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akin-Pressedienst.
Aussendungszeitpunkt: Mittwoch, 31. Oktober 2012; 16:33
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International:
> "Sozialismus mit chinesischen Charakteristika"
Ein China-Tagebuch, Teil 1. *Hermann Dworczak* berichtet anlaesslich 
einer Vortragsreise.
17.10.2012
Nach einer urlangen Reise von Wien nach Nanching -- ich musste in 
Beijing am Flughafen 5 Stunden warten -- hatte ich heute auf der Audit 
Universitaet in Nanjing meiner ersten "Arbeitstag".
Das Thema meiner Vorlesung war: "Die Krisen in Europa -- Die Antworten 
der Linken". Ich entwickelte in vier Thesen meine Position: Die Krisen 
des Kapitalismus sind kombiniert und daher in ihren Auswirkungen viel 
staerker als in der Vergangenheit; die neoliberale Politik der 
Regierungen verstaerkt die Krisen; die unzureichende Antwort des 
Neokeynsianismus; die unterschiedlichen Antworten der Linken -- die 
nationalistische der stalinistischen griechischen KP; die 
internationalistischen Antworten der radikalen Linken bzw. von Teilen 
der Sozialforumsbewegung. Ich legte schliesslich dar, warum ich der 
Meinung bin, dass innerhalb des kapitalistischen Rahmens keine 
wirkliche Loesung der Krisen moeglich ist und warum es daher notwendig 
ist "ueber diesen engen Rahmen hinauszudenken, den Kampf um eine 
sozialistische Gesellschaftsordnung wieder voll ins politische 
Tagesprogramm zu integrieren".
Die Debatte war spannend und kontroversiell -- etwa ueber meinen 
Vorschlag Griechenlands Schulden vollstaendig zu streichen. Aus 
einigen Aeusserungen konnte man/frau entnehmen, dass die Ideologie 
"die Griechen sind selbst schuld an der Misere" auch in China Fuss 
gefasst hat. Sehr interessant war auch die Diskussion ueber die 
politische Zukunft der Europaeischen Union -- etwa ueber die 
spezifischen Interessen des britischen Imperialismus. Richtig "heiss" 
wurde es jedoch, als ich die unruehmliche Praxis chinesischer Firmen 
in Griechenland ansprach: die chinesische Company Cosco hat -- gegen 
den Willen der ArbeiterInnen -- die Haelfte des -- bisher 
oeffentlichen -- Hafens in Piraeus gekauft und dort ein extrem rigides 
"Modell" eingefuehrt: Entlassungen um "die Produktivitaet zu 
steigern", Abbau von Gesundheitsschutz, wenig bis keine 
Gewerkschaftsrechte etc. Nach Einschaetzung eines Teilnehmers unserer 
Debatte ging das Match fifty: fifty aus -- was heisst, dass sich nur 
die Haelfte der Diskutanten in dem universitaeren Bereich 
"ideologische und politische Theorie fuer internationale Theorie" fuer 
eine solidarische, internationalistische Position entschied. Wahrlich 
kein berauschendes Resultat in einem Land , dass sich auf den 
"Sozialismus" beruft.
20.10.2012
Der neue Campus der Audit-Universitaet in Nanjing, auf der ich 
referierte, spielt alle Stueckeln. Studieren in China ist jedoch alles 
andere als ein Honiglecken -- vor allem was die finanzielle Seite 
betrifft.
Die Audit-Universitaet gibt es seit rund dreissig Jahren. Der aeltere 
Teil im Stadtzentrum beherbergt 3.000 StudentInnen, auf dem 2008 
fertiggestellten Campus sind 20.000 StudentInnen untergebracht. Nur 
rund 3.000 haben Audit (Rechnungswesen) belegt. Insgesamt verfuegt die 
Uni ueber 13 Departements mit nichtnaturwissenschaftlicher bzw. 
nichtmedizinischer Ausrichtung.
