen Laendern zum Urlaub oder Familienbesuch 
in ihr Herkunftsland uebersetzten. Und andererseits gab es eine ca. 
40-koepfige transnationale Reisegruppe von B4P, mit mehrsprachigem 
Infomaterial und Lautsprecheranlage ausgeruestet und neugierig auf 
eben die Migrationsgeschichten, die fast alle Passagiere im Gepaeck 
hatten.
Der Funke sprang ueber: Viele B4P-AktivistInnen fanden sich schnell in 
zahlreichen kleinen, zumeist sehr spannenden Gespraechsrunden wieder, 
und luden dabei zu einer Versammlung spaeter auf Deck ein. Der 
Zuspruch zu dieser aussergewoehnlichen Assamblea mit offenem Mikrophon 
war grossartig: Es waren stets rund 60 bis 80 Leute anwesend. 
Beitraege und Diskussionen ueber Reichtumsgefaelle, Rassismus und 
Reisefreiheit, um nur ein paar Themen zu nennen, liefen in 
italienisch, arabisch und franzoesisch. "Die Grenze ist das Problem" - 
aus unterschiedlichen Blickwinkeln lag hier der ausgesprochene 
Konsens.
Als grass roots-Aktion und -Kommunikation im besten Sinne kann 
bezeichnet werden, was am 7. Juli auf dieser Faehre stattfand, einem 
Ort, der symbolisch wie praktisch die beiden Welten verbindet, 
zwischen denen so viele Menschen sich bewegen. Ein Ort aller 
moeglichen und unmoeglichen Erfahrungen und Geschichten und damit der 
Produktion sozialen Wissens, das viel oefter direkten Eingang in die 
politischen Kaempfe gegen das Grenzregime finden sollte.
(transact.noblogs.org)
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Alles ueber Boats4people, mit Berichten und Bildern von den Stationen 
in Cecina, Palermo, Tunis, Monastir und Lampedusa sowie 
Presse-Kommuniques und unterschiedlichste Infos, lassen sich nachlesen 
auf:
http://www.boats4peopie.org;
http://www.ffm-online.org;
http://afrique-europe-interact.net
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