Die Anlage der Uni ist schlicht eine Wucht -- mit viel Gruen und 
Teichen zwischen den Gebaeuden. Die Atmosphaere erscheint mir 
locker -- auch wenn die Blocks fuer Studentinnen getrennt sind von 
denen der Studenten.
So weit so gut. Auf meine Fragen erhalte ich auch Antworten, die 
weniger optimistisch stimmen. Das Studium ist stark verschult -- wie 
bei uns gespickt mit vielen Tests, Pruefungen etc.
Finanziell kann von "freiem Studium" ueberhaupt keine Rede sein. Die 
Jahres-Kosten des Studiums (Studiengebuehren, Unterkunft, Essen,...) 
belaufen sich auf rund 20.000 Yuan (1 Euro sind etwas mehr als acht 
Yuan), also in etwa 2500 Euro. Zur Orientierung: ein durchschnittlich 
qualifizierter Arbeiter verdient im Monat rund 2.500-3.000 Yuan. Fuer 
viele StudentInnen ist diese Summe absolut unerschwinglich -- also 
muss die ganze Familie kraeftig herhalten, wird "nebenbei" gejobbt 
etc. Auch das Stipendienwesen hilft nicht wirklich. Bei den -- je nach 
finanziellem Background und Leistung -- gestaffelten Stipendien liegt 
die Obergrenze bei 10.000 Yuan. 10.000 Yuan muessen also in jedem Fall 
selbst aufgebracht werden.
Als ich in die Gespraeche und Diskussionen einbrachte, dass Bildung 
eigentlich generell kostenlos sein sollte, wird mir gesagt, dass diese 
Forderung schon mehrmals erhoben wurde, aber am Widerstand der 
Regierung scheiterte.
Interessant auch ein weiterer Aspekt: waehrend frueher ein Studium 
eher nicht als "etwas Besonderes" stilisiert wurde, webt jetzt die 
Regierung an einem "Elite"schleier. Und leider -- so wurde mir 
gesagt -- verfaengt diese Ideologie zunehmend unter der 
StudentInnenschaft.
22.10.2012
Zweifelsohne hat China in den beiden letzten Jahrzehnten oekonomisch 
maechtig zugelegt. Jaehrliche Wachstumsraten um die 10 Prozent -- im 
aktuellen 3.Quartal 7,4 Prozent -- lassen die "China-Experten" nur so 
staunen. Auch bei der Reduktion der Armut im Lande gab es 
betraechtliche Fortschritte. So gelang es in dem 1,4 Milliarden 
EinwohnerInnen zaehlenden Land die extreme Armut bei 250 Millionen 
Menschen zu reduzieren.
Zumindest in den oestlichen Regionen ist die Versorgungslage gut. In 
Qingdao -- auch international wegen seines Biers bekannt -- gehe ich 
in einen Supermarkt in einem Viertel, wo nicht die Gestopften mit 
ihren Glitzerpalaesten und Luxuskarrossen wohnen. Das Warenangebot ist 
breit -- wenn auch nicht fuer alle erschwinglich. Ein halbes Kilo 
Zwetschken kostet 7,90 Yuan, etwas weniger als ein Euro -- bei einem 
ArbeiterInneneinkommen von 2500-3000 Yuan nicht gerade wenig.
Trotz der Aufwaertstrends ist China nach wie vor -- auch in der 
offiziellen Selbsteinschaetzung(!) ein "Entwicklungsland". Die 
Mehrheit der Bevoelkerung lebt auf dem Land. Auch wenn es dort 
Verbesserungen gegeben hat, von einem generellen "take off" des Landes 
kann keine Rede sein. Nur von einer "Unterentwicklung des inneren 
Marktes" zu sprechen waere eine glatte Untertreibung.
Der oekonomische Fortschritt ist das Ergebnis einer massiven Reform- 
und Oeffnungspolitik. "Reform" meint starkes Setzen auf den "Markt". 
"Oeffnung" erfolgt in weit ausholender Manier gegenueber dem 
inlaendischen und auslaendischen Kapital.
China zaehlt zu den Laendern mit dem staerksten Auseinanderklaffen der 
Einkommensschere. Die Arbeitsbedingungen in den -- multinationalen --  
Konzernen sind schlicht beschaemend: die Zustaende bei Foxconn, die zu 
einer Serie von Selbstmorden unter den Beschaeftigten fuehrten, haben 
international fuer Schlagzeilen gesorgt. Geaendert hat sich bei 
Foxconn nicht viel, dafuer liess die Firmenleitung an den Gebaeuden 
Netze anbringen, damit es bei Selbstmordversuchen keine weiteren Toten 
gibt...
Bei mehreren Gelegenheiten habe ich waehrend meines China-Aufenthalts 
diese Dinge problematisiert. Ich betonte stets, dass in einer 
"Uebergangsgesellschaft" zum Sozialismus auf Marktmechanismen NICHT 
verzichtet werden kann. Ich erwaehnte auch die Lage in der jungen 
Sowjetunion -- Einfuehrung der "Neuen Oekonomischen Politik" (NEP), 
die damaligen, offen ausgetragenen Debatten und die katastrophalen 
Folgen der exzessiven Anwendung der "Reform"politik unter der Aegide 
von Stalin/Bucharin, die die Parole "Bereichert Euch!" ausgeben 
hatten.
Bei offiziellen Repraesentanten -- auch im Uni-Bereich -- gibt es fuer 
solche Argumente meist nur die kalte Schulter. Ein beliebtes 
Argumentationsmuster lautet: "Ja, es gibt da und dort Probleme, aber 
im Kern hat die Partei die Dinge im Griff". Konkreten Debatten wird 
gerne ausgewichen. Wenn ich etwa an Hand von Beispielen wie privatem 
Wohnungsbau, Stadtplanung, Ueberhandnehmen des Individualverkehrs, 
Kommerzialisierung in immer mehr Bereichen etc. unterstrich, dass das 
Kapital einer ganz anderen gesellschaftlichen Entwicklungs-Logik folgt 
und nicht ueber Jahrzehnte hinweg "zur Entwicklung der 
Produktivkraefte ausgenutzt werden kann", hoerte ich nur allzuoft ganz 
allgemein und unverbindlich: "Die Enwicklungsrichtung stimmt schon, 
und wie lange der Weg zum Sozialismus dauert, kann niemend sagen."
Mittlerweile haben auch Kapitalisten in der KP Chinas ihren Platz. Die 
neuen, am kommenden Parteitag (Beginn 8.November) zu waehlenden 
Fuehrer haben schon jetzt angekuendigt, dass sie noch weiter in 
Richtung "Reformen" gehen werden.
Realistischerweise muss man/frau sagen, dass es nur wenig sichtbaren 
Widerstand gegen diese Negativ-Entwicklung gibt. Das rigide politische 
System laesst kaum Spielraum. Die ArbeiterInnenproteste der letzten 
Jahre sind zwar ein erstes Fanal, aber verbleiben zumeist auf der 
"gewerkschaftlichen" Betriebsebene.
Im akademischen Bereich gibt es einige interessante diesbezuegliche 
Debatten. Wenn ich am Ende meiner speakers-tour nach Beijing komme, 
werde ich in der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften 
(CASS) -- von der ich eingeladen wurde -- im Departement Marxismus 
folgenden Vorschlag unterbreiten: Angesichts der Tatsache, dass in 
Laendern wie China, Vietnam und Cuba aehnliche Debatten ueber 
"Marktreformen" gefuehrt werden, erscheint es sinnvoll, eine breit 
angelegte internationale Konferenz ueber die "Zukunft des Sozialismus" 
zu organisieren. Ich bin schon gespannt, wie die Reaktionen auf meinen 
Vorschlag sein werden...
26.10.2012
Egal wo und worueber ich bislang waehrend meiner Speakers-Tour in 
China referierte, gut 80 Prozent der ZuhoererInnen wollten wissen, wie 
es in China (mit dem Sozialismus) weitergeht.
Meine dreiwoechige Speakers-Tour in China fuehrte mich bisher nach 
Nanjing, Qingdao und Rizhao. Shanghai und Beijing stehen noch bevor. 
Ich referierte auf Unis ueber "Die Krisen in Europa -- Die Antwort der 
Linken" bzw. "Die Methode der Kritik der Politischen Oekonomie". 
Dieses erkenntnistheoretische Thema meiner Dissertation behandelt die 
spezifische Methode mit der Marx "Das Kapital" schrieb (insbesondere 
das fuer das Verstehen sozialer Prozesse notwendige "Aufsteigen vom 
Abstrakten zum Konkreten").
Ich fand jeweils eine sehr interessierte und diskussionsfreudige 
ZuhoerInnenschaft vor. Einige wenige Fragen bezogen sich auch auf die 
zentralen Punkte meiner Vorlesungen. So wurde ich gefragt, ob es in 
Frankreich nach der Wahl Hollandes eine wesentliche Kursaenderung 
gegeben habe -- was ich an Hand einiger konkreter Beispiele verneinte. 
Ein weiterer Punkt war, ob Marx nur in den entwickelten 
kapitalistischen Laendern eine Revolution erwartet haette.
Gut 80 Prozent bezogen sich jedoch auf China -- die aktuelle Lage im 
Land und seine oekonomische und politische Zukunft. Meistens war zu 
wenig Zeit, um alle Fragen ausfuehrlich beantworten zu koennen.
Dauerbrenner bei Diskussionen war, wie mit dem "Markt" umzugehen sei 
und ob denn nun China ein sozialistisches Land sei. Ich fuehrte aus, 
dass JEDE "Uebergangsgesellschaft zum Sozialismus" auf Marktelemente 
nicht verzichten kann - nicht einmal reiche Laender wie Deutschland, 
wenn es dort einmal zu revolutionaeren Veraenderungen kommen sollte. 
Erst recht kann China - ein Land mit einem viel niedrigeren 
Entwicklungsstand der Produktivkraefte - Marktelemente nicht 
ausschliessen. Die konkret zu behandelnde Kardinalfrage ist, WIE WEIT 
auf die "unsichtbare Hand" (Adam Smith) gesetzt wird. Was in China 
aktuell zu beobachten ist, ist ein regelrechter Wildwuchs des 
Marktes - bis hin zu (Monopol)kapitalismus der schlimmsten 
Auspraegung! Und ich legte dar, dass nicht durch eine lineare 
Entwicklung des status quo "in den Sozialismus hineingewachsen werden 
kann", weil Kapital und gesellschaftliches Eigentum einer GAeNZLICH 
ANDEREN (Entwicklungs)logik folgen: Profit versus Befriedigung 
gesellschaftlicher Beduerfnisse.
Eh klar, dass ich darauf gefragt wurde, was konkret zu machen waere. 
An Hand von 2 Beispielen versuchte ich -- ohne mich zum "China-Kenner" 
aufzuspielen -- die Probleme dingfest zu machen. Das erste, was einem 
in Chinas Grossstaedten unangenehm auffaellt, ist das gigantische 
Ausmass des Individualverkehrs und die durch eine Unzahl von 
Stadtautobahnen geschaffene "Unwirtlichkeit der Staedte" (Alexander 
Mitscherlich). Freunde in Qingdao erzaehlten mir, dass schon seit fast 
20 Jahren dort an Plaenen fuer eine U-Bahn gebastelt werde, aber es 
bisher keinen einzigen Kilometer Metro gaebe! Mein Argument: Anstatt 
zentral "aufs Auto zu setzen" und die Individualverkehrshoelle weiter 
anzuheizen - rasche und verstaerkte Investitionen in den oeffentlichen 
Verkehr (Metro, Nahverkehrszuege,...).
Zweites Beispiel: selbst die zentralen Nachrichten sind Opfer der 
voellig aus dem Ruder gelaufenen Kommerzialisierung von immer mehr 
Lebensbereichen. Auf Kanal CCTV 13 gibt es am Beginn, einige Male 
waehrend und am Ende der Nachrichten Werbung! Ich formulierte deftig: 
dieser Unfug (der allerdings Methode hat!) gehoert schleunigst 
abgestellt.
Angesichts der weitgehenden Konzentration des "Reichtums" Chinas im 
Osten des Landes, des einseitigen Export-"Modells", das den inneren 
Markt straeflich vernachlaessigt, der undemokratischen Zustaende (Marx 
wurde nicht muede von der SELBSTtaetigkeit der ArbeiterInnen zu 
sprechen und eben NICHT von einer Zwangsbeglueckung von oben!) kann 
von einem "bereits erreichten Sozialismus" keine Rede sein.
Nich unerwaehnt moechte ich lassen, wie die Ohren gespitzt wurden, als 
ich das Thema "Marx und Natur" anriss -- etwa seine beruehmte Kritik 
am Arbeitsfetischismus der deutschen Sozialdemokratie ("Kritik des 
Gothaer Programms"), der die Natur schlicht "vergessen" hatte. 
Oekologie ist offenkundig auch fuer die chinesische Linke ein 
zentraler Fokus.
27.10.2012
Neben meinen Uni-Vortraegen und Diskussionen mit meinen linken 
FreundInnen versuche ich mir ein Bild vom chinesischen Alltagsleben in 
den Staedten zu machen. So weit ich das beurteilen kann, verlaeuft es 
in ziemlich engen Bahnen. Von "sozialistischer Alternative" ist wenig 
bis nix zu bemerken.
Selbstredend gilt es vorerst einmal den enormen Nachholbedarf der 
chinesischen Gesellschaft zu bedenken. China wurde im 19.Jahrhundert 
zu einem begehrten Objekt diverser Kolonialmaechte -- anders als in 
Japan gab es keine "Reform von oben". Die Kaiserinwitwe etwa 
verwendete den Etat, der fuer die Modernisierung der chinesischen 
Marine bestimmt war, dafuer, sich den "Sommerpalast" in Beijing 
luxurioes umzugestalten...
Die "nationale" Bourgeosie zeigte sich unfaehig und nicht willens, das 
Land aus den Klauen des Imperialismus und einer Unzahl von "warlords" 
zu befreien. Erst die "rote" Revolution -- siegreich 1949 und von 
Stalin nicht gewollt -- schuf die Basis fuer eine Entwicklung des 
Landes nach vorne.
Voluntaristische "Experimente" der maoistischen Fuehrung ("Grosser 
Sprung nach vorne", Kulturrevolution) setzten einer ausgegeglichenen 
Entwicklung jedoch maechtig zu. Die "Reform"politik in den letzten 
beiden Jahrzehnten fuehrte zwar zu einer sichtbaren oekonomischen 
Besserung -- aber mit enormen Schlagseiten. Die chinesische 
Gesellschaft ist daher vor allem mit (Nachhol)konsum beschaeftigt. Und 
die Buerokratie in Partei und Staat foerdert diesen fuer sie 
ungefaehrlichen Trend. "Brot und Spiele" ist sicher die erste 
Assoziation, die sich einstellt. Selbst der am 8.November beginnende 
Parteitag spielt -- zumindest bislang -- im oeffentlichen Leben keine 
besondere Rolle.
Nirgends sah ich bislang in Staedten Diskussionsrunden. Alte Maenner 
spielen auf der Strasse Karten, die Kaufhaeuser sind bummvoll, die 
Jugend benimmt sich genauso wie bei uns: Permanentes Hantieren mit dem 
Handy, "Stoepsel" in den Ohren etc. In dem Haus, in dem sich in 
Qingdao mein Hotel befindet, gibt es auch einen grossen Internetladen: 
fast den ganzen Tag voll mit Youngsters, die sich ein Game nach dem 
anderen hineinziehen...
Spricht man mit ChinesInnen, bekommt man auch einen tieferen Enblick 
in ihre oekonomische Lage. Ich unterhalte mich etwa mit einer 
teilzeitarbeitenden Medizin-Studentin in einem "Pizza Hut"-Laden. 
Waehrend ihre VollzeitkollegInnen monatlich rund 3000 Yuan verdienen, 
ist ihr Stundenlohn heisse 9,6 Yuan -- also rund 1,2 Euro.
28.10.2012
Am 8.November beginnt hier in China der Parteitag der KP. Bis zum 
heutigen Tag spielt er im sichtbaren oeffentlichen Leben und in der 
veroeffentlichten Meinung nur begrenzt die zentrale Rolle, die ihm 
eigentlich zukommt.
Parteitage finden in China nur alle 5 Jahre statt. Sie haben vor allem 
akklamativen Charakter, die politischen Schluessel- und 
Personalentscheidungen wurden schon vorher "im engsten Kreis" 
getroffen. Innerparteiliche Demokratie ist de facto ein Fremdwort. Ich 
frage den Parteisekretaer einer Uni, wie denn nun der Parteitag vor 
Ort vorbereitet werde. Freimuetig bekennt er, dass "unten", also in 
den Parteizellen, nix laeuft: Keine Debatte ueber den 
Rechenschaftsbericht, keine Diskussion ueber einen Text zur Zukunft 
des Landes. "Unsere Provinzdelegierten werden uns ueber die Ergebnisse 
des Parteitags informieren".
Natuerlich wird die Bevoelkerung auf den Parteitag entsprechend 
"eingestimmt". Die zentralen Nachrichten bringen etwa einen Bericht 
ueber den Besuch der Parteispitze in einer Ausstellung und aus der Art 
der Praesentation kann/man frau herauslesen, wie die innerparteiliche 
Machtkonstellation aussieht und wer die kuenftigen Fuehrer in Partei 
und Staat sein werden. Dass es weiter in Richtung noch mehr 
Kapital-Einfluss gehen soll, ist eine ausgemachte Sache. Fast taeglich 
gibt es im TV eine Serie ueber die juengere Parteigeschichte. Ihr 
eigentlicher "Held" ist nicht Mao sondern insbesonders Chou Enlai, der 
dem "grossen Reformer" Deng Hsiao Ping den Weg ebnet...
Auch Yu Bin, Direktor fuer makrooekonomische Forschung im 
Entwicklungsforschungs-Zentrum des Staatsrats wird aufgeboten, um den 
Rechts-Kurs zu propagieren: "Der Schluessel der kuenftigen Reform ist 
die Ermutigung zum freien Wettbewerbs, einschliesslich mehr flexibler 
Preise und mehr aktives Investieren von privatem Kapital, damit die 
Wirtschaft als Ganze effizienter werden kann."
Klar, dass angesichts solcher mehr als bedenklichen Entwicklungen bei 
der -- sehr kleinen -- chinesischen Linken die Alarmglocken laeuten. 
Der Leiter der "Abteilung Marxismus" in der chinesischen Akademie der 
Sozialwissenschaften (CASS) Prof. Cheng Enfu hat einen materialreichen 
Artikel veroeffentlicht, der die unterschiedlichen, aktuellen 
ideologischen Stroemungen konkret beim Namen nennt und mit den 
Neoliberalen hart ins Gericht geht.
Noch schaerfer formulierte es ein Professor einer der Unis, auf denen 
ich referierte: "Wenn wir die Probleme der chinesischen 
"Uebergangsgesellschaft" ausreichend verstehen wollen, brauchen wir 
Analysen, wie die von Ernest Mandel, dem Autor des ,Spaetkapitalismus' 
und ,Ueber die Buerokratie'. Generell laesst sich sagen, dass die 
Methoden des revolutionaeren Marxismus eines Leo Trotzki fuer uns 
immer wichtiger werden".
29.10.2012
Der chinesisch-japanische Insel-Konflikt ist von grosser Bedeutung. Er 
hat sowohl eine historische als auch eine aktuelle politische 
Dimension. Beide sind nicht deckungsgleich.
Um den Streit um die Diaoyu-Inseln hinreichend zu analysieren sind 
zumindest 3 Ebenen zu unterscheiden:
- Historisch gehoerten die 5 unbewohnten Inseln die laengste Zeit zu 
China. Im Gefolge des chinesisch-japanischen Kriegs Ende des 19. 
Jahrhunderts kamen sie zu Japan, nach dem Ersten Weltkrieg wieder zu 
China. Im Zuge der japanischen Aggression in den 30er-Jahren wurden 
sie erneut von Japan annektiert...
- Die unbewohnten Inseln interessierten bis vor kurzem kaum jemanden, 
der Konflikt entzuendete sich mit den "Kauf"absichten des weit rechts 
stehenden (Ex-)Gouverneurs von Tokio Shintaro Ishihara -- ein 
beruechtigter Politiker, der eine grosse rechtsextreme Partei z.T. mit 
offenen Faschisten ("Sonnenroete-Partei") zimmern will.
- Zusaetzlich goss der japanische Oppositionsfuehrer mit einem 
demonstrativen und provokativen Besuch des Schreins, in dem fuehrende 
Kriegsverbrecher begraben sind, Oel ins Feuer. Bei dem Besuch grinste 
er unverschaemt in die Kameras. Er leugnet -- wie viele 
Rechtspolitiker in Japan -- die Kriegsverbrechen. In der 
beeindruckenden Gedenkstaette in Nanjing konnte ich mich an Hand der 
Dokumente von den facts ueberzeugen: 300.000 Menschen fielen 1937 
innerhalb weniger Wochen den Schlaechtern der wuetenden japanischen 
Soldateska zum Opfer -- 20.000 Frauen wurden vergewaltigt!
Die japanischen Revanchisten leugnen nicht nur die Kriegsverbrechen, 
ihnen ist auch der Artikel 9 der Nachkriegs-Verfassung ein Dorn im 
Auge, der Japan "Kriege verbietet".
China reagierte zu recht empoert auf diese Entwicklungen. Sie sind 
auch vor dem Hintergrund der "neuen Strategie" des US-Imperialismus zu 
sehen, den "chinesischen Einfluss im pazifischen Raum 
zurueckzudraengen" (die gegenwaertigen Manoever der USA mit Sued-Korea 
und Japan sind in diesen Kontext eingebettet).
Soweit sind die Dinge, was China betrifft, verstaendlich. Bedenklich 
ist allerdings die "Funktionalisierung" des Konflikts. Es entsteht 
eine "Amalgam"-Situation. Natuerlich muss -- auch international --  
darauf gedraengt werden, dass Japan seine historische Schuld 
einbekennt. Aber die Kriegsverbrechen der Japaner und der aktuelle 
Konflikt sind prinzipell zwei verschiedene Paar Schuhe: Wem auch immer 
die Inseln in der Vergangenheit gehoerten -- heute geht es schlicht um 
den Fischreichtum der Gegend und die Bodenschaetze, die unter den 
Inseln vermutet werden. DIESEN Konflikt gilt es friedlich, auf dem 
diplomatischen Verhandlungsweg zwischen China und Japan zu loesen.
Der "Volkszorn", der in China bei Protesten in 85 Staedten zum 
Ausbruck gebracht wurde, war nicht spontan, er hatte ueberwiegend 
vorbereiteten Charakter.
Und es liegt auf der Hand, dass der Konflikt von der Fuehrung in 
Partei und Staat weidlich dazu benutzt wird, um ueber andere relevante 
Themen weniger zu berichten -- statt auf die soziale wird auf die 
"nationale" Karte gesetzt.
(Fortsetzung folgt wahrscheinlich)
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